1.3
Die Straßen waren leer. Bis auf ein paar gehetzte Studenten sah man kaum jemanden. Verkaterte Männer lagen in Gassen und irgendwo spielte jemand eine Querflöte. Fast schon gespenstisch leer gefegt.
Ich schlenderte neben Luther her und manchmal versuchte er, ein Gespräch anzufangen, doch ich blockte immer wieder ab. Er sollte meine Schwester in Ruhe lassen. Er sollte aufhören, mit ihr zu flirten.
„Deine Schwester ist ein nettes Mädchen." Er grinste vor sich hin. Wieder seine Arroganz. Ich hatte sie fast vermisst.
Ich blickte ihn von der Seite aus an und runzelte die Stirn. „Ja, wieso?"
Er zuckte mit den Schultern. „Ach, ich weiß auch nicht. Ich mag sie sehr." Kurze Stille. „Ist sie vergeben?"
Ich schluckte und sah zu Boden. „Nein", krächzte ich.
Innerlich ermahnte ich mich, nicht so komisch zu sein. Nicht so anders zu sein, die Fassung zu behalten, ihn anzusehen und ihm etwas frech zu entgegen. So wie es auch bei sonst jedem ging.
Aber Luther war etwas anderes. Er brachte mich in Verlegenheit. Er machte meine Hände schwitzig und wenn ich ihn ansah, funktionierte gar nichts mehr bei mir.
„Meinst du, Daniel, sie würde Ja zu einer Verabredung mit mir sagen?" Luther sah nach vorne und schien sich etwas auszumalen. Vielleicht die Verabredung mit Arina. Das störte mich.
„Weiß nicht. Sie ist wählerisch."
„Ach ja?" Das schien sein Interesse leider nur noch mehr geweckt zu haben.
Ich nickte und rollte insgeheim mit den Augen. „Zum Beispiel mag sie nur weiße Orchideen. Andere Blumen finden sie scheußlich. Sie mag auch kein Wetter. Nur den Winter findet sie gut. Sie ist musikalisch, aber sie hört nur klassische Musik", sprudelte es aus mir heraus. Das war ehrlich gesagt immer nur die halbe Wahrheit, aber ich wollte nicht, dass Luther mit meiner Schwester ausging. Ich mochte ihn nicht. Seine Art, was er in mir auslöste und schon gar nicht sein dämliches Grinsen, das ich ihm vielleicht aus dem Gesicht geschlagen hätte, wenn ich nicht so schwach wäre.
„Weiße Orchideen kann ich besorgen, auf den Winter muss sie wohl noch ein halbes Jahr warten, aber klassische Musik dürfte auch kein Problem sein. Vielleicht organisiere ich ein romantisches Abendessen in einem schönen Lokal..."
Ich schnaubte und verdrehte die Augen. Luther starrte mich fassungslos von der Seite an, ließ mich aber in Ruhe. Wir gingen schweigend daher, bis wir endlich die Universität erreicht hatten.
Die Prüfung war schwerer, als ich sie mir hatte vorstellen können. Vielleicht lag das auch daran, dass ich die ganze Zeit wütend auf meinem Stift herum gekaut hatte und keine einzige Epoche mehr auf die Reihe bringen konnte, weil ich nur noch an Luthers Gesicht denken konnte. Wenn er versuchte, meine Schwester flachzulegen, würde ich ihn höchstpersönlich krankenhausreif prügeln! Egal, was für eine geringe Chance ich gegen ihn hatte.
Die Prüfung dauerte sechs volle Stunden und ich gab nach der fünften ab. Es war mir peinlich, so früh fertig zu sein und ich traute mich nicht ins Lokal. Ich wollte nicht, dass Arina sich wunderte und mich vielleicht ausschimpfte, da ich viel zu früh abgegeben und nicht einmal drüber gelesen hatte. Deswegen nahm ich mir vor, die Zeit in der leeren Universität totzuschlagen. So setzte ich mich auf eine Bank im Flur und lehnte mich mit geschlossenen Augen ans Fenster hinter mir an. Ich atmete tief ein und aus und versuchte, mich zu entspannen. Nicht an Arina und Luther zu denken. Ich wusste nicht weswegen, aber er machte mich sauer.
Nach einer Zeit hörte ich Schritte den hallenden Gang entlang gehen. War ich vielleicht nicht der Einzige, der viel zu früh abgegeben hatte? War ich vielleicht nicht der Einzige, der es vermasselt hatte, weil er an den Verehrer seiner Schwester dachte? Ich lehnte mich vorwärts und starrte den Gang entlang.
Das Hemd, die gemachten Haare, die im Licht rötlich schienen, die feinen Schuhe und der schicke schwarze Designermantel. Es war ja klar, dass es Luther war, der hier entlang kam.
Er hatte ein Buch in der Hand. Es war dünn. Vielleicht eine hoch literarische Lektüre?
Er schrieb etwas hinein und kaute auf seinem Stift. Vielleicht war es ein Notizbuch?
Fast ging er an mir vorbei. Fast konnte ich mich verstecken. Leider dann doch nur fast...
„Daniel?", fragte er lächelnd und hielt an. Er klappte sein Buch zu und setzte sich neben mich. „Und? Hast du bestanden?" Dämliche Frage, Herr Schriftsteller.
„Was weiß ich. Die Prüfung muss erst korrigiert werden. Außerdem habe ich eine Stunde eher abgegeben."
Er lachte. „Bist du jetzt sauer deswegen? Hast du Angst, dass du nicht bestehst? Ich habe damals zwei Stunden eher abgegeben und bestanden." Er grinste mich stolz an.
Natürlich hatte er das... Wahrscheinlich sowieso nur, weil er so verdammt hübsch und charmant war.
Ich schluckte. Hatte ich das gerade wirklich gedacht? Über den Verehrer meiner Schwester? Das war nicht mein Ernst, oder? Ich traute mich nicht mehr, ihn richtig anzugucken, weil ich auf einmal unangenehm schwitzte, mir schwindelig wurde und sich bei mir ein ungewohntes Gefühl breit machte. Unter anderem in Regionen, die ich jetzt wirklich nicht brauchte.
„Muss ja nicht heißen, dass es bei mir das Gleiche ist", erwiderte ich kühl, als ob mich seine Anwesenheit nervte. Tat sie das? Tat sie doch, richtig?
Ich verschränkte die Arme und versuchte nicht in seine strahlenden Augen zu blicken, die durch das Licht des großen Fensters hinter uns noch mehr betont wurden.
Er schmunzelte und musterte mich. „Ach komm schon. Meinst du, du wirst nicht bestehen? So ein schlauer Kerl wie du? Du hast ja sogar gestern noch in der Bar gelernt. Etwas über Kunst, richtig?"
Ich nickte dröge. Er sollte mich in Ruhe lassen. Er sollte aufhören mich anzugucken!
„Ich studiere Kunstgeschichte und Literatur", meint ich desinteressiert.
Er nickte wissend.
„Und ich bin kein saufender und vögelnder Student. Um das Vorurteil von letzter Nacht mal aufzuklären", fügte ich heiser hinzu. Ich konnte kaum glauben, das gerade gesagt zu haben. Das musste das Schwitzen und die Nervosität sein. Das war sicherlich nur die Nachwirkung der Prüfung. Ja, das musste der Fall sein.
Luther runzelte die Stirn. „Ach nein? Nicht mal ein bisschen?"
„Nicht mal ein kleines bisschen." Ich sah von ihm weg und schloss die Augen. Scheiße, Daniel!
„Trinkst du keinen Alkohol?"
„Nein."
„Aber eine Freundin hast du sicherlich, oder? Ich meine, du bist ja..." Er stockte und sah auf sein Notizbuch, das er in den Händen hielt. Ich drehte mich wieder zu ihm.
„Was bin ich?", fragte ich nach. Ich erwartete ehrlich gesagt keine Antwort.
Luther hustete. Zwischendurch hörte ich so etwas Ähnliches wie das Wort „gutaussehend". Das ging zu weit. Das wollte ich nicht hören. Die Röte stieg mir ins Gesicht und ich drehte mich weg. Ich musste von hier verschwinden und Luther musste weit weg von mir bleiben.
Ich stand auf. „Wie auch immer. Ich muss noch ein Buch zurück in die Bibliothek bringen und dann auch nach Hause zu Arina."
Luther saß da und starrte auf den Boden. „Ja, wie auch immer", meinte er viel zu schnell und blätterte wieder sein Notizbuch auf.
Ich trottete gespielt lässig den Gang entlang und fuhr mir, als ich um eine Ecke gebogen war, mit meinen schwitzenden Händen durchs Gesicht. Meine Atmung war schwer, mein Puls erhöht und was ich spürte, war etwas, was ich noch nie gespürt hatte.
Ich war mir leider ziemlich sicher, dass Luther das bei mir ausgelöst hatte. Ich fiel an einer der Backsteinwände der großen renommierten Universität zusammen und kugelte mich in mich. Ich stützte meinen Kopf auf meinen Knien ab, während ich meine Beine umarmte, als wären sie das Wichtigste in meinem Leben. Die wenigen Leute, die an mir vorbei gingen, starrten mich verdattert an. Viele beachteten mich auch gar nicht richtig und manche lachten.
Heute machte es mir nichts aus, dass mich Leute für komisch hielten, denn jetzt war ich ihrer Meinung. Ich war komisch. Ich war komisch, weil mein Herz lauter klopfte als sonst, während ein mir fast unbekannter Mann neben mir saß und mir sagte, dass ich gut aussah. Welcher Mann sagte einem anderen das?
Ich hatte nie viel Zeit mit meinem Vater verbracht, aber ich war mir sicher, dass seine Freunde ihm nicht sagten, dass er gut aussah. Ich war mir noch sicherer, dass das Männer, die meinen Vater so gut wie gar nicht kannten, schon gar nicht zu ihm sagten. Und ich war mir sicher, dass das nicht nur in Oxford unbekannt war. Ich war mir sicher, dass das nicht nur eine englische Angewohnheit war, dass man sich unter Männern solche Komplimente nicht machte. Ich war mir sicher, dass es überall auf der Welt nicht gemacht wurde. Dass es überall abnormal war.
Und dann war da noch die Sache, dass Luther das gesagt hatte und dass es mein Herz zum Klopfen gebracht hatte. Was für ein Schwachsinn! Ich war lächerlich.
„Summerville? Wieso sitzen Sie hier so gekrümmt auf dem Boden? Ist Ihnen schlecht?", fragte mich der Professor, den ich eine Weile in Literatur gehabt hatte. Er war vor mir stehen geblieben und hatte die Stirn gerunzelt, bevor er diese Worte sagte.
Ich schaute abwesend nach oben und rappelte mich nach einer Weile ungefragt auf. „Nein, alles gut", antwortete ich mit einem nicht ernst gemeinten Lächeln. „Schönen Tag noch." Dann lief ich die Gänge entlang, bis ich zum Ausgang kam. Ich hatte mich beruhigt und beschlossen, Luther ab heute, wenn möglich, zu ignorieren. Nein, ich würde ihn ganz sicher ignorieren!
Ich saß mit meiner Schwester am Abendbrottisch und kaute unsicher auf einem Brot herum. Ich starrte nach draußen auf die spärlich beleuchteten Straßen und trank einen Schluck Wasser. Ich war schrecklich müde. Von der Prüfung und von Luther. Meinen Gefühlen und der Spannung, die er bei mir ausgelöst hatte, so dass mir nun wieder die Röte ins Gesicht stieg und ich auf der Stirn schwitzte.
Arina beugte sich zu mir rüber und hielt mir ihre Handfläche flach an die Stirn. „Sag mal, hast du Fieber? Daniel, du glühst ja! Heute gehst du aber eher ins Bett."
Ich kaute auf, schluckte das Stück herunter und funkelte sie böse an. „Behandele mich nicht wie ein Kind, mir geht es prächtig!"
Sie schüttelte den Kopf und tastete meine Stirn weiterhin ab. „Wieso ist dir so heiß, Brüderchen?"
Ich verschränkte meine Beine miteinander und drückte mir auf den Bauch. Das muss aufhören, Daniel!
Ich dachte an Großmütter und an den schmierigen Wirt des Palace Inn. Ich schloss die Augen. „Mir geht es wirklich nicht gut. Vielleicht sollte ich nach oben gehen", flüsterte ich leise und drückte weiter auf meinem Bauch herum. Es wurde nicht angenehmer. Immer wieder glitten meine Gedanken zu Luther.
Arina sah mich verdattert an, als ich aufstand, doch kurz bevor ich verschämt die Reise nach oben ins Zimmer antreten konnte, kam der Wirt zu unserem Tisch und händigte Arina einen Umschlag aus. Und eine weiße Orchidee.
Eine verdammte weiße Orchidee! Wut stieg in meinen Kopf und neugierig wie ich war, setzte ich mich wieder hin und sah Arina beim Aufmachen des Briefes zu.
Als sie den Brief aus dem weißen Umschlag mit Siegel befreit hatte und die Orchidee neben der Butter auf dem Tisch lag, faltete sie den Brief auseinander und sofort leuchteten ihre Augen auf.
„Daniel?"
„Ja?", fragte ich leicht genervt. Das konnte er nicht machen! Er konnte sie nicht ausführen!
„Luther Bride, kennst du Luther Bride? Ja, du kennst ihn. Also: Luther Bride will mit mir ausgehen! Essen! Er holt mich morgen ab! Guck mal, meine Lieblingsblume! Wir sind seelenverwandt, ich wusste es! Daniel, Luther findet mich toll! Das hat er geschrieben. Daniel, Luther ist so toll, ich glaube ich habe mich schon jetzt in ihn verliebt."
Immer wieder nickte ich, während Arina plapperte und plapperte. So wie ich es von ihr gewohnt war. Normalerweise fand ich ihre quirlige Art reizend, aber heute hätte ich ihr am liebsten den Mund mit Luthers Einladung gestopft. Ich hasste ihn! Ich hasste Luther Bride und das würde sich niemals ändern! Er hatte mich verwirrt und jetzt fragte er meine Schwester, ob sie mit ihm ausgehen wollte.
„Scheint sich ja seiner Sache sicher zu sein", nuschelte ich.
„Was?", fragte Arina aufgeregt und viel zu hektisch.
„Ich meine, er schickt dir einen Brief, wo das Ganze wie eine beschlossene Sache drin steht und erwartet von dir keine Zusage. Also ich finde das arrogant und unhöflich", stellte ich eingeschnappt klar. Dass ich auf meine Schwester eifersüchtig war, konnte ich ihr schließlich nicht gestehen und das wollte ich auch mir selbst nicht glauben. Ich hasste ihn doch.
„Er ist eben selbstbewusst. Und Daniel, er ist so männlich! Er kann eine Frau beschützen, da bin ich mir sicher", schwärmte sie und drückte den Brief an ihre Brust.
Ich stand auf. „Mir ist schlecht, ich gehe jetzt ins Bett."
„Gute Nacht, Danieleinchen!", trällerte Arina durch das ganze Lokal. Um uns brachen Männer in Gelächter aus. „Danieleinchen", wiederholten sie amüsiert und klopften sich halb besoffenen auf die Schenkel.
Ich ignorierte sie nur und stampfte eingeschnappt nach oben ins Zimmer.
Arina hatte am nächsten Tag die erste Verabredung mit Luther. Er holte sie ab und gemeinsam gingen sie in ein Lokal. Ich blieb zu Hause, lernte für meine nächste Prüfung und las. Ich war unruhig. Ich wollte nicht, dass er mit ihr ausging. Er sollte es gefälligst lassen! Einfach abhauen!
Als Arina wieder kam, waren ihre Wangen gerötet, ihre Augen glänzten und in der Hand hielt sie eine zierliche Vase mit einer weißen Orchidee in ihr. War ja klar, dass er sein Wissen jetzt voll auskostete... Er war sicherlich ein Casanova und wenn er Arina verletzte, war ich derjenige, der sie zu trösten hatte und dann war er schon weg. Über alle Berge. So wie es schon oft gewesen war.
Arina erzählte mir eine Menge. Selbst als wir umgezogen in unseren Betten lagen, hörte sie nicht auf zu reden. Ich war es ja gewohnt, dass sie viel zu erzählen hatte, nur gerade über Luther wollte ich nichts hören.
Sie erzählte mir, er mache eine Studie und sei deswegen an die Universität gekommen. Er bleibe noch ein paar Tage in der Stadt, um seine Forschungen weiter zu betreiben. Wo es wirklich drum ging, in seinen Studien, wusste meine Schwester jedoch nicht. Darüber hatte sie nichts erzählt. Ich wusste nur, dass ich diesen Kerl nie mögen würde. Er konnte machen was er wollte, ich hatte einfach ein komisches Gefühl im Magen, wenn ich an ihn dachte...
Es vergingen drei grauenvolle Tage, die ich mit Lernen zubrachte. Meist unten an der Bar. Meist Luther an meiner Seite, der mir helfen wollte. Und meist endete es damit, dass ich mich wo anders hinsetzen musste, da er mich so schrecklich nervte und mich ablenkte.
Luther und Arina waren nun offiziell ein Paar und ich merkte, wie sehr sich Arina in ihn verliebt hatte. Das Komische an der ganzen Sache war nur, dass es bei Luther anders schien. Vielleicht war das auch noch ein weiterer Minuspunkt. Er schien meine Schwester nur zu benutzen. Für was auch immer.
Eines Abends saß ich wieder in der Bar, neben mir ein Glas mit Wasser. Luther hatte sein Whiskyglas in der Hand und roch an dem braunen Gebräu, bevor er einen festen Schluck nahm. Ich schielte kurz herüber und sah dabei zu, wie sich seine Augen schlossen, als er den Geschmack auf seiner Zunge spürte. Wieder einmal stieg mir die Hitze in den Kopf.
Ich schüttelte den Kopf und beugte mich wieder über mein Buch. Ich machte mir nebenbei Notizen und merkte nicht, wie die Zeit davon flog und wie Luther neben mir immer mehr trank, bis er schließlich lallte und mir in diesem anti-autoritären Zustand auch noch erzählen wollte, was ich mir noch zusätzlich zu notieren hatte.
Ich rollte nur entnervt mit den Augen.
„Geh ins Hotel, du bist betrunken, Luther!", schnauzte ich unfreundlich, als er anfing, mit meinen Haaren zu spielen. Ich schlug seine Hand weg und er maulte entsetzt.
Doch schien ihn nicht sonderlich zu stören. „Ich will noch nicht dahin, ich bin lieber hier bei dir." Er schmunzelte mich von der Seite an und ließ seine Wimpern nieder und wieder aufschlagen.
„Ach ja? Geh trotzdem. Du fällst gleich vom Hocker", lachte ich nervös und verschränkte meine Beine, obwohl er meine Nervosität eh nicht sehen konnte, als er mit seinen intensiven Blicken nicht aufhörte.
„Dann fang mich auf, Süßer", hauchte er mit heiserer Stimme und ich griff mir vor Verzweiflung in die Haare, schloss die Augen ganz fest.
„Süßer? Kein Whisky mehr für dich. So betrunken warst du ja noch nie", erwiderte ich aus meiner merkwürdigen Position nuschelnd.
„Woher weißt du das? Du kennst mich erst seit einer Woche", maulte er gespielt enttäuscht.
„Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass du eigentlich nie so viel trinkst", antwortete ich genauso arrogant wie er immer mit mir sprach. Immer, nur jetzt gerade nicht.
„Ja, das stimmt. Aber wenn ich traurig bin, dann trinke ich eben viel..." Luther seufzte theatralisch.
„Traurig?" Ich drehte mich belustigt zu ihm. Er war Schriftsteller, Philosoph, kam aus einer reichen Familie und hatte meine Schwester, ein wunderschönes Mädchen, zur Freundin. Was wollte er mehr? Ich hatte Grund zum Traurig sein mit meiner unklaren Zukunft, meinen unklaren Gefühlen und meiner Einsamkeit, aber Luther war der Letzte, der sich beschweren durfte!
„Ja, ich bin traurig." Er stützte seinen Kopf auf eine Hand ab und musterte mich mit flatternden Augen. Er konnte nichts mehr richtig fixieren, wie ich bemerkte.
„Daniel, wieso bist du eigentlich kein Mädchen?", maulte er.
Ich schnaubte wütend. „Was meinst du damit denn jetzt? Ich bin nun mal ein Junge. Komm damit klar und geh ins Bett. Du bist viel zu besoffen, um noch mit irgendwem zu kommunizieren!" Ich hatte es satt, wie ein Kind behandelt zu werden, aber als Mädchen beschrieben zu werden, ging noch viel weiter und selbst Luther, der mich andauernd verlegen machte und rot anlaufen ließ, konnte ich so etwas nicht verzeihen.
Luther schüttelte seinen Kopf. „Nein, ich kann eh nicht schlafen."
„Dann schreib oder mach dir Notizen oder verbringe Zeit mit Arina oder..." Ich wusste nicht weiter. Er sollte mich in Ruhe lernen lassen, ich würde noch durch die Prüfung rasseln nur wegen ihm!
„Weißt du, wieso ich nicht schlafen kann?", fragte er aufgeregt wie ein kleines Kind. So kannte ich ihn nicht. Er war sonst immer so arrogant, besserwisserisch und hochnäsig, aber plötzlich war er ganz anders zu mir.
Ich seufzte. Dieser Typ war unausstehlich, wenn er betrunken war. Besonders, weil er mich verwirrte. Am laufenden Band. „Wieso?", fragte ich genervt. Er würde es mir ja doch erzählen.
„Weil du kein Mädchen bist, Daniel."
Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen. Er hatte das so ernst gesagt, so verzweifelt, dass ich es ihm fast geglaubt hätte. Wenn das ein lahmer Versuch war, mich fertig zu machen, konnte er einpacken. Ich hatte schon schlimmeres über mich ergehen gelassen. „Sicher doch..."
„Glaubst du mir nicht?", fragte er verängstigt und rückte näher zu mir.
Es war kaum noch jemand in der Bar. Der Wirt wischte die Tische in einer der letzten Ecken ab. Da wo die Säufer immer die Hälfte ihres Bieres verschütteten.
„Natürlich glaube ich dir nicht. Es ist sinnfrei." Ich stotterte ein kleines bisschen, weil er mir wirklich nah war und ich fast seinen Atem auf meinem Gesicht spüren konnte.
„Sinnfrei? Aber es ist doch nicht sinnfrei, wenn ich daran verzweifele, dass du kein Mädchen bist, Daniel!", protestierte er lallend. Er schien nicht wütend. Nur noch verzweifelter.
„Doch. Weil dir das doch egal sein kann. Was interessiert es dich, welches Geschlecht ich habe?" Ich war wirklich gerne ein junge, auch wenn das mir immer Probleme bereitete. Vielleicht war ich wirklich innerlich ein Mädchen. Das würde meine körperliche Schwäche erklären und dass mich alle wie ein kleines Kind behandelten. Und natürlich meine Gefühle für Luther.
Luther klappte mein Buch zu und nahm mir meinen Stift aus der Hand. Ich sah ihm verwirrt dabei zu.
„Bitte. Kannst du nicht doch ein Mädchen sein. Bitte? Für mich, Daniel? Ich will doch nur... ich kann doch nicht... Du bist doch ein..."
Kurz schniefte er, bevor er vom Hocker stieg und langsam zur Tür trottete. Dieser Typ war doch bescheuert! Wieso musste er seine Auftritte immer dramatischer machen als nötig?
Ich lief ihm hinterher. Unmöglich konnte ich ihn so gehen lassen. Außerdem war ich neugierig und wollte wissen, was er wirklich damit meinte.
„Halt, Luther! Warte doch mal!"
Ich lief ihm hinterher. Bis nach draußen an den Straßenrand. Luther lehnte sich an eine Laterne an und wankte etwas hin und her.
„Was hast du denn? Willst du mir nicht sagen, was mit dir los ist? Ich verstehe dich nicht, wenn du in Rätseln redest", plapperte ich drauf los und hielt neben ihm an.
Ich musterte den Freund meiner Schwester und suchte nach der Wahrheit in seinen Gesichtszügen, doch ich konnte kein bisschen davon erkennen. Sein Ausdruck war ein Chaos.
„Wieso bist du so verzweifelt?", flüsterte ich stirnrunzelnd. Ich wollte, dass er es mir sagte. Er ging doch mit meiner Schwester aus und konnte nicht einfach so eine Last auf der Seele tragen ohne dass meine Schwester davon wusste. Er musste es mir sagen. Außerdem mochte ich ihn mehr als mir lieb war und ich musste damit aufhören. Am besten jetzt sofort. „Ach Daniel." Luther drehte sich zu mir und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Laterne, so dass er mir nun gegenüber stand. Er musterte mich von Kopf bis Fuß und nun erkannte ich in seinem Gesicht einen leichten Rotschimmer. Er seufzte zittrig.
„Ja?", hauchte ich gegen den Frühlingswind. Wie gebannt stand ich vor ihm. Meine Augen weit aufgerissen und ich starrte ihn an, als hinge mein Leben davon ab.
„Wenn du ein Mädchen wärst, dann könnte ich..."
Ich schluckte. Was könnte er? Ich wusste nicht, was er meinte. Ich wusste das mir zum gefühlten tausendsten Mal in dieser Woche heiß am ganzen Körper wurde.
„Du bist so klug und hübsch. Du bist so frech und schüchtern. Du bist so geheimnisvoll und intelligent, so gutaussehend und verzaubernd. Wenn du ein Mädchen wärst, könnte ich dir das alles sagen, ohne mich schuldig zu fühlen, verstehst du?", erklärte er traurig und sein liebevoller Blick, den ich so gar nicht von ihm gewohnt war, bohrte mich in den Boden unter mir.
„Nein, nicht wirklich." Ich verstand es nicht. Wieso machte er mir diese ganzen Komplimente? Und wieso gefiel es mir? Er war der Freund meiner Schwester. Ich verschränkte die Arme vor der Brust, da die Kälte trotz der körperlichen Hitze, die sich in mir an staute, zu mir drang
„Ich habe letztens versucht, mit Arina zu schlafen."
Ich schluckte nach diesem Satz und starrte zu Boden. Das wollte ich wirklich nicht wissen.
„Es ging nicht. Ich stehe nicht auf Frauen, Daniel", meinte er leise und zutiefst verwirrt.
Ich lachte verwirrt. „Was soll das heißen? Ich meine, als Mann steht man auf Frauen. Das ist doch von der Natur festgelegt." Das konnte nicht sein. Es konnte nicht sein, dass wir beide abnormal waren. Dass nicht nur mein Körper falsch reagierte.
Er zuckte mit den Schultern. „Das ist meinem Körper leider egal."
Ich biss mir auf meine Unterlippe.
„Was... also worauf... ich meine auf wen...", stotterte ich aus der Fassung gebracht und um sicherzugehen.
Luther stieß sich von der Laterne ab und schlich auf mich zu. Er nahm meine Hand. „Ich wünschte, du wärst auch so wie ich. Ich wünschte, du würdest Frauen auch nicht toll finden und..." Er wusste nicht weiter und sah zu Boden.
Ich schritt einen weiten Schritt an ihn heran und griff an seinen Oberarm.
Irgendwo jaulte ein Straßenhund auf, gefolgt von einer scheppernden Dose, die zu Boden fiel.
Luther schluckte. „Es tut mir leid, dass ich dich damit belaste. Es tut mir wirklich äußerst leid, Daniel."
Wir waren uns nun sehr nah. Er musste nur noch flüstern, damit ich seine Worte hörte und seine Augen flackerten immer wieder über mein ganzes Gesicht, während er sprach.
Ich legte meine Hände in seinen Nacken und presste ihn gegen die Laterne. Wieder wurde mir überall heiß, mein Atem wurde unruhig und ich sah Luther tief in seine Augen. Meine Sicht verschleierte sich leicht, als ich die Situation realisierte. Die Situation, von der ich heimlich immer wieder geträumt hatte. Ob ich wollte oder nicht.
Er hielt den Atem an. Er schien Angst zu haben. Ich hatte sie auch, aber es galt, sie jetzt zu überwinden.
Ich zog seinen Kopf ein wenig zu mir herunter und schaute ihm immer noch in seine schönen Augen. Dann drückte ich meine Lippen auf seine. Ohne nachzudenken. Ohne auf andere Sachen zu achten. Und erst da bemerkte ich, wie sehr ich das doch die ganze Zeit gewollt hatte. Erst da gestand ich mir ein, dass ich Hals über Kopf in Luther Bride verliebt war.
Nachdem Luther und ich uns eine Weile geküsst hatten, fragte er mich atemlos, ob ich mit in seine Wohnung kommen wollte. Ich nickte nur hektisch und drückte ihm einen weiteren Kuss auf die Lippen, denn ja verdammt, wie wollte ich das doch!
Ja, und als ich dann am nächsten Morgen schon beachtlich früh und mit einem schmerzenden Hintern unten im Lokal auf Arina wartete und die Sachen vom Vortag trug, da dachte sich meine Schwester nichts Böses dabei und erzählte mir munter davon, dass sie Luther heute sagen würde, dass sie ihn wirklich liebte und dann zählte sie auf, wieso sie Luther so liebte und alles, woran ich in dieser Zeit dachte, war die letzte Nacht und mir schmerzte das Herz etwas, denn Arina hatte ja keine Ahnung...
Es hatte etwas von einer Tragödie. Der Tag, an dem Luther mir und Arina erzählte, er müsse leider abreisen. Er sagte, er müsse wieder zurück in seine Heimatstadt und das seine Studien beendet seien. Er sagte zu Arina, er würde sie vermissen. Mir nickte er zu und sagte nur noch: „Daniel, es freut mich, dich kennen gelernt zu haben."
Dann drehte er sich um und ging. Ließ mich da stehen mit einem Haufen Verwirrung, einem Geheimnis, dass ich wohl nicht länger für mich behalten können würde und mit einer trauernden Schwester an meinem Arm, die nichts davon ahnte, dass ich eher mit ihrem Freund geschlafen hatte als sie selbst.
Doch irgendetwas Idiotisches in meinen Gehirnwindungen sagte mir, dass diese Geschichte von uns beiden noch nicht ganz vorbei war. Nein, das konnte sie nicht sein. Und das war es wahrscheinlich auch, dass mein gebrochenes Herz schon da ein Stück weit heilen ließ.
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