5. Die Praxis
Opie: Lebst du noch?
Wann kommst du zurück nach Charming?
Wir müssen wirklich dringend reden. Wenn du weiterhin so tun willst, als wäre dir Elli egal, dann wenigstens, weil du immer noch der Vize des Clubs bist.
Clay will darüber abstimmen lassen, ob auch von Elli Schutzgeld verlangt wird. Deine Stimme ist wichtig.
Genervt lief Opie vom Clubhaus zur Werkstatt.
Er mochte Elli. Sie hatte Jax gut getan, Donna hatte in ihr eine tolle Freundin gefunden und auch er selbst sah in ihr eine gute Freundin.
Eine Freundin des Clubs und ein Familienmitglied, die mit jedem klar kam und dem Club schon mehr als einmal geholfen hatte.
Aber der Club war gerade dabei, sie von sich zu stoßen.
Seiner Meinung nach gab es da nichts abzustimmen. Von einem Familienmitglied wurde kein Geld verlangt. Probleme mit den anderen Geschäftsleuten hin oder her.
Hoffentlich würde Jax sich auf seine Nachrichten hin endlich mal melden, am besten sogar vorbeikommen.
Bestimmt würde er die Sache mit dem Schutzgeld auch so sehen.
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Den ganzen Tag über hatte Agent Panad immer wieder Ordner zurück zu Elli ins Büro gebracht. In den fast vier Wochen, die das ATF nun hier die Werkstatt, das Clubhaus und auch Jax' Haus durchsucht hatte, wollten sie auch alle Finanzen und Aufträge der letzten Jahre überprüfen.
Deswegen hatte Elli ihnen alle Ordner in den silbernen Trailer gebracht, der einen Teil des Parkplatzes blockierte.
Doch mit jedem Ordner, der zurück ins Büro und durch Elli wieder an seinen Platz kam, fühlte sie sich ein wenig besser.
Irgendwie hatte die Angst davor, dass etwas gefunden wurde, sich hartnäckig in ihrem Hinterkopf gehalten.
Alle hätten in den Knast wandern können, einschließlich ihr selbst.
Wer hätte ihr schon geglaubt, dass sie von den Geschäften des Clubs nichts wusste?
Von den Waffen, dem Schutzgeld, der Geldwäsche in der Werkstatt...
Selbst wenn man sie mit nichts davon direkt in Verbindung bringen konnte, würde sie sehr wahrscheinlich nicht ungeschoren davonkommen.
Aber das ATF hatte nichts gefunden, wie Clay und auch Jax es ihr schon vor deren Ankunft versichert hatten.
Gleich hatte sie Feierabend, konnte nach Hause gehen und wenn sie am Freitag wieder käme, wäre der Trailer und mit ihm alle Beamten verschwunden.
„Das ist der letzte."
Agent Panad hatte einen grauen, dicken Ordner in der Hand und übergab ihn Elli.
Den PC hatte sie schon heruntergefahren und sie wollte sich gerade von Clay verabschieden.
Schnell stellte sie den Ordner ins Regal, schloss damit die letzte Lücke und schnappte sich ihre Jacke.
„Feierabend?", hakte Agent Panad nach.
Elli nickte nur, während sie sich ihre Tasche über die Schulter hängte.
Der Agent trat bereits durch die Bürotür, blieb dann jedoch stehen und drehte sich nochmal zu ihr um.
„Sie waren die letzten Donnerstage am College, wahrscheinlich also auch morgen wieder. In dem Fall werden wir uns wahrscheinlich nicht mehr sehen." Er fuhr sich über die kurzen Haare seines Bürstenschnitts. „Mir und meinen Männern ist Ihre Trennung von Jackson Teller nicht entgangen. Sie werden es mir wahrscheinlich nicht glauben, aber ich meine es gut mit Ihnen. Nutzen Sie diese Chance und verlassen den Club. Lassen Sie alles hinter sich, bevor sie in Dinge gerissen werden, für die Sie nicht verantwortlich sind."
Nur schwer konnte Elli ein Schnauben vermeiden. Was bildete sich dieser Agent überhaupt ein?
Er hatte doch keine Ahnung.
Aber es lohnte sich nicht, ihm irgendeinen Spruch vor den Latz zu knallen.
Sie war viel zu müde, um sich auf ein Wortgefecht einzulassen.
Stattdessen nickte sie leicht. „Dann sind wir uns wohl einig, dass wir es bei einem auf nimmer Wiedersehen belassen."
Ohne eine Erwiderung abzuwarten, schob sie sich an ihm vorbei, zündete sich eine Zigarette an und lief rüber, zu den geöffneten Werkstatttoren.
Wenige Minuten später saß Elli in ihrem Auto und fuhr zur Praxis.
Am nächsten Tag wollte sie nach dem College noch im Einkaufszentrum in Stockton vorbei. Für die Praxis brauchte sie noch Handtücher, ein wenig Deko und noch einiges aus dem Schreibwarenladen.
Am Samstag würde der Empfangstresen geliefert und aufgebaut werden, dazu zwei Bücherregale, für die Wand dahinter.
Wie die beiden Beistelltischchen, die Elli für den Wartebereich bestellt hatte, waren die Möbel weiß. Nur die gepolsterten Stühle, insgesamt vier Stück, waren schwarz.
Für ein wenig Farbe und Abwechslung wolle sie mit Bildern an den Wänden sorgen.
Am großen Schaufenster hatte sie eine blickdichte, weiße Gardine angebracht, sodass niemand einen neugierigen Blick auf die Wartenden werfen konnte.
Den Raum zwischen Scheibe und Gardine, so breit wie der Fenstersims, wollte sie mit Blumen verschönern.
Links und rechts je ein Drachenbaum, dazwischen vielleicht ein paar Orchideen.
Alessa hatte von einem Buddha gesprochen, der sich ebenfalls gut im Schaufenster machen würde. Allerdings war sich Elli dabei noch nicht sicher. So ein goldenes Teil wollte sie auf jeden Fall nicht, vielleicht einen aus Stein.
Sie würde die Augen offenhalten.
Wie jedes Mal parkte Elli auf dem großen öffentlichen Parkplatz im Zentrum.
Sie musste nur die Hauptstraße überqueren, am 99Cent-Laden rechts abbiegen und war schon in der schmalen Gasse, in der ihre Praxis lag.
Sie mochte die schnuckligen Häuser hier und das Kopfsteinpflaster.
Vielleicht lag es daran, da die Räumlichkeiten ein wenig versteckt lagen, dass sich anscheinend niemand außer ihr dafür interessiert hatte. Dennoch war sie überrascht gewesen, dass sie das Objekt bekommen hatte, und dann noch zu einem wirklich guten Preis.
Vielleicht hatte auch Jax oder der Club seine Finger im Spiel gehabt. Darauf angesprochen hatte sie ihn nicht, denn letztlich war es egal.
Es war ihre Praxis, ihr Traum, der sich in weniger als drei Wochen verwirklichen würde.
Irritiert sah sie auf den Briefumschlag, den sie aus dem Briefkasten genommen hatte. Laut dem Absender war er von Mister Finely, ihrem Vermieter.
Schnell schloss sie die Türe auf, ging hinein und riss den Umschlag auf.
Ungläubig las sie die wenigen Zeilen.
Das war doch lachhaft.
Eine Beschwerde der zwei Mietparteien über ihrer Praxis, weil es aus der Mülltonne nach Fäkalien stank.
Was hätte sie den tun sollen?
Die Schweinerei von ihren Fensterscheiben in eine Tüte packen und mit nach Hause nehmen?
Selbst Mister Finely hatte dazu geschrieben, dass er von dem Vorfall wusste und es natürlich verstand, dass sie alles in der gemeinsamen Mülltonne entsorgt hatte, aber er musste die Beschwerde weitergeben.
Genervt packte Elli das Schreiben zurück in den Umschlag, faltete ihn zusammen und steckte ihn in ihre Jackentasche.
Auf Ärger mit den Anwohnern konnte sie gut verzichten.
Der Anrufbeantworter zweigte zwei neue Nachrichten an. Darauf hoffend, dass sie dabei bessere Neuigkeiten erhielt, hörte sie diese ab.
Immerhin eine neue Terminanfrage für den Yogakurs von Alessa.
Der zweite Anruf war von einem Vertreter für Nahrungsergänzungsmittel, der sich gerne mit ihr unterhalten wollte, denn seiner Meinung nach gehöre zu einem gesunden Körper auch gesunde Ernährung.
Den Anruf für Alessa nahm sie als Sprachnachricht auf und leitete ihn weiter, den anderen löschte sie.
Zwar würde sie in ihrer Praxis ein paar Dinge verkaufen, die ihre Patienten für Übungen zuhause nutzen konnten. Da dachte sie aber eher an Terrabänder, Massagebälle, Physiotape und Massageöle, nicht an irgendwelche Mittelchen und Pülverchen.
Auf dem Weg zurück zu ihrem Auto meldete sich ihr Handy.
Sicher Alessa, dachte sie und erinnerte sich daran, dass sie selbst noch nach einer Yogastunde fragen wollte, doch sie hatte sich geirrt.
Es war die T-M Gruppe, Clay, der zur Party am Freitagabend einlud. Dass das ATF dann abgezogen wäre, musste würdig gefeiert werden.
Zudem schrieb Gemma kurz darauf, dass sie am Freitag ebenfalls ein Familienessen geplant hatte.
Sofort flammten Erinnerungen auf.
Die gemütlichen Familienessen, bei denen sich Gemma jedes Mal selbst übertroffen und Elli gedacht hatte, sie müsse aus dem Haus gerollt werden, weil sie so viel gegessen hatte.
Netten Gespräche, tolle Stimmung und Zusammenhalt.
Die vielen Partys.
Wild, aufgeheizt, alkoholgeschwängert.
Der Club wusste, wie man richtige Partys schmiss.
Aber bisher war auch jedes Mal Jax dabei gewesen. An ihrer Seite.
Seufzend schob sie ihr Handy zurück in ihre Jackentasche.
Jax.
Was er wohl gerade machte?
War er allein?
Dachte er auch noch an sie? Wenigstens manchmal?
Schon so oft hatte sie sich das gefragt, wünschte sich Antworten, obwohl sie gleichzeitig Angst davor hatte.
Wie lange würde er wohl noch in Nevada bleiben?
Heute hatte sich die Arbeit ein wenig besser angefühlt, sie hatte diese als Ablenkung empfunden, nicht nur als Last.
Das aufgesetzte Lächeln fiel ihr immer leichter und durch das ATF hatte sie mehr zu tun gehabt als sonst.
Wie wäre es aber, wenn Jax wieder da war?
Vielleicht schon am Freitag oder nächste Woche.
Sie versuchte die Gedanken daran zu verdrängen, die Tränen zurückzuhalten und den Schmerz wieder wegzusperren.
Es reichte schon, wenn ihre Gefühle bei ihr Zuhause die Oberhand gewannen.
Und das würden sie mit Sicherheit.
So wie jedes Mal seit Freitagabend, wenn sie allein war.
Wenn nichts sie ablenken konnte, sich ihre Gedanken verselbständigten, die Erinnerungen sie überrollten und sich der Schmerz nicht mehr zügeln ließ.
Wenn sie sich nichts sehnlicher wünschte, als in Jax' Armen zu liegen und sich der Illusion hingab, genau dies eines Tages wieder tun zu können.
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