1.1 (Daniel)

Oxford war eine schöne Stadt. Studieren war hart, aber Oxford machte es mir leichter. Vielleicht wäre alles anders gekommen. Vielleicht hätte ich einen Job gefunden und wäre berühmt oder wenigstens bekannt geworden. Doch etwas kam mir dazwischen. Besser gesagt: jemand.

Ein Glas fiel klirrend zu Boden. Ich schaute auf und sah, dass die Splitter auf dem Boden lagen.

„Das ist doch nicht dein Ernst. Nicht noch eins!"

„Tut mir leid, heute ist nicht mein Tag..." antwortete die zitternde Stimme des neuen Kellners.

„Das ist mir egal!", hörte ich die mir allzu bekannte hysterische Männerstimme rufen. „Das wirst du auch bezahlen. Das geht alles von deinem Gehalt ab!"

Ich wandte mich wieder meinem Buch zu. Grübelnd blickte ich auf die Seiten und musste grinsen, weil ich die Sätze nun endlich verstanden hatte. Die beiden hatten aufgehört zu reden und ich konnte mich wieder konzentrieren.

„Wenn du nicht bald aufhörst damit, fallen dir noch die Augen aus dem Kopf."

Ich schaute zur Seite, um das Grinsen zu sehen, das ich schon oft gesehen hatte.

„Ach wirklich? Ich denke nicht. Ich denke, lesen ist wichtig."

„Wie auch immer, Daniel. Kommst du mit oder bleibst du noch eine Weile hier unten? Ich würde es gut finden, wenn du jetzt wirklich mit nach oben ins Zimmer kämst..."

Ich beugte mich erneut über das Buch und schüttelte nur versunken den Kopf.

Meine Schwester seufzte. „Du kommst aber schon noch irgendwann hoch zum Schlafen, oder? Weil ich nicht glaube, dass du deine Prüfung bestehst, wenn du Augenringe hast und unausgeschlafen bist."

Ich rollte abwesend mit den Augen. „Ich habe doch fast immer Augenringe, Arina. Beruhige dich. Ich werde das schon schaffen. Es geht hier schließlich um Kunstgeschichte."

„Ach ja? Willst du damit sagen, dass Kunstgeschichte einfach ist?", fragte sie belustigt. Sie hatte die Auswahl meiner Studiengänge immer schon etwas zu wagemutig gefunden.

Ich wandte mich mit einem nervösen Grinsen zu ihr. „Nein, ich sagte damit nur, dass ich das schaffen werde." Damit wandte ich mich erneut meinem Buch zu und schnaubte leise.

„Daniel, du bist komisch. Welcher Student lernt schon in einer Bar?"

Wieder sah ich auf. Diesmal hatte ich eine Augenbraue in die Höhe gezogen. „Das ich komisch bin, weiß ich. Das sagt so gut wie jeder. Und dass ich in einer Bar lerne, ist noch lange nicht so schlimm, wie wenn ich mich in einer besaufen würde."

Arina sah sich um, bevor sie auf ihrem Barhocker näher an mich heran rutschte. „Ich sag ja nur, dass du nicht so lange hier bleiben sollst. Zu späterer Stunde sieht man hier nur Schreckgestalten."

„Schreckgestalten?", lachte ich leicht halbherzig. „Wie zum Beispiel wer, den du hier siehst?"

Ich drehte mich demonstrativ um und sah zur Tür, wo ein besoffener und etwas zu bärtiger Mann herein torkelte.

„Okay, gewonnen. Aber außer dem sind hier keine Schreckgestalten", meinte ich zu meiner älteren Schwester.

„Daniel", sagte sie in einem mahnenden Ton. „Komm mit nach oben ins Zimmer, ehe ich dich dazu zwingen muss."

„Ich werde schon nicht verprügelt werden, nur weil ich hier sitze und lese." Ich schüttelte gedankenverloren den Kopf. Dafür hatte ich noch nie Prügel bekommen. Freche Kommentare, ja dafür vielleicht oder für so manch „komisches Verhalten". Aber fürs Lesen? Nein, undenkbar. Wir lebten in der Neuzeit. Die Leute hatten sich seit der Antike weiter entwickelt. Auch in der Kunst, doch ich schweifte ab...

Arina merkte das und nahm meine rechte Hand vom Buch, welches ich gerade umblättern wollte. „Vergiss es! Du legst dich jetzt oben in dein Bett und schläfst. Und du stehst erst wieder auf, wenn ich es dir sage!"

Ich schüttelte eisern den Kopf. „Nein, ich denke, ich bleibe noch eine Weile hier", antwortete ich trotzig.

Energisch biss sie sich auf die Unterlippe. Sie grummelte etwas von „ungezogen", „eigenwillig" und „kindisch", dann erhob sich meine Schwester und verschränkte ihre Arme vor der Brust.

„Du bist spätestens in einer Stunde oben! Wenn unsere Eltern das wüssten, dann..." Sie strich sich verzweifelt durch die Haare und seufzte.

„Dann was? Arina, sie sind nicht hier! Sie sind immer noch in Russland. Und wie du vielleicht weißt, ist das eine Weile weg von hier."

Sie rollte mit den Augen. „Daniel, du machst mich fertig! Ich gehe jetzt schlafen und du kommst gleich mit deinem blöden Kunstbuch hinterher und tust mir gleich, verstanden?"

Versunken senkte ich den Kopf und nickte.

Meine Schwester verschwand und ließ mich mit meinem Buch und meinen Gedanken allein.

Mir war es vorher nicht aufgefallen, aber draußen stürmte es. Der Wind peitschte an die Fenster und riss den Regen unfreiwillig mit sich. Die paar Lampen, die das Lokal mit dem ironischen Namen „Palace Inn" beleuchteten, flackerten manchmal, wenn man einen Donner hörte oder einen Blitz aufleuchten sah. Es war magisch und nach einer Zeit des sinnlosen Lesens, drehte ich mich erneut zur Tür und zu den Fenstern neben ihr und sah dem Treiben zu.

Schwach lächelte ich dem Sturm draußen entgegen. Schon immer hatte ich Gewitter geliebt. Das war auch einer der Gründe gewesen, wieso mich meine Schwester schon früher, als wir noch Kinder waren, als „komisch" bezeichnet hatte.

Ich saß an der Theke, die nun immer leerer wurde. Auch im restlichen Lokal verschwanden die Gäste mit der Zeit. Einige blieben übrig, die schon einen beachtlichen Schwips hatten.

Ab und zu horchte ich ihrem sinnlosen Geplapper und zwischenzeitlich, ich gebe es nicht gerne zu, aber dann und wann hatte ich auch ein bisschen Angst. Vielleicht wollte sich wirklich einer von denen prügeln oder mich beklauen.

Nur leider war ich ein armer Student und meine Brieftasche, die ich mit mir trug, hatte keinen großzügigen Inhalt. Nur einige Groschen besaß ich zurzeit.

Ich stützte meinen Kopf auf meine Faust ab und wollte verhindern einzuschlafen.

Mir fielen die Augen trotzdem langsam zu. Es war so berauschend. Der Wind, der Regen, das Gelalle der anderen Gäste und das leise Summen der Lampen. Ich lächelte und dachte an das Bild, dessen Analyse ich gerade gelesen hatte. Dieser Rhythmus der Klänge und meine Gedanken an Kunst ließen mich beinahe in einen tiefen Schlummer fallen.

Aus meinem Nickerchen wurde ich jedoch schnell gerissen, als jemand polternd das Lokal betrat.

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