27. Auf Kaution frei
„Ja?"
Jax kannte die anrufende Nummer nicht, aber wenn ihm jemand auf seinem Clubhandy anrief, musste es wichtig sein.
Irritiert bemerkte er, dass sich eine mechanische Frauenstimme meldete.
„Dies ist ein Anruf des Frauengefängnis Lodi. Die Inhaftierte... „
„Elli", hörte er ihre leise Stimme und ein eiskalter Schauer überlief ihn.
„... versucht Sie zu erreichen. Dieser Anruf ist für Sie kostenlos und kann abgehört werden. Wollen Sie das Telefonat annehmen, bleiben Sie in der Leitung."
Es tutete einmal, dann war es still.
„Hallo?", fragte Jax nach einer Sekunde.
„Jax? Ich bins, Elli."
„Scheiße Elli, warum bist du im Knast?" Es war für ihn unvorstellbar, dass gerade Elli eingebuchtet worden sein sollte.
„Es tut mir leid, dass ich dich störe, aber ich brauche Donnas Nummer", sagte sie nach einem Moment und überging seine Frage damit.
Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen und ihre Worte lösten eine unangenehme Gänsehaut aus. Er wollte derjenige sein, den sie um Hilfe bat und ihr nicht nur Donnas Nummer geben.
Und er würde ihr helfen.
„Bist du in der Aufnahme oder schon im Vollzug?"
„In der Aufnahme, warum?"
Er hörte ihr an, dass sie mit dieser Frage nicht gerechnet hatte und sicher biss sie sich gerade unsicher auf die Unterlippe.
„Weil du dann keinen Stift hast, um die Nummer aufzuschreiben." Dabei sprach er leider aus Erfahrung. Und er wusste auch, dass Elli dann nochmal anrufen konnte. „Ich fahr zu ihr, ruf in fünf Minuten wieder an, dann kannst du mit ihr reden"
Er zog sich nebenher bereits die Schuhe an und verließ sein Haus.
„Ich kann mir die Nummer auch merken. Du musst nicht ext..."
„Mach ich aber", unterbrach er sie. „Ich bin praktisch schon unterwegs."
Er hörte sie durch die Leitung hindurch tief durchatmen, glaubte es war ein erleichtertes Aufatmen, denn dann bedankte sie sich, bevor sie auflegte.
Doch das leichte Glücksgefühl, das ihn durchströmte, weil sie seine Hilfe annahm, hielt nur den Bruchteil einer Sekunde an.
Schnell schwang er sich auf sein Bike und fuhr Sekunden später vom Hof.
🏍🏍🏍🏍🏍🏍🏍
Die fünf Minuten zogen sich und Elli sah alle paar Sekunden auf die runde Uhr über den Telefonen. Es war schon nach Mitternacht.
Das Chaos in ihrem Kopf wollte keine Ruhe geben und mit einem dicken Kloß im Hals wählte sie erneut Jax' Nummer.
Wieder bekam sie gesagt, dass die Verbindung hergestellt und der Angerufene zuerst darüber aufgeklärt wurde, wer da anrief, weshalb sie ihren Namen nennen musste. Dann nach weiteren Sekunden kam endlich das Freizeichen gefolgt von Jax' Stimme.
„Hey, ich geb dir Donna jetzt."
„Danke, Jax." Ob er es gehört hatte, wusste sie nicht genau, vielleicht hatte er sein Handy schon an Donna weitergereicht, denn er erwiderte nichts darauf.
Dafür hörte sie eine besorgt klingende Donna. „Mein Gott Elli. Was ist los? Warum wurdest du festgenommen? Wie geht's dir?"
„Soweit gut", antwortete Elli. „Aber könntest du mir helfen?"
„Natürlich, was soll ich tun?"
„Du musst zu mir nach Hause fahren. Im Büro in der obersten Schreibtischschublade liegt ein Umschlag mit Geld. Die Kaution beträgt 17350 Dollar", erklärte Elli. „Kannst du das Geld nach Lodi ins Gefängnis bringen und mich abholen?"
„Deine Kaution ist so hoch? Was wird dir vorgeworfen?", fragte Donna aufgeregt.
„Können wir das besprechen, wenn du mich rausgeholt hast?" Elli war Donna dankbar, dass diese ihre Hilfe zugesagt hatte und das mitten in der Nacht, trotzdem wollte sie gerade nicht darüber sprechen, hatte es selbst noch nicht wirklich verstanden.
„Klar, ich beeil mich. Das Frauengefängnis in Lodi, 17350 Dollar, ein Geldumschlag in der obersten Schreibtischschublade. Ich komm so schnell ich kann", versicherte Donna.
„Danke." Vor Erleichterung rollten Elli ein paar Tränen über die Wangen.
Donna würde sich beeilen und sie hier rausholen. Selbst wenn es noch eine Weile dauerte, würde sie nicht die ganze Nacht hier in dieser Zelle verbringen müssen.
Es dauerte fast noch eineinhalb Stunden, bis Elli aus der Zelle gerufen wurde. Doch so schnell kam man aus einem Gefängnis anscheinend nicht heraus.
Es war die gleiche Beamtin, die schon zuvor am Schreibtisch saß. Dennoch musste sie erneut ihren Damen auf den Fingerabdruckscanner legen, warten, bis ihre Akte geladen wurde und sie irgendwelche Entlassungspapiere vorgelegt bekam.
Diese musste sie unterschreiben und damit zusagen, dass sie sich täglich persönlich im Polizeirevier in Charming vorstellte.
Dann wurde sie von einem Beamten in Richtung Ausgang gebracht. An einer Durchreiche hielten sie an.
Die Beamtin auf der anderen Seite schob ihr einen Beutel mit ihren wenigen Habseligkeiten zu.
„Bitte erst nach Verlassen des Gebäudes öffnen. Schäden, die entstehen, wenn sie das Siegel noch im Gebäude öffnen, werden nicht übernommen. Die Entnahme von Gegenständen, die als Waffe eingesetzt werden könnten, während sich ein Beamter in Ihrer Nähe befindet, wird als versuchter Angriff gewertet und strafrechtlich verfolgt", ratterte sie runter.
Elli nahm den Beutel nickend an sich, dann folgte sie dem Beamten weiter, bis zur Eingangstüre.
Er öffnete ihr die Türe und lief dann grußlos zurück.
Elli war es egal, sie atmete tief die frische Nachtluft ein und lief dann nach rechts zu dem großen Parkplatz, auf dem Donna sicherlich auf sie wartete.
Nicht nur Donna wartete auf sie, sondern auch Opie und Jax.
Sofort wollten sie wissen, was Elli vorgeworfen wurde und wie sie in Lodi im Knast gelandet war.
Mit Blick auf Jax' brennende Zigarette fragte sie, ob sie auch eine haben könnte. Als sie dann den ersten Zug genommen hatte, fing sie an zu reden.
„Zwei Polizisten haben geklingelt und mich festgenommen. Sie haben mich direkt nach Lodi gebracht und es hat ewig gedauert, bis ich erfahren hab warum. Sexueller Übergriff. Keine Ahnung, was ich getan haben soll. Ich versteh es echt nicht."
„Sexueller Übergriff?" Donna sah sie so entsetzt an, wie sie wahrscheinlich die Beamtin angesehen hatte.
Aber Elli zuckte nur mit den Schultern. Es ergab einfach keinen Sinn, denn seit ihrer Trennung von Jax hatte sie nicht mal mehr einen Mann geküsst.
„Von wem kommt die Anzeige?", wollte Opie wissen.
Doch auch das wusste Elli nicht. „Hat man mir nicht gesagt. Aber ich muss jeden Tag persönlich auf dem Polizeirevier antanzen und werde Unser Morgenfrüh gleich fragen."
„Das muss doch ein Missverständnis sein", glaubte Donna und nahm Elli tröstend in den Arm. „Du bist ja ganz kalt. Raucht fertig und steigt ein, im Auto ist es wärmer."
„Zieh den an." Jax hatte seinen Hoodie ausgezogen und hielt in Elli entgegen. „Bitte. Und nein, ich brauch ihn nicht selbst, sonst hätte ich es nicht angeboten."
Dankend nahm Elli ihn an, erwiderte dabei Jax' Lächeln und schlüpfte hinein.
Sofort hatte sie den Duft von Jax' Parfüm in der Nase und seine Wärme hüllte sie ein. Ein Gefühl der Vertrautheit überkam sie und sie ließ es zu, dass sie sich deshalb besser fühlte.
Sie hatte Hilfe gebraucht und Jax war dagewesen.
Diesen Trost brauchte sie gerade, egal was morgen kommen würde.
Im Auto herrschte bedrücktes Schweigen.
Elli lehnte ihren Kopf gegen die Fensterscheibe und schloss die Augen. Sie war müde und würde sehr wahrscheinlich trotzdem nicht schlafen können.
Das sie nicht wusste, was genau ihr vorgeworfen wurde und von wem, machte sie ganz kirre.
Sollte sie vielleicht jetzt gleich auf dem Revier vorbei gehen?
Würde sie dort jetzt eine Auskunft bekommen?
Unsers Dienst begann erst um acht Uhr morgens, mit jemand anderen wollte sie eigentlich nicht darüber sprechen. Bei Unser wusste sie immerhin, dass er die Sache wirklich vertraulich behandelte.
Sprach sich ihre Anklage in Charming herum, konnte sie die Praxistüre schließen und den Schlüssel wegwerfen, sie würde ihn sicherlich nicht mehr brauchen. Wer würde sich schon von einer Sexualstraftäterin behandeln oder massieren lassen?
Und wieder sah sie die fett gedruckte Anklage vor sich- sexueller Übergriff- weshalb sie schnell die Augen aufriss.
Donna fuhr, Opie saß auf dem Beifahrersitz und sah durch die Windschutzscheibe nach vorne. Jax saß hinten bei Elli, starrte auf sein Handy und schien in Gedanken zu sein.
Sein Gesicht wurde lediglich vom Display seines Handy erhellt und Elli konnte seinen Ausdruck mal wieder nicht genau deuten.
Wenn sie sich festlegen müsste, würde sie ihn wohl als verbissen beschreiben.
Die Augen etwas zusammengekniffen, die Lippen so fest aufeinandergepresst, dass sie wie dünne Linien wirkten, als würde er über einem Problem brüten.
Vielleicht wartete er aber auch nur auf eine Nachricht.
Von einer anderen Frau?
Genervt wandte sie den Blick von ihm ab und sah wieder nach draußen in die Dunkelheit.
Sie steckte gerade in den wohl größten Schwierigkeiten ihres Lebens und war schon wieder eifersüchtig, das war doch nicht normal.
Gegen die Tränen, die ihr plötzlich in die Augen schossen, konnte sie nichts tun.
Gerade war ihr alles zu viel.
Sie wollte sich am liebsten in irgendeinem Loch verkriechen, all ihre Probleme, Gedanken und Sorgen draußen lassen und nie mehr hervorkommen.
Wie konnte sich ihr Leben nur innerhalb eines knappen Monats derart auf den Kopf stellen?
Endlich zuhause konnte sich Elli wenigstens in ihrem Bett verkriechen.
Donna und Opie hatten angeboten, bei ihnen zu übernachten, aber sie wusste, dann würden die beiden ebenso wenig schlafen wie sie selbst und auch sie beide mussten am nächsten Morgen zur Arbeit.
Natürlich hatte sie aber zugesagt, sich zu melden, sobald sie mit Unser gesprochen hatte.
Bis zu dessen Dienstbeginn waren es noch ungefähr fünf Stunden, die Elli irgendwie mit ihren eigenen Gedanken überstehen musste.
🏍🏍🏍🏍🏍🏍🏍
„Die Sache stinkt doch zum Himmel."
Jax fuhr sich aufgebracht durch die Haare. Er hatte sich mit Opie noch für ein Bier zusammengesetzt, Donna war gleich ins Bett gegangen.
„Warum lief die Festnahme nicht über Unser oder Hale? Warum wurde Elli direkt von den Bullen aus Lodi festgenommen?"
„Warum wurde sie überhaupt festgenommen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Elli jemanden belästigt", entgegnete Opie.
Jax schüttelte den Kopf. „Niemals." Er nahm noch eine Schluck von seinem Bier. „Trotzdem steckt sie bis zum Hals in der Scheiße."
„Willst du die Sache in den Club bringen?"
Dabei war sich Jax noch nicht sicher. „Wir müssen zuerst wissen, was genau ihr vorgeworfen wird. Davor sollten die Jungs nichts davon erfahren."
Schnell hatte Jax sein Bier geleert und sich verabschiedet.
Es war keine bewusste Entscheidung gewesen, aber wie selbstverständlich war er den kleinen Umweg gefahren. An Ellis Haus vorbei.
Dabei war es ihm diesmal egal, ob sie ihn hörte. Vielleicht wäre es sogar ganz gut, wenn sie ihn bemerkte. Er wollte für sie da sein, wenn sie es zuließ.
Doch in Ellis Haus war es dunkel und es tat sich auch nichts, während er langsam vorbeifuhr.
Schon bevor er kurz drauf auf den Werkstatthof fuhr und zu seinem Haus lief, hatte er einen Entschluss gefasst.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top