Ein letztes Treffen

Mitternacht war längst verstrichen, als sie leise das Laken der Decke zur Seite schob und sich zaghaft aufrichtete. Ihre nackten Fußsohlen berührten die rauen Holzdielen des Schlafzimmerbodens, als sie die Beine über die Bettkante schwang. Ihr Blick aus jadegrünen Augen flog zurück. Dort lag er, ruhig atmend, die Augen geschlossen und die Brille schief auf der Nase.

Es erwärmte ihr jedes Mal das Herz, ihn so friedlich daliegen zu sehen, als könnte kein Schmerz oder Übel der Welt ihn je erreichen. Sein zerstrubbeltes, rabenschwarzes Haar fiel ihm ins Gesicht und als sie sich behutsam erhob -nur ein Hauch in der stillen Nacht- drehte er sich leise auf die andere Seite und schlief weiter. Ihre Hand ruhte auf ihrem leicht gewölbten Bauch, der sich unter dem geblümten Nachthemd bereits gut sichtbar abhob, als sie behutsam und liebevoll darüber strich.

Zögernd und sich beinahe schuldig fühlend warf sie einen Blick auf die freie Stelle des Bettes, an der sie Augenblicke zuvor gelegen hatte – wach und im Zwiespalt mit ihren eigenen Gedanken. Doch sie hatte es ihm versprochen und sie würde dieses Versprechen ihm gegenüber nicht brechen. Nicht wieder. Zu oft hatte sie ihre Versprechungen ihm gegenüber nicht halten können.

Doch diesmal sollte es anders sein. Es würde vielleicht das letzte Mal sein, dass sie sich sahen, bevor sie für immer auseinander gingen. Ihre Welten waren zu verschieden, ihre Leben zu weit von dem des jeweils anderen entfernt... Die alten Dielen knarzten leise unter ihren Schritten, als sie sich aus dem Zimmer schlich und vorsichtig die Schlafzimmertür hinter sich schloss. Sie wusste, dass es nicht richtig war, sich davonzustehlen, ohne ihm zu sagen, mit wem sie sich traf. Aber er wäre an die Decke gegangen, wenn sie es ihm erzählt hätte, hätte es ihr vermutlich sogar wieder ausgeredet oder darauf bestanden, mitzugehen.

Ihre blassen Finger schlossen sich um das Treppengeländer, als sie die dunklen Stufen hinunterschritt. Im Flur war es dunkel und still, nur das Ticken der großen Standuhr zu ihrer Rechten war zu hören. Sie schlüpfte in ihre Winterstiefel und zog sich einen Mantel über. Leise schob sie die Haustür auf und schlüpfte nach draußen in die Nacht hinaus.

Es war bereits Mitte März, doch der Wind fegte energisch über die spärlich beleuchteten Straßen von Godric's Hollow hinweg und blies ihr die dunkelroten Haare wild ins Gesicht. Das Dorf lag einsam und verlassen in der stillen Nacht da und nichts regte sich hinter den Fassaden der hübschen, kleinen Häuser, die die holprig asphaltierte Straße umschlossen. Der mitternachtsblaue Himmel war mit abertausenden von Sternen übersäht und die Sträucher vor ihrem Haus bogen sich, als der Wind erneut aufheulte. Eine kleine magere Katze huschte mit eingezogenem Schwanz über die dunkle Straße und verschwand zwischen den Mülleimern des Nachbarshauses.

Es war kalt und Lily Potter klappte den Kragen ihres dunklen Mantels hoch, um sich vor dem aufkommenden Sturm zu schützen. Der Wind zerrte an ihrem Haar. Sie warf einen kurzen Blick zurück auf die Fassade des alten Steinhauses, an dessen Balken bereits der erste Efeu emporkletterte, schloss mit einem leisen Seufzer das kleine Gatter hinter sich und überquerte mit zügigen Schritten die breite Straße.

Der Mond stand silberhell am Himmel und ließ das intensive dunkle Rot ihrer Haare beinahe gespenstisch schimmern. Sie fühlte sich seltsam verlassen, als sie durch die dunklen Gassen und Straßen von Godric's Hollow huschte, in der Hoffnung, dass niemand der hier lebenden Menschen sie bemerkte. War es falsch, sich mit ihm zu treffen? Wieder einmal klopften die Selbstzweifel leise an ihre Tür.

Sie hatte seit Jahren nicht mit ihm gesprochen. Seit Jahren. Und doch... Etwas in ihrem Inneren flüsterte ihr zu, dass es richtig war, dass sie ihn wiedersehen musste. Sie kam nicht umhin, dieses seltsame Gefühl zu missdeuten. Wenn James wüsste, was sie hier trieb, dann-

Das Licht der Straßenlaterne vor ihr flackerte und erlosch. Ihr Herz begann wild zu schlagen. Sie warf einen Blick über die Schulter, doch nichts regte sich in der Dunkelheit hinter ihr.

Sie beschleunigte ihre Schritte und endlich kam die kleine Kirche in Sicht. Er hatte den Treffpunkt bestimmt. Er hatte schon immer einen Hang dazu gehabt, sie mit seiner seltsam einnehmenden, faszinierenden Art zu verwirren. Sie öffnete das Tor des Friedhofs. Das Eisen quietschte leise, doch für Lily war es wie ein Schlag auf Metall in der einsamen stillen Nacht.

Sie wartete. Fast war sie darauf gefasst, dass er nicht mehr auftauchen würde. Nervös blickte sie sich auf dem Friedhof um. Nur der zornige Wind fegte über die Grabsteine hinweg und die Blätter der Bäume raschelten unheilvoll in der rabenschwarzen Nacht um sie herum. Sie lehnte sich mit dem Rücken vorsichtig an den Stamm der Buche hinter ihr. Ihre Hände waren ganz taub vor Kälte und sie schob ihre steifen Finger rasch in die Taschen ihres Mantels.

Er kam zu spät. Lilys Nasenspitze war eiskalt, ihre Lippen und Wangen gerötet von der frostigen Kälte. Etwas bewegte sich zu ihrer Linken. Abwartend hob sie den Blick, doch es war nur ein kleiner brauner Vogel, der sich hierher auf den Friedhof verirrt hatte. Enttäuscht wandte sie sich ab und erhob sich aus ihrer halb sitzenden, halb gegen den rauen Baumstamm gelehnten Position. Er kam nicht. Er hatte sie vergessen.

Ihre Augen brannten. Verwundert wischte sie sich mit dem Handrücken über die Wange. Waren das etwa Tränen? Verdammte Hormone. Verärgert fuhr sie auf dem Absatz herum. Sie würde nicht seinetwegen heulen. Nicht wegen ihm. Doch gerade, als sie sich zum Gehen wandte, die eiskalten Hände tief in den Taschen vergraben und ihren Mantel bis zum Hals zugeknöpft, vernahm sie ein leises vertrautestes Plopp hinter sich.

Sie wirbelte herum. Seine dunkle Gestalt war kaum auszumachen in der Schwärze um sie herum, doch sie war sich sicher: Er war hier. Die schemenhaften Umrisse von Severus Snape schälten sich aus dem Schatten der Nacht heraus.

Lily stockte kurzzeitig der Atem. Er hatte sich verändert, das sah sie schon auf diesen ersten Blick hin. Und obwohl sein Gesicht noch immer halb von der Dunkelheit um sie herum verschluckt wurde, wusste sie, dass er es war.

Er starrte sie an – lange und intensiv. Der Blick seiner schwarzen Augen schien sie zu durchbohren. Sie hatte es einst geliebt, dieses funkelnde berechnende Schwarz seiner Augen. Aber es waren nicht jene Augen, die sie kannte, die sie aus dem Schatten heraus ansahen. Diese Augen hier auf dem stillen Friedhof von Godric's Hollow waren dunkel, tückisch und eiskalt. Sie erinnerten Lily unwillkürlich an lange dunkle Tunnel. Sie wich einen Schritt zurück. Das war ein Fehler.

Ein spöttischer Zug legte sich um seine schmalen Lippen und seine Mundwinkel kräuselten sich jähe in einem Anflug von Häme und Belustigung.

„Hattest wohl gedacht, dass ich nicht mehr auftauchen würde, wie?"

Sie schreckte erneut zusammen und verfluchte sich noch im selben Augenblick dafür. Seine Stimme war noch dieselbe – dunkel, samtig... verlockend. Doch trotzdem klang sie fremd hier an diesem Ort. Es war nicht richtig. Sie hätte sich nicht darauf einlassen sollen.

„Mein Anblick hat dir wohl die Sprache verschlagen?"

Lauernd trat er einen Schritt nach vorn. Diesmal wich sie nicht zurück, aber ihre hellgrünen Augen weiteten sich für den Bruchteil einer Sekunde. Sie musterte sein blasses, schmales Gesicht.

„Nein." Ihre Stimme war ganz brüchig. „Ich hatte nur nicht erwartet, dass du so plötzlich aus dem Schatten heraustreten würdest. Das war echt gruselig, Severus."

Er lächelte. „Hast du mich vermisst?"

Sie erwiderte nichts, sondern fuhr nur fort ihn anzusehen. Auch er betrachtete ihre Gesichtszüge. Beinahe sanft fuhr er mit seinen Fingerspitzen über seine eigene Wange. Verwirrt zog Lily die Brauen zusammen. Es wirkte beinahe so, als würde er durch sie hindurchsehen.

„Ist alles okay?" Der Klang ihrer warmen Stimme schien ihn zurück in die Wirklichkeit zu holen.

Sein Blick war nur auf ihr Gesicht geheftet. Seine Stimme war rau, als er wieder zu sprechen begann. „Ich hatte nur Angst, dass ich vergessen haben könnte, wie dein Gesicht aussieht..."
Lily musterte ihn eindringlich.

„Aber es hat sich nicht verändert. Es sieht noch genauso aus wie damals..."

„Aber du hast dich verändert", sagte sie und ihre Stimme klang mit einem Mal traurig, verletzt.

„Ja, das habe ich in der Tat."

Da war es wieder. Dieses hämische Grinsen, das sich um seine
Züge legte und das Bild der Vertrautheit durchbrach. Er klang beinahe verbittert und als er ihr den Blick wieder zu wandte blieben seine Augen diesmal an ihrem gewölbten Bauch hängen. Nun war er derjenige, der einen Schritt zurückwich.

Seine Lippen formten ein einziges Wort. „Potter", zischte er und seine Augen blitzen gefährlich auf.

Sie stieß einen leisen Seufzer aus. „Ich bin schwanger, Sev."

Er hob drohend die Hand, seine Augen schienen zu glühen. „Nicht!"

Rasch hob sie den Kopf und ihre grünen Augen verengten sich zu Schlitzen. „Weißt du, Snape, das ist eigentlich nicht das, was man üblicherweise zu hören bekommt. Du musst mir ja nicht gleich um den Hals fallen und mir gratulieren, aber", und ihre Stimme war zu einem Wispern geworden, „ich hatte gedacht, dass du nach all den Jahren wenigstens etwas mit der Vergangenheit abschließen konntest..."

Und dann waren sie wieder Teenager. Fünfzehn. Jung. Naiv.

„Potter ist nicht gut genug für dich", zischte Severus und seine langen Finger schlossen sich urplötzlich um ihr Handgelenk. „Ich hatte gehofft, dass..."

„Was?" Wütend entriss sie ihm ihr Handgelenk. „Was hattest du gehofft? Dass ich mich von James getrennt habe? Dass mir Du-weißt-schon-wer plötzlich sympathisch geworden ist? Ich bin nicht wie du, Severus. Ich könnte nie..."

Nun beugte er sich wütend zu ihr hinab. „Was könntest du nie?"

„Ich könnte mich niemals Du-weißt-schon-wem anschließen!" Ihre Brust hob und senkte sich in raschen Abständen und ihre Gesichtszüge wirkten zornverzerrt.

„Woher...?"

„Oh, ich bitte dich, Severus. Hast du im Ernst geglaubt, dass ich es nicht wüsste?" Sie musterte ihn schließlich eindringlich. „Tat es weh? Das Dunkle Mal meine ich..."

Er umschloss in einer plötzlichen Bewegung seinen linken Unterarm und schien es sogleich zu bereuen.

Sie funkelte ihn an. „Ich hätte nur nie gedacht, dass du es wirklich tun würdest. Ich dachte immer, es wäre nur so eine Phase, dass sich das alles legen würde, dass wir wieder..." Ihre Stimme verlor sich in der Nacht.

Er sah sie an. Jähe packte ihn die Hoffnung. „Dass wir wieder...?"

Sie hatte kaum mehr als einen mitleidigen Blick für ihn übrig. „Es ist vorbei, Severus, es ist aus." Wieder strich sie sich mit der Hand über ihren gewölbten Bauch.

Seine schwarzen Augen blickten ungeduldig durch die Dunkelheit zu ihr herüber, glitten über das blasse Gesicht, das dunkelrote Haar... „Ich hätte es getan!"

„Was?" Ihr Interesse war unverhohlen.

„Mich geändert. Für dich." Seine Stimme erstarb.

Ihr Gesichtsausdruck wurde sanft. „Oh, Sev... Aber das hätte doch nichts geändert..."

Sein Blick war eisern.

„Ich liebe ihn. Ich liebe James."

Er presste die dünnen Lippen so fest auseinander, dass sie weiß wurden und sein Blick wanderte unablässig von ihrem Gesicht zu ihrer Hand, an der sich der Ehering wie ein dünnes goldenes Band um ihren schmalen Finger schloss, bis zu ihrem gewölbten Bauch, auf dem die andere Hand sachte ruhte, und die entfernten, kleinen Tritte des Babys wahrnahm. Beschützend, liebend...

Er verkrampfte sich. Sie meinte in seinen Augen Tränen glitzern zu sehen. Doch kaum hatte sie einen zaghaften Schritt auf ihn zugemacht, begann er auch schon auf der Stelle zu wirbeln.

„Nein", schluchzte sie. „Sev, bitte. Geh nicht!" Seine Umrisse verschmolzen mit der Dunkelheit der Nacht. „SEV! Komm zurück." Schluchzend stürzte sie einen Schritt nach vorn. Sie umklammerte den Zipfel seines Umhangs, den sie zufassen bekam. Er durfte nicht gehen, nicht jetzt.

Die verzerrten, wütenden und verletzten Züge seines Gesichtes sahen sie an. „Lass mich los", fauchte er. „Wir zersplintern."

„Nein", keuchte sie und wusste doch, dass er Recht hatte. „Wir sehen uns wieder, ja?" Ihre Stimme klang hoffnungsvoll.

Es brach ihm fast das Herz. Doch ohne ein weiteres Wort befreite er sich aus ihrem klammerartigen Griff und disapparierte.

Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen. Heiße, salzige Tränen Tropften auf den Boden unter ihr. Sie wusste, dass es ihr letztes Treffen gewesen war. Er würde nicht zurückkehren. Es war ein Fehler gewesen heute Nacht hierher zu kommen. Doch sie wusste, dass tief in ihrem Innern ein verborgener, kleiner Teil stets zu Severus gehören würde. Es tat so weh, dass sie kurzzeitig meinte, sie würde vor Schmerz zu zergehen.

Wieder blickte sie auf ihren Bauch hinab. Es war ein Junge, das wusste sie. Sie hatte Severus fragen wollen, ob er der Pate des Babys werden wollte, doch bei seinem verbitterten, fremden Anblick hatte sie die Worte nicht über die Lippen gebracht. Er hätte es wahrscheinlich eh nicht gemacht. Der winzige Teil, der Severus längst verziehen hatte zog sich qualvoll zusammen, als sie dem Friedhof den Rücken zukehrte und ihre Schritte wieder zurück auf die erleuchtete Straße lenkte.

Die Nacht hing rabenschwarz über Godric's Hollow. Leise kehrte sie nach Hause zurück. Die kleine Katze strich noch immer um die Hausecke des Nachbarn, als sie die Gartenpforte aufstieß und in den dunklen Flur des Hauses trat. Im oberen Stockwerk brannte Licht. James kam die Treppe heruntergepoltert, das Gesicht blass vor Sorge.

„Lily!" Er stürmte auf sie zu. „Merlin sei Dank." Er schloss sie in die Arme. „Wo warst du denn?"

Seine Sorge um sie rührte sie. „Spazieren", murmelte sie und schlang ihre Arme um seinen warmen Körper. Sie atmete seinen vertrauten Geruch sein und der Schmerz schien zu verblassen.

„Mitten in der Nacht?" Er runzelte die Stirn. „Wie geht's dem Baby?"

„Gut..." Der Blick seiner haselnussbraunen Augen ließ ihr einen Schauer den Rücken hinunterlaufen.

Er zog sie noch enger zu sich heran und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Ich liebe dich so sehr, Lily", sagte er und sah zu ihr herab.

Er strich ihr eine Strähne dunkelroten Haares aus dem Gesicht. „Ich liebe dich auch", hauchte sie. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihrer Magengegend aus. Sprühend, wie ein Feuerwerk – James.


Was meint ihr? Snily oder Jily? 🙊

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