(6.5)
Einer hält mich fest, ein anderer geht vor mir weg. Ich habe das an, was ich schon seit Monaten trage und ich will gar nicht wissen, wie ich rieche. Angstschweiß. Das ist es wohl, denn ich werde gerade zu meiner eigenen Hinrichtung geleitet und das schlimmste? Sie ist öffentlich.
Das heißt Arina, Jonathan und sogar Daniel können mir beim Sterben zusehen.
Auf dem Weg, der mich erst durch die halbe Institution führt und dann nach draußen in den Vorhof, frage ich mich, ob das überhaupt legal ist. Ob man jemanden öffentlich aufhängen darf.
Wenn es wenigstens ein Pistolenschuss wäre... Dann wäre es nicht so niederträchtig. Ich muss immerhin selbst auf das Podest steigen, mir selbst die Schlaufen anlegen und darauf warten, bis das Ding unter mir weggezogen wird. Wer weiß: Vielleicht muss ich sogar springen. Dann hätte ich mich selbst umgebracht und dieser Gedanke lässt mich nicht mehr los.
Wir sind am hinteren Teil der kleinen Bühne angekommen, ich werde gerade geschubst und mir wird gesagt, ich solle „jetzt mal hinne machen". Da kommt mir die Idee: Ich werde es freiwillig tun. Ich werde es nicht tun, weil es mir gesagt wird oder weil ich keine andere Wahl habe. Ich werde sterben, weil es für mich nichts mehr in diesem Leben gibt. Weil ich nicht leben will, wenn es verboten ist zu lieben.
Mit diesem Mantra in meinem Kopf steige ich würdevoll auf die Bühne. Ich überblicke die überschaubare Menge.
Es sind nur in etwa zwanzig Menschen da, die sehen wollen, wie ein angeblicher Vergewaltiger und ein bewiesener Schwuler stirbt.
Ich entdecke sogar eine vierköpfige Familie und die Kinder sehen so aus, als wüssten sie nicht, was gleich kommen wird. Dann sind da noch zwei alte Männer, die wie wild mit ihren Gehstöcken herumwedeln, während sie erzählen und dabei fast umfallen.
In der allerletzten Reihe jedoch erkenne ich zwei Gesichter, die ich hier nicht sehen wollte. Die ich nie wieder sehen wollte: Arina und Jonathan.
Jonathan sieht mich unschlüssig an, flüstert Arina etwas ins Ohr, welche nickt.
„Zufrieden?", schreie ic in ihre Richtung. Beide schauen mich geschockt an. „Ich mache das freiwillig. Nicht wegen euch, ihr Versager!"
Arina rümpft die Nase, als hätte das „böse" Wort ihre wohlerzogenen Ohren geschmerzt.
Ich versuche zu lachen, doch es kommt nur ein erschöpftes Seufzen aus meiner Kehle.
Nach außen hin sehe ich hoffentlich überzeugend aus, den im Inneren bin ich es nicht.
Ich sehe nach hinten, wo die zwei Wächter, die mich hergeführt haben, miteinander reden. Sie diskutieren fast.
Schließlich schaut mich der eine an. „Was schaust du so?"
„Soll ich jetzt sterben oder wollt ihr warten bis die Sonne untergeht, damit ich einen schönen letzten Ausblick habe?", frage ich sarkastisch.
Die beiden starren mich wütend an. „Klappe, Schwuchtel!", sagt Fettsack und dreht sich wieder zu seinem Kollegen.
Ich höre, wie jemand an die Bühne tritt. „Luther?"
Und ich erstarre. Meine Gliedmaßen und alles an mir: Selbst mein Gehirn, das eigentlich pausenlos auf Hochtouren ist, erstarrt, erfriert. Ich wage es mich nicht umzudrehen.
„Luther, sieh mich an, ich muss dringend mit dir reden!", fleht die Stimme.
Ich schnaube nur, schaue zu Boden, drehe mich nicht mal nach vorne in die Richtung, wo ich den Besitzer der Stimme vermute.
„Ich habe einen Plan", flüstert die Stimme. „Wir können das hier alles abblasen, du musst nur mitspielen."
Mein Kopf schnellt zu der Person. „Was versuchst du? Seit wann redest du wieder mit mir? Was machst du hier? Macht es dir Spaß mich sterben zu sehen?!"
„Ich bin hier, weil ich dich nicht sterben lasse, du Dummkopf! Arina, Jonathan und ich haben einen Plan und du musst mir vertrauen. Hast du das denn schon vergessen, was ich dir vor ein paar Monaten sagte?"
„Vergessen nicht, doch hat es sich wohl als falsch erwiesen, nachdem du mich angeklagt hast, Verräter!"
Daniel seufzt. „Luther, bitte hör mir zu! Spiel gleich bitte einfach mit. Du musst nicht sterben!" Daniel sieht mich mit seinen treuen Äuglein an und ich springe fast nach unten, um ihn in meine Arme zu schließen.
Doch ich tue es nicht.
„Das ergibt keinen Sinn. Die beiden würden mir nie helfen."
„Jetzt schon", versucht Daniel mich zu überzeugen.
„Luther Cornelius Bride. Hinrichtung am 13. März 1906 mit der Begründung mehrmals einen Jungen vergewaltigt zu haben und homosexuell aktiv zu sein."
„Daniel ist erwachsen und du hast schon gemerkt, dass die Kombination der beiden unnütz war, richtig? Denn wenn..."
„Schnauze, Bride! Du stirbst gleich. Halt einmal deine verdammte Dichterklappe!", motzt Fettkloß mich an.
Ich verdrehe die Augen.
„Ich wollte nur heraus stellen, dass du eine Schwuchtel bist und dass das falsch ist", fügt er noch selbstzufrieden hinzu und grinst mich fies an.
„Klasse. Wichtig, wichtig", antworte ich. Ehrlich gesagt bin ich nicht einmal sicher, woher dieses Selbstbewusstsein kommt.
„Einspruch! Wir haben eine Lösung gegen seine Krankheit!", ruft auf einmal jemand von hinten. Ich drehe mich in die Richtung, aus der der Ruf kam und sehe, dass Jonathan und Arina zur Bühne rennen. Während sich Arina beschützend neben Daniel stellt, rennt Jonathan ungefragt auf die Bühne, von der er gleich fast wieder herunter gerissen wird.
„Was soll das?" Fettkloß ist überfordert.
Jonathan spricht nun leiser, so dass es die Masse nicht hören kann und nur die Leute, die dicht bei der Bühne stehen.
„Ich habe hier das Gegenmittel. Das macht jeden Homosexuellen wieder hetero, versprochen. Wenn Sie ihn mir zum experimentieren am Leben lassen, kann ich es Ihnen beweisen. Nur eine dreimonatige Behandlung seiner Krankheit und der Kerl hat nur noch Frauen im Kopf!", erklärt Jonathan stolz und hält dem Wächter ein Fläschen ins Gesicht.
„Das reicht Monate lang? Das kleine Ding?"
„Ich habe natürlich noch mehr. Meine Frau Arina Carter und ich haben einen ganzen Topf voll. Genug für Daniel und Luther."
„Was?", protestiere ich, „Ihr habt einen Topf voll?" Ich schüttele fassungslos den Kopf. Da sieht man mal wieder: Man denkt, dass man verrückt ist und dann kommt Jonathan Carter daher und ist noch verrückter als man selbst. Nicht zu glauben.
Jonathan funkelt mich mahnend an. Ich schnaube nur.
„Der Scheiß funktioniert nicht", sagt Fettkloß übermütig und verschränkt seine speckigen Arme vor der Brust.
„Hat Ihr Prügeln geklappt?" Fettkloß ist ruhig, als Jonathan eine Augenbraue nach oben zieht. „Na eben. Aber das hier ist die Revolution!" Jonathans Augen strahlen, als er die Flasche nach oben hält und sie nun der Masse zeigt. „Ich kann ihn heilen!", ruft er und als wäre es geplant, jubeln die meisten.
Die Kinder der vierköpfigen Familie sehen sich fragend um, wissen nicht einmal was gerade passiert.
„Das ist völliger Schwachsinn! Homos müssen ausgerottet werden!"
„Das ist einer! Ein einzelner! Und Kinder zeugen wird er sicher nicht", argumentiert Jonathan zurück. „Aber mein Experiment, das bringt auch Ihnen Geld ein, mein Lieber. Wenn es klappt – und das wird es – kriegen Sie 20 Prozent des Gewinns."
Fettkloß sieht Jonathan verständnislos an und schüttelt nachdenkend den Kopf.
Ich spüre, wie mich jemand von unten aus am Fuß zieht. „Komm da endlich herunter, Luther!", flüstert Daniel zu mir hoch.
Ich befreie mich aus seinem Griff und schüttele den Kopf. „Wenn du denkst, dass ich mit mir experimentieren lasse, hast du falsch gedacht! Da sterbe ich lieber."
Daniel seufzt.
Der Wächter guckt zu mir. „Dann mach schon und erspare mir diesen Irren hier." Er deutet auf Jonathan.
Dieser sieht mir intensiv in die Augen, als wolle er mir telepathisch etwas übermitteln.
„Ja, dann sterbe ich jetzt", sage ich schulterzuckend. Lieber in Ehre sterben und wann ich es will, als später an schlecht gemischten Medikamenten verrecken. Wahrscheinlich hat Jonathan eh Gift mit hinein gemischt.
Es kommt schnell und es tut weh und ich weiß erst nicht, ob ich lachen soll oder wütend sein soll, denn Jonathan Carters Handabdruck prangt nun auf meiner rechten Wange. „Ah!", schreie ich auf. Eher vor Schock, denn ich kann schon einige Schmerzen ab.
„Du kommst jetzt mit!", zischt Jonathan und zerrt mich von der Bühne. Ich will mich noch am Galgenstrick fest halten, schaffe es aber nicht mehr, ihn zu packen.
Jonathan springt von der Bühne und ich unfreiwillig auch, denn er hat mich fest im Griff.
Alles ist wie ein Rausch, verschwommen, laut und leise zugleich, klar und deutlich. Ich sehe Daniel, merke wie er meine Hand nimmt. Ich sehe Arinas Locken vor mir hin und her schweben und hören tue ich nur noch kurz die Stimme des Wächters: „Ich will 30 Prozent des Gewinns, Carter!"
Richtig zu Bewusstsein komme ich eine Zeit später. Wiederfinden tue ich mich in einem ratternden Gefährt. Es ist eine Kutsche, wie ich nach einer Weile feststelle. „Ihr... miesen... Dreckskerle!", jammerte ich halb ins Fenster hinein. Ich kneife die Augen zusammen, versuche mich nur auf das Bewegen der Kutsche zu konzentrieren.
„Klappe, Luther. Du kannst uns später danken", höre ich Jonathan sagen.
„Danken? Das erste, was ich mache, wenn ich die Gelegenheit dazu habe, ist dich zu erwürgen, du Ketzer!"
„Ja, sicher. Nicht wenn du weißt, was wir vorhaben." Er lacht kurz auf.
„Mich foltern und versuchen mich hetero zu kriegen, aber ich sag dir eins: Vergiss es, denn ich liebe immer noch Daniel und bin an keiner Frau interessiert!"
„Du liebst mich noch?", piepst Daniel neben mir.
„Oh, klasse. Du etwa auch hier?", frage ich sarkastisch und seufze.
„Öffne deine Augen, dann kannst du sehen, Luther!", stöhnt Jonathan genervt.
Und ich folge seinem Vorschlag: Öffne meine Augen, sehe dass Daniel neben mir auf der gepolsterten Bank sitzt, Jonathan mir gegenüber und neben ihm Arina, die mich besorgt ansieht.
„Hab ich dich zu sehr geschlagen?"
„Du hättest es bleiben lassen können..." Kurz ist es still. „Ein Experiment? Wie interessant. Kommt mir irgendwie alles bekannt vor mit dem Serum. Als hätte ich es mir ausgedacht." Ich seufze und merke erst da, dass mein ganzer Körper verspannt ist und ich höllische Kopfschmerzen habe.
Daniel lacht leicht auf. „Ja."
Ich sehe ihn giftig an. „Machst du dich lustig über mich?", schnauze ich und halte mir die Stirn, um meinen Schmerzen entgegen zu wirken. Sie irgendwie wieder in den Kopf zu drücken.
Daniels Blick wird ernster. „Es war meine Idee. Das Serum. Das hast du in Unschuldsweiß geschrieben. Daniel und Luther sterben nicht, weil der Arzt ihnen ein Serum verschreibt, was ihnen helfen soll. Doch Luther verträgt es nicht und es wird wieder abgesetzt, als Arina verschwindet. Und Arinas Verschwinden führt dann im Königreich vor dem Grenzwald zum glücklichen Ende. Das Serum oder eben die Medizin ist demnach ein stilistisches Mittel, um einen Ausweg zu beschrieben, dort, wo eigentlich keiner sein kann. Das Unmögliche möglich machen." Er zuckt mit den Schultern.
Ich starre ihn fassungslos an. „Was? Das Serum steht für nichts. Das ist einfach nur Medizin."
Jonathan rauft sich durch die blonden Haare. „Hast du es immer noch nicht kapiert, Bride?" Ich schaue erwartungsvoll zu ihm. „Das Serum ist Quatsch! Wir haben kein Experiment vor. Wir wollten dich nur retten und dich und Daniel so schnell wie möglich weg bringen. Wir wollen euch helfen, du Dummkopf."
„Mir helfen, indem ihr mich hinter Gitter bringt, mich foltert und dann sterben lasst? Danke. Vielen Dank auch", antworte ich sarkastisch und starre aus dem Fenster.
„Verdammt, Luther! Menschen können ihre Meinung ändern! Auch ich bin ein Mensch und habe nachgedacht und als Arina und ich Daniel fast zugrunde haben gehen sehen, da hat es bei uns Klick gemacht. Wir wollen euch in Sicherheit bringen und uns ist es egal, das ihr beide Männer seid. Denn ihr liebt euch. Daniel liebt dich mehr als sein eigenes Leben und du ihn anscheinend auch", erklärt er und schaut mich an. Wartet auf eine Reaktion.
Doch bei mir kommt keine. Ich glaube ihm, ja. Auf irgendeine Art und Weise glaube ich dem Menschen, der mich mehr als kein anderer belogen hat.
Aber ich kann nichts sagen. Es ist so, als wäre die Zufuhr, der Durchgang von Gehirn und Mund versperrt. Ich kann nur da sitzen und nichts tun. Mein Körper ist dazu nicht in der Lage.
Ich verstehe die Hälfte nicht von dem, was die drei mir an diesem Nachmittag erzählen. Ich verstehe nur, dass Daniel auch weg gesperrt wurde, um geheilt zu werden und dass Jonathan so ziemlich alles bereut, wofür er in den letzten Monaten gestanden hat. Arina sagt mir dann noch, dass sie jetzt nur noch darauf sauer ist, dass ich sie hintergangen habe und ihr die Wahrheit verschwieg.
Ich sage nichts. Ich nicke und starre die Landschaft an, die mit der Zeit von Büschen zu Bergen wechselt, von Bergen zu Feldern und als ich eine Möwe hoch am Himmel fliegen sehe, weiß ich, dass wir an die Küste fuhren.
„Meine Eltern hatten hier ein Ferienhaus. Dort kommen wir erst einmal unter. Du und Daniel habt ein Zimmer und ich hoffe, dass du jetzt aufhörst zickig zu sein und dich mit Daniel wieder verträgst. Arina und ich haben auch ein Zimmer zu zweit und außerdem ist da noch eine Küche, ein Garten, drei Badezimmer und ein Salon, indem wir uns denke ich, erst einmal ausruhen nach dieser langen Reise." Jonathan erhebt sich von seinem Sitzplatz und steigt aus. Daniel greift meine Hand und ich lasse ihn. Arina geht nach uns heraus und scheint genauso überrascht wie Daniel und ich zu sein. Das Haus ist wunderschön und im Hintergrund sieht man Dünen und Meer. Es sieht aus wie ein Gemälde.
„Luther?", schubst Daniel mich an.
Ich sehe neben mich. Daniel schaut mich flehend an. „Bitte rede wieder mit mir. Ich werde dir alles genau erklären, wenn wir drinnen sind und es wird alles gut, ja?"
„Es ist alles gut, Daniel." Ich lächele ihn versöhnlich an. Dann drehe ich mich zum Haus und seufze. „Es ist zwar kein Schloss und ich sehe hier keinen Grenzwald, aber ich denke, auch hier wird unser Happy End möglich sein."
Als sich Daniel an mich heran schmiegt, weiß ich dass ich hier richtig bin. Neben ihm. Meinen Arm um ihn gelegt und nichts kann schöner sein, als ein neues Leben mit der Liebe seines Lebens anzutreten.
Auch wenn Daniel mir noch viel zu erklären hat, weiß ich, dass alles gut sein wird. Selbst wenn es nicht heute ist oder morgen oder übermorgen.
Irgendwann wird alles gut sein. Vielleicht nur fast. Aber das ist in Ordnung.
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