Eine Begegnung auf dem Gipfel

"Sieht aus, als ob du in Schwierigkeiten bist. Kann ich dir helfen?" Der alte Mann stand am Rande der Klippe, auf seinen hölzernen Wanderstock gestützt und sah amüsiert auf Joshua hinab. Seine weissen Haare und der kurze Vollbart bewegten sich leicht in dem Wind, der über den Gipfel blies. Wie war der Alte bloss dort hinaufgelangt? Joshua hing erschöpft von einem Felsvorsprung, keine zwei Meter unter dem erlösenden Rand. Eine ganze Stunde war er geklettert, um hierher zu gelangen und nun brannten seine grossen Muskeln wie Feuer und der Schweiss floss in Strömen. Mit verzerrtem Gesicht schüttelte er den Kopf und zog sich einige Millimeter weiter hinauf. Er spürte den Wind nun auch, der sanft an ihn zerrte und ihn einlud, einfach losszulassen und sich in den Abgrund fallen zu lassen. Doch Joshua gab nicht auf. Er hatte den Weltmeistertitel im Klettern nicht gewonnen, indem er aufgab. 

Der Alte hatte sich hingesetzt und liess seine Füsse über den Abgrund baumeln, wie ein kleiner Junge. Lächelnd hielt er sein Gesicht in den Wind. "Wunderschön hier oben nicht? Bist du das erste Mal hier?" Joshua hätte beinahe den Halt verloren, als er ihn ungläubig ansah. Er gab bloss ein Grunzen zur Antwort und grub seine kräftigen Finger in eine kleine Kerbe über seinem Kopf. "Wie auch immer", grunzte er als Antwort, doch der Alte gab nicht nach. "Du bist doch dieser berühmte Sportler oder? Ich hab dich im Fernsehen gesehen, als ich das letzte Mal im Dorf unten war." Joshua war überrascht, dass es in der winzigen Ansammlung von Hütten am Fusse der Klippe überhaupt einen Fernseher gab. Der Mann tippte mit der Spitze seines Stockes gegen die Felswand, als Joshua sich suchend nach seinem nächsten Halt umsah.  "Die Linke hier, mein Freund." Tatsächlich gab es dort, wo sein Stock hinzeigte eine perfekte Kerbe für Joshuas grosse Hand. Joshua griff aber nach einer kleinen Felsnase, weit links von ihm und wäre beinahe gestürzt, als das brüchige Gestein unter seiner Hand nachgab. In letzter Sekunde griff er nach dem Stock des Alten und befürchtete für eine Sekunde, er würde den Mann mit in den Tod reissen. Doch der Alte hielt sich ohne Mühe auf der Kante und zog Joshua mit überraschender Kraft zurück an die Felswand. Seine Linke fand Halt in der Kerbe, die ihm der Alte gezeigt hatte. "Natürlich bist du dieser Sportler", redete er weiter, als sei nichts geschehen, "du hast doch einen dieser Titel geholt! Ja doch in so einer grossen Halle, wo die Matten am Boden liegen." In seiner Stimme lag kein Spott, und auch sein Blick war aufrichtig und freundlich. Joshua ignorierte ihn immer noch und konzentrierte sich das letzte Stück zu bewältigen. 

Erschöpft hievte er sich über die Kante und blieb schweratmend im Gras liegen. Der Alte blickte versonnen in die Ferne und wartete, bis der junge Kletterer wieder zu Atem gekommen war. "Trainierst du hier für einen neuen Wettbewerb, oder bist du einfach so lebensmüde?" Eine seltsame Härte lag plötzlich in der Stimme des Mannes und sein freundliches Lächeln erreichte seine Augen nicht, als er Joshua von oben herab betrachtete. Joshua stützte sich aufgebracht auf die Ellbogen. "Wie bitte?"  Sein Gegenüber sah ihn nur lange schweigend an. Als er sich wieder der Aussicht zuwandte, war das Lächeln von seinem Gesicht verschwunden. "Wunderschön nicht wahr", mit einer grossen Geste deutete er auf die Landschaft, die sich unter ihnen bis zum Horizont erstreckte. Joshua schenkte den weissen Gipfeln, azurblauen Seen und sattgrünen Wiesen keinerlei Beachtung, sein Blick blieb auf den Alten geheftet. "Wie bist du hier hinauf gekommen? Es gibt keinen Weg der auf diesen Gipfel führt, sogar ich muss mit dem Hubschrauber abgeholt werden." Um seine Worte zu unterstreichen deutete er auf das kleine Funkgerät, das er sich umgeschnallt hatte. "Ich lebe hier oben", antwortete der Mann, ohne Joshua anzusehen. Eine Traurigkeit schwang in diesen Worten mit, die sogar Joshuas Herz berührten. "Komm setzt dich auf Junge, geniess die Aussicht und den Wind in deinen Haaren." Er klopfte auffordernd neben sich auf das Gras und Joshua zwang sich trotz seiner schmerzenden Muskeln in eine sitzende Position. Sein Blick schweifte über den Horizont und für einen Moment fehlten ihm die Worte, so atemberaubend war der Anblick. Die Sonne senkte sich bereits tief über den Horizont und ihr Licht wurde glitzernd von den Seen und Flüssen gespiegelt. Ein Energieschub druchfuhr Joshuas Körper als der Wind durch seine Haare und Kleider fegte und er hätte am liebsten vor Freude gejauchzt. "Es ist Atemberaubend." 

Einige Minuten sassen sie nur da und genossen die Aussicht. Der Mann erhob sich und legte Joshua väterlich eine Hand auf die Schulter. "Sieh zu, dass dies nicht das Letzte ist, das du in deinem jungen Leben sehen wirst, mein Sohn. Mach es besser als ich es tat." Ohne eine Erklärung trat er aus Joshuas Sichtfeld und als sich dieser Umwandte, war der alte Mann bereits verschwunden. Verwirrt rieb sich Joshua die Augen und blieb noch eine ganze Weile sitzen, um über die Worte nachzudenken. Kurz bevor die Sonne unterging, liess er sich von seinen Leuten abholen und in das kleine Dorf bringen. Doch als er die Leute nach dem alten Mann fragte, beteuerten sie alle, dass Niemand auf dem Gipfel lebte. Niemand habe bisher den Aufstieg geschafft und überlebt, um davon zu berichten. Der Letzte, der es versucht hatte sei schon seit sechzig Jahren verschollen. Als sich Joshua danach an den Fusse der Klippe begab, bemerkte er ein kleines Denkmal keine fünf Meter von dort, wo er gestartet hatte. "In Gedenken an", dort wo der Name stehen sollte, befand sich eine Lücke, "verschollen 1956."

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