6. Dezember: Unterschwellige Spannungen

Der Rest des Tages verging in einer eigenartigen Mischung aus normalem Schulalltag und der stillen Nachwirkung des magischen Moments unter den Eiszapfen. Harry hatte das Gefühl, dass etwas in der Luft lag, etwas, das er nicht recht greifen konnte. Draco hatte ihn nach ihrem kleinen Ausflug nicht weiter angesprochen, doch seine kühle Distanz schien eine neue, schwer fassbare Facette bekommen zu haben – weniger scharf, weniger abweisend.

Als das Abendessen in der großen Halle nahte, bemerkte Harry, wie unruhig er war. Seine Gedanken wanderten immer wieder zu den leuchtenden Eiszapfen und Dracos unerwartet sanften Worten zurück. Er versuchte, das Gefühl abzuschütteln, indem er sich mit Ron und Hermine unterhielt, doch selbst ihre vertrauten Stimmen konnten die aufkommenden Gedanken nicht ganz vertreiben.

Die große Halle war in warmes, goldenes Licht getaucht, als die Schüler eintrafen. Die Tische waren wie immer reich gedeckt, und eine leise, beruhigende Magie durchzog den Raum, während die Kerzen über den Köpfen der Anwesenden schwebten.

Harry setzte sich wie gewohnt neben Ron und Hermine an den Gryffindor-Tisch, doch seine Augen wanderten unweigerlich zu Draco, der am Slytherin-Tisch saß. Malfoy wirkte wie immer elegant und unnahbar, doch Harry meinte, eine Spur von Unruhe in seinen Bewegungen zu erkennen, als hätte auch er noch nicht ganz die seltsamen Ereignisse des Tages verdaut.

„Harry?" Hermines Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Sie sah ihn fragend an, während sie ihr Besteck beiseitelegte. „Alles in Ordnung? Du wirkst heute so abwesend." „Hm?" Harry blinzelte und nickte hastig. „Ja, klar. Nur ein bisschen müde." „Müde?" Ron grinste und schob sich ein Stück Braten in den Mund. „Vielleicht solltest du weniger über Malfoy nachdenken. Der Typ ist Gift, Harry." Harry errötete leicht, obwohl er keine Ahnung hatte, warum. „Ich denke nicht über Malfoy nach!"


„Klar." sagte Ron, doch seine Augen funkelten vor Belustigung.


Hermine seufzte und warf Ron einen missbilligenden Blick zu, bevor sie das Thema wechselte. Doch Harry hörte kaum zu. Seine Aufmerksamkeit wurde von einer Bewegung am Slytherin-Tisch abgelenkt: Draco stand auf und ging in Richtung der Tür. Harry beobachtete ihn, ohne es wirklich zu wollen, bis er aus dem Raum verschwunden war.

Nach einer Weile entschuldigte sich Harry bei seinen Freunden und verließ die Halle. Er wusste selbst nicht genau, warum, aber irgendetwas trieb ihn dazu, Draco zu folgen.


                                                                                                ***

Im  Korridor vor der großen Halle war es ungewöhnlich ruhig. Die Fackeln an den Wänden warfen flackernde Schatten, die die Steinmauern in ein warmes Licht tauchten. Harry ging einige Schritte, dann hielt er inne, als er Draco am Ende des Flurs stehen sah.

„Malfoy?" fragte er, seine Stimme leicht zögernd.

Draco drehte sich um, die Überraschung in seinen grauen Augen war nur für einen Moment zu erkennen, bevor sein gewohnt spöttischer Ausdruck zurückkehrte. „Potter. Bist du mir etwa gefolgt?"

„Vielleicht." Harry verschränkte die Arme vor der Brust. „Was machst du hier draußen?"

„Manchmal ist die große Halle einfach zu laut." erwiderte Draco mit einem leichten Schulterzucken. „Nicht jeder mag den Trubel so sehr wie du und deine kleine Gryffindor-Clique."

„Das erklärt immer noch nicht, warum du hier stehst," konterte Harry, obwohl er wusste, dass es keinen wirklichen Grund gab, ihn zur Rede zu stellen.

Draco sah ihn lange an, dann seufzte er und lehnte sich gegen die Wand. „Manchmal hilft es, allein zu sein. Du solltest es mal ausprobieren, Potter."

„Allein zu sein ist nicht immer die Lösung." Harry trat näher, ohne wirklich zu merken, dass er es tat. „Manchmal hilft es, wenn man mit jemandem redet."

„Und du glaubst, dass ich ausgerechnet dir etwas anvertrauen würde?" Draco hob eine Augenbraue, doch seine Stimme klang weniger schneidend, als Harry erwartet hatte. „Vielleicht nicht. Aber du hast mir heute die Eiszapfen gezeigt. Warum?"

Draco hielt inne, sein Blick suchte Harrys Gesicht. „Weil ich sehen wollte, ob du tatsächlich mehr bist als der glorifizierte Held, den alle in dir sehen. Vielleicht bist du es. Vielleicht aber auch nicht."

Harry runzelte die Stirn. „Und? Was denkst du?"

Dracos Lippen verzogen sich zu einem kaum sichtbaren Lächeln. „Ich denke, du bist zumindest interessanter, als ich erwartet hätte."

Die Worte trafen Harry unerwartet, und für einen Moment standen sie sich einfach nur gegenüber, während die Stille des Korridors von einer unterschwelligen Spannung durchzogen wurde. Harry wusste nicht, ob er antworten sollte, doch bevor er es konnte, schüttelte Draco den Kopf und wandte sich zum Gehen.

„Draco." sagte Harry leise, und das bloße Sprechen seines Vornamens ließ den anderen Schüler innehalten.

„Was, Potter?" fragte Draco, ohne sich umzudrehen.

„Vielleicht bist du auch interessanter, als ich gedacht hätte." murmelte Harry, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern.

Draco drehte sich nicht um, aber Harry konnte sehen, wie seine Schultern sich ein wenig entspannten. Ohne ein weiteres Wort ging Draco den Flur hinunter, und Harry blieb allein zurück, unsicher, was dieser Moment bedeutete, aber mit einem seltsamen Kribbeln im Bauch, das er nicht ignorieren konnte.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top