Tag 1 - 4. Geburtstag
Es war eine ruhige Nacht. Das Mondlicht erhellte die Kulisse gerade genug, um Konturen, Umrisse sichtbar zu machen; das kleineDorf erstreckte sich in einer Auswahl geheimnisvoller Schwarz- und Blautöne vor dem geduckten Fachwerk, in dem ein kleines Mädchen in unruhigem Schlaf dalag. Ein Runzeln legte seine Stirn in Falten und die blonden Locken umrahmten verwuschelt sein rundes Kindergesicht.Vor seinem vorhanglosen Fenster, durch das das fahle Licht des Mondesin das seltsam leere Zimmer fiel, hing das gelb leuchtendeZifferblatt einer Kirchturmuhr wie ein zweiter Mond. Das Mädchen zuckte im Schlaf zusammen, als ganz in der Nähe krächzend eine Krähe vorbeiflog. Mit einem leisen Ticken, im Zimmer unhörbar, bewegte der Zeiger der Turmuhr sich auf die 12. Sie begann, zu schlagen, ein voller, tiefer Ton. Einmal, zweimal, ... zwölfmal.
Plötzlich regte sich etwas in dem Kinderzimmer. Eine Gestalt zeichnete sich vor der Fensteröffnung ab, es schien ein Mann zu sein. Er machte ein paar Schritte vorwärts, stieß mit der Hand gegen etwas - und ein lautes Krachen ertönte, gefolgt von einemleisen Fluchen. Das Mädchen schreckte hoch und riss die Augen auf, zu verängstigt, um sich zu bewegen. Hatte es wirklich ein Geräusch gehört, oder war es nur ein Traum? Nur mit den Augen suchte es das kleine Zimmer nach etwas Ungewöhnlichem ab, nach etwas, was dasGeräusch hätte verursachen können. Von ihrem Bett aus sah sie auf einen alten, massiven Eichenschrank, dann weiter auf das holzgerahmte Fenster, durch das sie undeutlich auch die Lichter der kleinen Stadt erkennen konnte, daneben ein Schreibtisch, auf und unter dem sich Umzugskartons stapelten, daneben ein Scherbenhaufen auf dem Boden. Von etwas anderem keine Spur. Das Mädchen stieß erleichtert den zuvor angehaltenen Atem aus. Ihrealte Nachttischlampe musste heruntergefallen sein. Sie tastete einige Sekunden lang links neben sich nach dem Lichtschalter, bis ihr wieder einfiel, dass sie sich nicht mehr in ihrer alten Wohnung in Dresden befand. Einen Moment lang musste sie überlegen, dann lehnte sie sich zurück und streckte ihre Hand nach oben, um an der kleinen Kordel zuziehen, die dort hing. Flackernd leuchtete die Glühbirne, dieeingefasst in einer blütenförmigen Glaslampe war, über ihremkleinen Kopf auf und erhellte das Zimmer. Die Wände waren frischweiß verputzt, noch ein wenig krümelig; dunkle, schwere Holzbalkenzogen sich die hohe Decke entlang. Abermals fiel ihr Blick auf die am Parkettboden liegenden Scherben. Einen Moment zögerte sie - Mama hatte gesagt, sie sollte keine Scherben anfassen -, dann schlug sie entschlossen die pink karierte Decke zurück und setzte ihre kleinen, nackten Füße auf dem Boden auf.
Nur dass es nicht der Boden war.
Erschrocken quiekte sie auf, als sich etwas Kaltes unter ihren Fußsohlen bewegte, und zog sofort wieder die Beine zurück aufs Bett. Langsam, vorsichtig beugte sie ihren Oberkörper vor, um über den Rand ihres Bettes sehen zu können. Sie hielt die Luft an, als sie dort ein weiteres Paar Augen erblickte, das zurück blinzelte. Ausdruckslos starrten die eisblauen Augen zurück, dann sprang der Fremde plötzlich vom Boden auf und blieb vor dem Bett des kleinen Mädchens stehen, das zurückschreckte und seine Decke fest umklammerte.
Verwundert blickte der Mann es an.„Was machst du denn hier?", fragte er und betrachtete es eingehend, indem er seinen Kopf nach links und rechts schief legte. Er wirkte unverhohlen neugierig, mit blitzenden Augen und einem schalkhaften Zucken in den Mundwinkeln.
Der erschrockene Ausdruck wich aus Annies rundem Gesicht und machte einem irritierten Platz. Sie löste ihren Griff um die Decke. „Musst das nicht eigentlich du sagen?", konterte sie mutig.
Der junge Mann konnte nun das Schmunzeln, dass an seinen Lippen zupfte, nicht mehr im Zaum halten. „Ich",verteidigte er sich selbstbewusst, „bin schon lange hier." Erging mit seinem Gesicht ganz nah an das des Mädchens heran, das trotzig seinen Blick erwiderte. „Dich hingegen seh' ich aber zum ersten Mal hier." „Ich bin gerade hier eingezogen", sagte das Mädchen und zog die Augenbrauen in die Höhe. „Ach, so ist das also", murmelte der Fremde zu sich selbst und zog sich zurück, um mit einem Finger über die frisch verputzte Wand zu fahren, von der sich einige Krümel lösten und zu Boden rieselten. „Das erklärt einiges. Entschuldige das mit der Lampe, ich hatte sie hier nicht erwartet." Nun schaute der kleine Blondschopf vollkommen verwirrt drein. „Wer bist du?", verlangte sie zu wissen und verschränkte die Arme vor ihrem kleinen Körper, als wollte sie dadurch bedrohlich wirken.
„Roman", antwortete der Mann prompt und ließ sich neben das Mädchen auf die Matratze fallen,wobei das Lattenrost protestierend quietschte. Mit großen Augen beobachtete sie ihn, bewegte sich jedoch nicht zur Seite. „Und du?"„Annie", sagte das Mädchen und nahm sich seinen Teddybären mit der rosa Schleife am rechten Ohr, Miss Luna, vom Kissen und drückteihn an fest seine Brust. Es schien kurz mit sich zu ringen.
„Du siehst ganz schön zerlumpt aus,weißt du das?", entfuhr es ihm dann unwillkürlich, und sein Gegenüber lachte kurz auf. „Hey, das sind meine bestenKlamotten!", verteidigte er sich. Skeptisch beäugte sie ihn von oben bis unten. Er trug ein altes, weißes Hemd, das einen seltsamen Gelbstich aufwies und dem mehrere Knöpfe fehlten. Es war unordentlich in eine abgewetzte schwarze Anzugshose gesteckt, auf deren rechtem Hosenbein ein klaffendes Loch prangte, sodass Romans gesamtes Knie sichtbar wurde. Seine schwarzen Lederschuhe waren genauso altmodisch wie der Rest seines Aufzugs, dazu waren sie verstaubt und die Sohle löste sich an den Zehen ab.
„Du bist aber arm", stellte Annie trocken fest, worauf Roman wieder lachte. Kurz überlegte das Mädchen. „Weißt du, eigentlich muss ich meine Mama rufen, wenn jemand Fremdes im Haus ist und ich Angst habe", merkte sie an.
Roman schürzte die Lippen und sah sie aus wachen Augen an. „Hast du denn Angst?", hakte er nach. Annie schüttelte verneinend den Kopf. „Irgendwie nicht. Ich glaub', ich muss keine Angst haben", sagte sie und Roman musste unwillkürlich über ihre Naivität lächeln. „Nein, musst du wirklich nicht",versicherte er ihr dennoch, und das Mädchen erwiderte sein Lächeln. Dem braunhaarigen Jungen fiel auf, das ihr ein Schneidezahn fehlte, wodurch sie ein wenig lispelte. „Wie alt bist du denn, Roman?",wollte sie wissen und blickte ihn aus großen blau-grünen Augen an.
„Ich bin 18, und du?" Annie grinste breit. Auf der Turmuhr hatte sie gesehen, dass es schon nach Mitternacht war. Das war, wenn der kleine Zeiger über die Mitte des oberen Zifferblatts gewandert war, erinnerte sie sich. So lange durfte sie eigentlich gar nicht wach sein. Und das bedeutete... „Ich bin schon 4", erklärte sie stolz.„Heute ist mein Geburtstag!" „Na dann, alles Gute zum 4.Geburtstag, Annie", wünschte Roman ihr und bot ihr von der Seite die Hand an, welche sie ergriff und mit sehr ernstem Gesichtsausdruck schüttelte, so kräftig sie konnte. „Na, reiß mir doch nicht gleich den Arm ab", scherzte der Junge und zog seine Hand zurück.„Tut mir leid", entschuldigte sich das Mädchen mit sichtbar schlechtem Gewissen, und er unterdrückte mühsam sein Lächeln. Nur seine Mundwinkel zuckten abermals und verrieten ihn.
„Mama sagt immer, ein fester Händedruck macht einen guten Eindruck aus", erzählte das Mädchenund Roman nickte. „Deine Mutter klingt nach einer sehr schlauenFrau", sagte er und Annie bejahte eifrig. „Ja, Mama weiß alles und kann ganz toll erklären", bestätigte sie, „Ist deine Mama auch so schlau?" Ein Schatten schlüpfte über Romans Gesicht und seine Augen wurden düster, doch der Moment war so schell vorbei,dass Annie sich sicher war, sich das Ganze eingebildet zu haben.
„Ja", sagte Roman und fummelte am Saum seines Hemdes herum, ohne Annie anzusehen. Plötzlich schlug die Turmuhr gegenüber einmal laut, und der Junge riss beunruhigt denKopf hoch und sprang auf. „Ich - ich muss gehen", stotterte er,und Annie sah mit einer Mischung aus Verwunderung und Faszination zu, wie seine Umrisse zu verschwimmen schienen. „Meine Zeit ist um. Erschreck dich nicht, Annie." Der letzte Satz war nur noch ein entferntes Flüstern, als seine Figur immer undeutlicher,durchsichtiger wurde und schließlich ganz verschwand.
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