Ein Neubeginn?
So, hier wie versprochen mein eher unerwarteter Einstieg ins Harry-Potter-Universum. In diesem OneShot habe ich es mir zugegeben auch recht einfach gemacht. Man kann erahnen, was geschehen wird. Daher eine kleiner Disclaimer:
Die Charaktere so wie die Dialoge sind alles geistiges Eigentum von J.K.Rowling. Ich habe mir lediglich die Freiheit genommen, die Szene aus einer anderen Perspektive zu schildern.
Das betone ich jetzt nur einmal zur Sicherheit, da ich mich schon sehr eng an die Beschreibungen des Buches gehalten habe. Es ist hoffentlich trotzdem genug Eigenleistung vorhanden. Und als »Einstiegstext« war das auch am einfachsten.
Der zweite Punkt vorab ist, dass ich diesen Text auch für »New Year, New You« einreiche.
Die Idee für das hier kam mir zwar unabhängig, aber irgendwie passte das mit dem Neubeginn doch etwas, also habe ich den Text ein wenig in die Richtung geschoben. Ganz sicher, ob das gilt, weiß ich aber auch nicht wirklich. Ich habe mich für Prompt 4 entschieden:
Also nicht wundern, wenn es fettgedruckte Wörter gibt :-)
Weiter möchte ich auch gar nicht mehr vom Lesen abhalten. Und ich bin offen für Kritik aller Art.
***
Schwerfällig ließ sich Remus Lupin in einen der Sitze des Hogwarts Expresses fallen. Bisher war das Abteil noch leer, auch wenn er sich keine Illusionen machte, dass dies so bleiben würde. Zwar war er hier im allerletzten Abteil erstmal ungestört, doch der Zug war mit Zaubern ausgestattet, die genau für jeden Schüler einen Sitzplatz bereit hielten. Also müsste jedes Abteil gefüllt werden. So zumindest die Theorie.
Tatsächlich hatte Remus auch nicht weiter darüber nachgedacht. Und kennenlernen würden die Schüler ihn so oder so.
Es war eine Überraschung in sich, diesen Zug je wieder betreten zu haben. Ob gut oder – wie er leider befürchten musste – schlecht würde die Zeit zeigen. Dass er nicht ein wenig überrumpelt von Albus Dumbledores Auftauchen in seiner kleinen Cottage gewesen wäre, wäre eine Lüge. Er hatte verschiedene Gründe durchdacht, warum der alte Schulleiter ihn aufsuchte. Doch egal wie lange er sich darüber den Kopf zerbrochen hatte, es wollte ihm kein Grund einfallen. Dumbledore war stets ein guter und gerechter Mann gewesen, den Remus zu schätzen wusste. Aber egal wie wichtig Dumbledore seine Schüler waren, war die Wahrscheinlichkeit eines Besuchs ohne triftigen Grund eher gering.
Es war eine Erleichterung gewesen, dass Dumbledore ihn nicht allzu lange im Dunklen über seine Absichten gelassen hatte. Aber hätte er hiermit gerechnet? Nie im Leben! Er ein Lehrer? Rückblickend war er sich nicht mehr gänzlich sicher, was er gesagt hatte. Er war viel mehr in ein ungläubiges Lachen verfallen. Ihn als Schüler nach Hogwarts zu lassen, war eine andere Sache, als jetzt als Erwachsener. Und erst nach gefühlten Minuten der Ungläubigkeit, in denen er keine Spur von Scherz oder Lüge in Dumbledores Mimik fand, erkannte Remus, dass es Dumbledores bitterernst damit war. Remus wusste natürlich auch, dass die Position des Professors für Verteidigung gegen die dunklen Künste bereits während seiner eigenen Schulzeit wechselhaft gewesen war. Jedes Jahr einen neuen Professor zu finden, zwang Dumbledore scheinbar tatsächlich dazu, ihn anzustellen.
Und selbst jetzt, nach seiner Zusage, der neue Professor für Verteidigung gegen die dunklen Künste zu werden, war er sich nicht sicher. Unter anderen Umständen hätte er zum Wohle aller abgelehnt. Doch jetzt … Er war bitterarm, fand so gut wie keinen Job, geschweige denn einen mit gutem Gehalt. Seine hervorragenden UTZ-Ergebnisse interessierte auch niemanden, sobald herauskam, dass er ein Werwolf war – oder auch nur ein Verdacht von seinem Arbeitgeber gehegt wurde. Er selbst wollte ja niemandem schaden und bisher war ihm das eigentlich fast auch gelungen. Zurück in Hogwarts wäre der Unterschied zu seiner Schulzeit vielleicht nicht drastisch, was die Sicherheitsbedingungen anging, aber als Professor trug er die Verantwortung für die Sicherheit der Schüler. Sicherheit, die er gefährden könnte.
Dumbledore hatte ihm zumindest beweisen können, dass es keine Schnapsidee – wie die Muggel zu pflegen sagten – war. In Hogwarts würde er Zugang zum Wolfsbanntrank erhalten – in seinen sonst bescheidenen Verhältnissen unmöglich. Die Verlockung einzuwilligen war daher schon irgendwie gegeben.
Zufrieden war er trotzdem nicht damit, wie er sich entschieden hatte. Optimismus, Remus!, schalt er sich in Gedanken.
Unaufhörlich spürte er wie, obwohl seine Gedanken unaufhörlich rotierten, er unkonzentrierter wurde. Die Augen fielen ihm wiederholt zu und eine gut bekannte Erschöpfung überkam ihn. Seine Schläfen pochten unaufhörlich. Auch wenn er in den letzten fast drei Jahrzehnte gelernt hatte, mit dem Schmerz umzugehen, änderte das nichts an dessen Intensität. Das Gefühl, dass jeder einzelne Knochen in seinem Körper gewaltsam gebrochen wurde, um daraufhin wieder zusammenzuwachsen, war nie angenehm. Seine Muskeln schmerzten wie nach dem schlimmsten Muskelkater, den ein Mensch haben könnte.
Er war ja bei lieben niemand, der den Mondkalender nicht penibel genau im Blick hatte. Diese Erinnerung musste ihm aber bei seiner Zusage entfleucht sein. Denn es ließ sich anders einfach nicht erklären, wie er eingewilligt hatte, heute am 1. September in den Hogwarts Express zu steigen, wenn er doch wusste, dass nur Stunden zuvor Vollmond war. Es war seinem Willen und einer ungesunden Menge an Stärkungstrank zu verdanken, dass er überhaupt hier sitzen konnte. Aber auf eine solche Erfahrung hätte er gut und gerne verzichten können … Ein Blick in den Spiegel hatte ihm nur überdeutlich gezeigt, wie runtergekommen er aussah. Tiefe Augenringe und eine totenbleiche Hautfarbe zeugten optisch von der letzten Nacht. Sein hellbraunes Haar war bereits durchzogen von grauen Strähnen. Und das mit dreiunddreißig. Sein Umhang war an vielen Stellen geflickt und schäbig und sein Koffer war in keinem besseren Zustand. Er bot keinen allzu beeindruckenden ersten Eindruck, doch es war ihm gleichgültig. Lieber störten sich die Menschen an seinem Aussehen, als an ganz anderen Dingen.
Sein Fokus schwand merklich und schließlich gab er den erbärmlichen Versuch auf, wach zu bleiben. Bis zum Begrüßungsfestmahl wollte er wenigstens etwas Ruhe bekommen. Es war nahezu rekordverdächtig, wie schnell der Schlaf ihn übermannte.
Obwohl der nächste Vollmond noch in der Zukunft lag, hatte er diese Nacht noch kein Auge zugetan. Es war diese undefinierbare Unruhe, bevor etwas geschah. Etwas fürchterliches. Unaufhörlich tigerte Remus durch das kleine Zimmer in dem kleinen Gasthaus.
»Das ist normal«, murmelte er mehr zu sich selbst. Der Krieg spitzte sich zu, da war so ein Gefühl vielleicht angebracht. Er selbst erledigte für den Orden gerade etwas im Norden des Landes. Er wusste auch von der Gefahr, in der James und Lily schwebten, doch er vertraute darauf, dass Dumbledore sie beschützen würde. Er empfand leichtes Unbehagen darüber, dass Sirius ihr Geheimniswahrer war. Zwischen ihnen war ein Misstrauen entstanden, das noch zu Schulzeiten undenkbar gewesen wäre. Aber er wusste einfach nicht mehr, wem er trauen konnte. Vor allem sich selbst …
Ein leises Klopfen richtete seine Aufmerksamkeit auf das Fenster. Es war bereits weit nach Mitternacht, die Straßen dementsprechend leer. Ein feiner Nebel hing über dem kleinen Ort in Schottland. Eine Eule saß wartend auf der Fensterbank. Irritiert zog Remus die Augenbrauen hoch. Wer schickte ihm um eine solche Zeit noch eine Eule? Er öffnete das Fenster. Ein Schwall kalter Luft empfing ihn. Er nahm der Eule den Brief ab und gab ihr ein paar Knut, konnte den Blick aber nicht vom Siegel wenden. Dumbledore. Das Gefühl der Unruhe verstärkte sich merklich, während er das Pergament unter seinen zittrigen Fingern entfaltete. Seine Augen flogen eilig über die kurze Nachricht.
Es stand zwar mehr drin, doch alles was Remus wahrnahm waren die Worte ‘James und Lily sind tot’. Nicht die Nachricht über Voldemorts Verschwinden, nicht Dumbledores Beileidsbekundungen. Nur dieser Satz. Das Pergament rasselte unbeachtet zu Boden. Remus war wie paralysiert. Das durfte nicht wahr sein! Nein! Nein! Nein! Das musste ein schlechter Scherz sein! Dumbledore musste sich irren! Nein! Er wollte es einfach nicht glauben. Und doch sackten seine Beine unter ihm zusammen, Tränen schimmerten in seinen Augen, ein Schluchzer entwich seiner Kehle. Seine Gedanken drehten sich nur darum, wollten ihm aber keine zufriedenstellende Lösung geben. Wie konnte das passieren?! Eine schreckliche Kälte überkam ihn, griff nach seinem Herzen. Er zitterte am ganzen Körper, unfähig klar zu denken. Es wurde kälter und kälter.
Ruckartig öffnete er die Augen, nur um von Dunkelheit begrüßt zu werden. Zumindest fast. Durch das Fenster schien der verhasste Mond hinein und ließ Remus die Silhouetten von anderen Menschen gerade so erahnen. Um ihre Anwesenheit zu erkennen, reichte ihr Gequatsche.
Zwei laute Aufschreie hatten ihn zusammen mit der Kälte geweckt. Er war aber tatsächlich gerade froh, denn ein erholsamer Schlaf sah für ihn anders aus. Nur mit einem Ohr hörte er den Worten der Schüler zu, seine Aufmerksamkeit zog etwas anderes auf sich.
»Wer ist das?« Eine Mädchenstimme.
»Wer ist das?«, fragte ein weiteres Mädchen, fast gleichzeitig.
»Ginny?«
»Hermine?«
»Was tust du hier?«
»Ich suche Ron.«
»Komm rein und setzt dich hin.«
»Nicht hier!« Eine weitere Stimme mischte sich ein. Dieses Mal eine Jungenstimme.
»Autsch!« Eine weitere unbekannte Jungenstimme.
Unter anderen Umständen hätte er versucht, sich einen besseren Überblick über die Situation zu beschaffen, doch gerade jetzt zählte nur das, was sich ihnen unbarmherzig näherte. Ein Dementor. Er brauchte ihn nicht zu sehen, um seine Anwesenheit an der Kälte zu spüren.
»Ruhe!«, befahl er mit heiserer, aber autoritärer Stimme.
Die Schüler taten wie ihnen geheißen und nachdem er den kurzen Moment genutzt hatte, um sich zu sammeln, beschwor er Flammen in seiner Hand. Die Lichtquelle enthüllte die fünf Schüler und eine Sekunde länger als geplant verharrten Remus Augen auf einem der Jungen. Er sah aus wie James. Oder? Vielleicht spielten seine Augen ihm auch nur einen Streich. Er wusste es nicht. Dieser Traum hatte Erinnerungen hochgeholt, die er lieber vergessen hätte.
»Bleibt, wo ihr seid«, meinte Remus zu den Jugendlichen.
Das Letzte, was er brauchte, war mutmaßliche »Helden«, die nicht wussten, was sie taten.
Die Hand vor sich ausgestreckt erhob er sich schließlich langsam aus seinem Sitz, die verspannten Muskeln ignorierend.
Doch noch ehe er die Tür des Abteils erreicht hatte, spürte er, dass es zu spät war. Die Luft wurde sekündlich kälter, seine Finger steif und sein Atem stieg in einer weißen Wolke auf. Und dann sah er ihn. Den Dementor. Ein hoch aufragendes Wesen, das jeden Albtraum wie eine Geburtstagsfeier erscheinen ließ. In schwarze, zerrissenen Roben schwebte die vermummte Gestalt im geöffneten Eingang. Eine leichengleiche, schleimige Hand schaute unter dem Mantel hervor. Auch wenn es nicht seine erste Begegnung mit einem Dementor war, verdrehte sich bei diesem Anblick sein Magen. Der rasselnde Atem ging Remus durch Mark und Bein.
»Remus!« Der panische Schrei seines Vaters. Das grässliche, haarige Wesen war über ihm gebeugt. Ein manisches Grinsen verzog die Wolfsschnauze, an der noch Blut klebte. Sein Blut.
Das Bild veränderte sich. Ein Mädchen lag da. Um sie herum eine große Blutlache, ihr zarter Körper mit unzähligen Schnitten verunstaltet. Die aufgerissenen Augen waren starr und leblos. Und da stand Remus. Ihr Blut an seinen Händen.
Es dauerte einige Sekunden, bis Remus sich von diesen Erinnerungen losreißen konnte. Es kostete ihn immense Willenskraft, dem Dementor zu widerstehen. Dem Rest der Anwesenden erging es nicht besser. Der eine Junge war vom Sitz gerutscht und zuckte nun unkontrolliert, während der Dementor sich scheinbar gänzlich auf ihn fokussierte. Nein, er irrte sich nicht. Das war James Gesicht. Der Junge war seinem ehemaligen besten Freund wie aus dem Gesicht geschnitten. Hätte er noch einen Zweifel an der Identität des Schülers gebraucht, reichte die blitzförmige Narbe gänzlich aus. Harry Potter … Dessen Vater Remus hatte nicht retten können. Weitere Sekunden vergingen, die ebenso Stunden gewesen sein könnten, ehe Remus jegliche Starre, in die er verfallen war, überwand. Bestimmt trat er über Harry hinweg und schirmte seinen hilflosen Körper damit von dem Dementor ab.
Remus’ Zauberstab fand schnell seinen Weg in seine Hand. Er wusste, dass seine Worte nur wenig bringen würden und doch sprach er sie aus:
»Keiner von uns hier versteckt Sirius Black unter seinem Umhang. Geht!«
Wenig überraschend bewirkten seine Worte nichts, der Dementor rührte sich nicht, nur sein Umhang wehte geisterhaft in der kalten Luft.
»Expecto Patronum!«
Ein silbernes Licht schoss aus seinem Zauberstab heraus, gerade auf den Dementor zu. Einige Sekunden bangte er, ob sein unkörperlicher Patronus ausreichen würde. Erleichtert atmete er aus, als der Dementor verscheucht davon glitt.
Das Licht ging an, die Insassen des Zuges konnten sich jedoch kaum darüber freuen, als sich der Hogwarts Express ratternd wieder in Bewegung setzte. Die Augen der Drittklässler – so sahen sie zumindest aus – waren glasig und ein rothaariges Mädchen hatte sich zitternd in die Ecke gekauert. Ein etwas dicklicher Junge mit einem runden, freundlichen Gesicht sah keinen Deut besser aus.
Es war ein brünettes Mädchen, mit buschigen Haaren, die als erstes aufstand und dabei dem noch immer bewusstlosen Harry einen sorgenvollen Blick zuwarf, ehe sie sich runter beugte.
»Harry! Harry! Alles in Ordnung?« Ihre Stimme klang belegt und ihr Gesicht verzog sich noch mehr, als Harry nicht reagierte. Es folgte eine zögerhafte Ohrfeige, die ihr Ziel zumindest nicht verfehlte.
»W-was?« Verwirrt und mit einem undefinierbaren Grauen in den Augen öffnete Harry seine grünen Augen. Lilys Augen. Er richtete sich langsam auf und schob seine runde Brille zurecht – eine ähnliche hatte James gehabt.
Es war verwirrend, Harry jetzt gerade hier zu sehen. Nicht mehr der kleine Junge, sondern der dreizehnjährige angehende Zauberer. Remus sah so viel von Harrys Eltern in ihm, was seine Schuld nicht linderte. Er wusste, dass es auf die Dementoren zurückzuführen war, dass er sich belegt fühlte.
»Geht’s wieder?«, fragte ein rothaariger Junge, ebenso bleich wie der Rest mit nervöser Stimme. Er könnte wetten, dass es sich um einen Weasley handelte.
Er und die Brünette hatten Harry geholfen, sich wieder auf seinen Platz zu setzen.
»Ja.« Harrys Blick huschte nervös zur Tür, an der kein Dementor mehr stand. Die Erleichterung war ihm anzusehen. »Was ist passiert? Wo ist dieses – dieses Wesen? Wer hat geschrien?«
Remus wollte sich nicht vorstellen, was der Junge gehört haben musste. Er war doch zu jung gewesen, um sich jetzt noch an James’ und Lilys Schreie zu erinnern, oder? Aber ohne Zweifel hatte Harry in seinem jungen Leben zu viel gesehen. Sonst wäre seine Reaktion auf die Dementoren nicht so extrem gewesen. Remus griff nach der Tafel Schokolade, die er geistesgegenwärtig vor der Abfahrt in seine Manteltasche gesteckt hatte. Jetzt zahlte sie sich aus.
»Kein Mensch hat geschrien«, meinte der Rotschopf noch ängstlicher als zuvor.
»Aber ich habe Schreie gehört«, beharrte Harry weiterhin.
Mit einem lauten Knacken brach Remus die Schokolade, was ihm die Aufmerksamkeit aller fünf Anwesenden schenkte, die erschrocken zusammenzuckten.
»Hier«, sagte Remus, während er Harry ein großes Stück Schokolade reichte. »Iss. Dann geht’s dir besser.«
»Was war das für ein Wesen?«, fragte Harry, ohne etwas von der Schokolade zu essen. Remus konnte es ihm nicht verübeln, ob er nun glaubte, dass sie vergiftet wäre oder schlicht mit seinen Gedanken noch beim Dementor war, es wäre nur nachvollziehbar.
»Ein Dementor«, meinte Remus kurz und knapp, um eine nüchterne Stimme bemüht. Er verteilte die Schokolade noch an die anderen Schüler, konnte die Beklommenheit aber nicht abschütteln. Etwas zu eilig in seinen eigenen Ohren sprach er weiter. »Einer der Dementoren von Askaban.«
Fünf Augenpaare starrten ihn in einer Mischung aus Überraschung, Entsetzen und Verwirrung an. Er ignorierte sie. Die Zeit der Erklärungen würde kommen. Er knüllte die nun leere Verpackung der Schokolade zusammen. Um nicht auf die Dementoren eingehen zu müssen, wiederholte er seine Aufforderung an Harry. »Iss. Das hilft. Entschuldigt mich, ich muss mit dem Zugführer sprechen – «
Äußerlich ruhig, im Inneren aber tobend, verließ er das Abteil. Das Adrenalin und die Aufregung waren abgeschwellt und ließen nur zu, dass seine Gedanken noch wilder umherschwirrten. Sein Traum – der eher eine Erinnerung gewesen war –, der Dementor, weitere Erinnerungen und seine Begegnung mit Harry. Sirius.
Seit zwölf Jahren lebte er mit der Erinnerung an den 31. Oktober 1981. Jene eine Nacht. Er war nicht einmal da gewesen, hatte die Verwüstung nicht gesehen, hatte die Leichen seines besten Freundes und dessen Ehefrau nicht gesehen. Und doch, obwohl ihn technisch keine Schuld traf, fühlte er sich schuldig. James war so ein freundlicher, lebensfroher Mann gewesen, der aber auch eine Angewohnheit zum stiften von Unruhe gehabt hatte. Ein melancholisches Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Und Lily war so warmherzig und großzügig gewesen. Sie hatten es nicht verdient so früh zu sterben. Ein Blick in Harrys Augen und er sah James und Lily vor sich. Er konnte nicht anders, als sich für Harry verantwortlich zu fühlen.
Der Grund für die Anwesenheit der Dementoren war so simpel, brachte ihn aber fast mehr aus der Fassung. Sirius. Natürlich wusste er, dass sein ehemaliger bester Freund das Undenkbare geschafft hatte: Aus Askaban auszubrechen. Es war schließlich in allen Nachrichten gewesen. Aber die Dementoren hatten gerade dafür gesorgt, dass er es nicht länger verdrängen konnten. Er wusste nicht, was er fühlen sollte.
Es war ein harter Schlag für ihn gewesen, als noch ehe er Sirius nach James’ Tod sehen konnte, dieser verhaftet wurde und Peter für tot erklärt wurde. Es gab Beweise für Sirius’ Taten … für seinen Verrat an den Potters. Er war ihr Geheimniswahrer gewesen. Und so bitter dieser Verrat auch war, gab es diesen Teil in ihm, der bis zum heutigen Tag glaubte, dass Sirius unschuldig war. Es passte einfach nicht zusammen. Nichts davon. Sirius war vieles – und ja, sie hatten ihre Differenzen gehabt – aber kein Mörder und erst Recht würde er nicht den Mann verraten, der ihm am wichtigsten war. Aber vielleicht hatte er nie Sirius’ wahres Ich gesehen. Hatte er sich so sehr in ihm getäuscht? War es sein Fehler gewesen, Sirius zu vertrauen?
Und das Gerücht, er wäre hinter Harry her, schien ihm doch auch sehr weit hergeholt. Doch was wusste er schon von Sirius? Und nach zwölf Jahren Askaban war wahrscheinlich wenig von dem jungen Mann noch da, den er gekannt hatte. Die Zweifel nagten dennoch an ihm.
Und an die Erinnerungen, die der Dementor in ihm hochgeholt hatte, wollte er erst recht nicht denken. Er richtete seinen Fokus auf das Hier und Jetzt.
Nach der kurzen Auskunft des Schaffners kehrte Remus in das Abteil zurück. Harry hatte die Schokolade noch immer nicht angerührt. Sie würde ihm wirklich gut tun.
»Ich hab die Schokolade nicht vergiftet, glaub mir …«, meinte er mit einem Lächeln auf den Lippen. Warum sollte er schon unschuldige Schüler mit Schokolade vergiften?
Zufrieden stellte er fest, dass Harry endlich abbiss und die Wirkung der Schokolade war ihm förmlich anzusehen.
»In zehn Minuten sind wir in Hogwarts«, informierte Remus die Schüler, was für kollektive Erleichterung sorgte. Das war wahrscheinlich die schlimmste Zugfahrt, die jeder von ihnen bisher erlebt hatte und noch erleben würde. »Wie geht’s dir, Harry?«
»Gut«, nuschelte Harry und ganz wollte Remus diese Antwort nicht glauben. Das kurze verwirrte Runzeln entging ihm nicht, als er Harry beim Namen nannte. Immerhin hätte er ihn theoretisch nicht wissen können. Es erleichterte ihn, dass Harry darauf verzichtete, nachzuhaken.
Die letzten zehn Minuten vergingen daraufhin still. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Es kam Remus sicherlich zu Gute, doch das Verlangen mehr als ein paar Worte mit Harry zu wechseln war natürlich da. Zu sehr schien er wie James zu sein. Aber gerade jetzt würde es Harry nur noch mehr verwirren. Am Ende hatte Remus seine Pflicht als Lehrer zu erfüllen. Und ihm stand auch nicht der Sinn danach, die Vergangenheit wieder aufzurollen.
Er hatte so sehr gehofft, dass dieses Jahr als Professor ein Neubeginn sein würde. Ein neues Leben, wenn er so wollte. Egal, wie kurz es sein würde. Doch bereits am ersten Tag, holte die Vergangenheit ihn mit mehr Wucht ein, als er gedacht hätte.
Als der altmodische Zug quitschend zu einem Stopp kam, murmelte er gedanklich vor sich hin: Ein Neubeginn. Das soll das hier werden.
3058 Wörter
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