Prioritäten sind oft gar nicht so einfach
"Schwesterherz! Was ist geschehen? Jade! Rede doch mit mir! Was ist los?" Mati klang irgendwie besorgt. Sehen, was er gerade tat, konnte ich nicht, denn ich bekam diese klebrigen Haare von meinem verheulten Gesicht nicht mehr ab, ohne mein Make-Up noch schlimmer zu machen. Ich begann wieder zu schluchzen. Wieso machten mir eigentlich alle das Leben so schwer? Jetzt musste ich auch noch erklären, was passiert war!
"Jade! Meine kleine Schwester, wo bist du schon wieder hineingeraten?" Obwohl er es bestimmt nett meinte, brachten mich seine Worte wieder zum Heulen. Wieso war Mati nur so gefühllos? Wieso dachte er immer gleich, ich hätte irgendetwas angestellt?
Laut schluchzend ließ ich mich neben ihm auf die Couch sinken. Der Tag heute war so abscheulich gewesen, dass ich mir zum ersten Mal seit Jahren wünschte, einfach nur auf der Stelle einzuschlafen und nicht mehr denken zu müssen.
Plötzlich nahm mich Mati in den Arm, anstatt wieder irgendetwas zu fragen, auf das ich keine Antwort fand. Vorsichtig streichelte er mir über den Kopf, den ich an seine Schulter lehnte. Manchmal war er doch eigentlich ein ganz toller Bruder.
Nachdem wir still dagesessen hatten, ging es mir wieder ein wenig besser. Es hätten Minuten oder Stunden sein können, in denen wir nicht redeten - mein Zeitgefühl war auch ohne die Verwirrung nie wirklich in Ordnung gewesen. Erst als ich keine Tränen zum Ausweinen mehr in den Augen hatte, wurde ich wieder ruhig.
"Sehe ich wirklich so schlimm aus?", fragte ich schließlich und sah Mati, so gut es mit den Fusseln im Gesicht ging, an.
Er legte den Kopf schief. "Soll ich ehrlich sein?"
Mit wurde wieder so schlecht, dass ich irgendwo doch noch ein paar Tränen zum Ausheulen fand.
"So schlimm ist es auch nicht. Gleich wäschst du deine Haare, schminkst dich neu und richtest das Kleid ein wenig her, dann ist alles wieder in Ordnung. Hier ist es sowieso nicht wichtig, wie perfekt dein Outfit ist, immerhin gibt es hier keine wichtigen Menschen, die du beeindrucken musst. Und bis wir zurück nach Buenos Aires fahren, wo du dir deinen Millionär angelst, hast du genug Zeit für ein ordentliches Make-Up und eine Maniküre."
Schon wieder begann ich zu weinen. Wieso erinnerte er mich immer daran, dass ich eines Tages heiraten würde? Zwar hatte das letzte Blumenblatt auch gesagt, dass ich ihn lieben würde, aber woher wusste ich, ob mein ehemaliger Verlobter damit gemeint war? Woher wusste ich, ob ich vielleicht doch ein ganz kleines bisschen Hugo mochte? Vielleicht liebte ich sie sogar beide ... Oder vielleicht keinen? Wieso nur wusste ich nicht mehr, wen oder was ich wollte?
"Wäre es schlimm, wenn ich ihn nicht mehr liebe?" Ich wusste nicht, weshalb ich die Frage stellte, aber ich wollte unbedingt eine Antwort bekommen. Und wenn ich nicht mit Mati reden konnte, mit wem dann?
Er schien selbst nicht sonderlich klug zu sein, denn ziemlich lange kam keine Antwort. "Besser als verhaftet zu werden, wenn wir nach Buenos Aires zurückgehen." Er ließ mich los und lehnte sich weit zurück und grinste. "Eine Villa auf einer kleinen Insel, das Essen wächst an jedem Baum ..."
"Mati!" Ich war entsetzt. Ich stellte meinen gesamten Lebenssinn infrage und er dachte wieder nur ans Essen!
"Ich habe Hunger, Jade! Aber erst einmal übernehme ich das Denken für dich, dann bringst du dein Aussehen wieder in Ordnung und ich gehe bei Hugo einen kleinen Happen essen."
Wieso schaffte er es immer, meine wenigen Gedanken immer auf das zu bringen, woran ich auf keinen Fall denken wollte? Wieder lief mir eine Träne über die Wange; woher ich das ganze Wasser nahm, wusste ich nicht, denn ich hatte seit heute früh nichts getrunken.
"Nicht weinen, Schwesterchen! Ich kann auch später essen gehen, wenn du mir den Bonbon aus deiner Handtasche abgibst." Er sah mich wieder aus seinen großen lieben Augen an, also gab ich ihm einfach die Tasche herüber. Gierig kramte er nach dem kleinen Bonbon, warf ihn in die Luft und fing ihn mit dem Mund auf. Typisch Mati, er konnte auch niemals jeder andere einfach dann etwas essen, wenn es gerade gut passte.
"Ich muss an so viel Wichtiges denken! Ich muss schön sein, ich muss heiraten, ich muss arbeiten ..."
"Also das mit dem Arbeiten kannst du bald vergessen. Sobald wir auf einer hübschen kleinen Insel sind, kannst du den ganzen Tag deine Wimpern tuschen und deine Nägel lackieren." Er grinste wieder so begeistert. Was hatte er nur immer mit diesen Inseln?
"So lange brauche ich auch nicht für meine Nägel. Und außerdem mag ich arbeiten!"
Er sah wieder zu mir herüber und runzelte die Stirn, was ihm gar nicht stand. "Manchmal frage ich mich wirklich, wie wir verwandt sein können."
"Was heißt das schon wieder?" Wieso sagte er immer solche Sachen, die ich beim besten Willen nicht verstand? Natürlich waren wir verwandt und deshalb sollte ich auch wichtiger für ihn sein als alles Essen und alle kleinen Inseln dieser Welt!
Er gab keine Antwort sondern zeigte auf den Bonbon in seiner Backe und tat so, als wäre er zu sehr mit essen beschäftigt. Als ich schon eingeschnappt meine Handtasche auf ihn werfen wollte, fing er endlich an zu reden. "Was ist eigentlich mit deiner Modenschau morgen?"
"Morgen schon? Aber wieso? Das sind doch erst ... " Ich dachte nach. Wann war ich noch einmal auf diese Idee gekommen und hatte ich wirklich gesagt, es wäre morgen?
"Die Modenschau ist morgen! Und irgendwann müssen wir sowieso die Koffer aus dem Kofferraum holen." Für ihn war das natürlich so leicht wie immer. Wenn man so dämlich war wie er, konnte man aber auch keine großen Sorgen haben.
"Ich werde die Koffer nicht holen." Solange ich keine Lösung für mein Problem hatte, wollte ich Hugo auf gar keinen Fall begegnen.
"Dann mache ich das, du kannst in der Zeit schon einmal dein Gesicht in Ordnung bringen." Er war schon beim Aufstehen, als ich meinen Arm ausfuhr und ihn zurück aufs Sofa schmiss.
"Du gehst nicht! Und du sprichst kein Wort mehr mit diesen abscheulichen Hugo García!" Mati würde bestimmt alles nur viel schlimmer machen, als es jetzt schon war. Und bei all den anderen Sachen, konnte ich mich jetzt auf keinen Fall auch noch um ihn kümmern.
"Was hat er denn getan?" Konnte mein Bruder nicht ein einziges Mal einfach akzeptieren, was ich sagte, ohne blöde Fragen zu stellen? Kurz überlegte ich, ob ich ihm die Wahrheit sagen sollte, anstatt wieder eine ewig lange Diskussion zu führen.
"Er wollte mich küssen!" Mati starrte mich schockiert an.
"Aber ich bin schließlich verliebt und verlobt." Er legte den Kopf kurz schief.
"Und eigentlich sollte er sowieso vorher fragen." Mati nickte.
"Außerdem bin ich wegen ihm nach hinten gefallen und deswegen ist mein Kleid dreckig, weshalb ich so weinen musste und weshalb mein Make-Up und meine Frisur nun auch kaputt sind." Dann machte ich eine Pause, um irgendeine vernünftige Reaktion zu bekommen.
"Du hast ihn vermutlich geschlagen, oder?" Hatte er es gesehen oder wieso wusste er Bescheid?
"Natürlich habe ich das! Immerhin bin ich wegen ihm umgefallen." Er schien wieder entsetzt.
"Und was machen wir, wenn er das Auto nicht mehr reparieren will? Wie kommen wir dann von hier weg?" Typisch Mati, nie dachte er an mich.
"Das ist mir egal. Ich will ihn nie wieder sehen!"
"Aber wieso denn? Stell dir doch einmal vor: Jade García, Besitzerin des 'Restaurante de la Ciudad de los Caballos'. Und wenn er schon jetzt verliebt ist, dann könntest du bald die Traumhochzeit bekommen, die du immer wolltest."
Erst konnte ich es gar nicht fassen, doch nach ein paar Sekunden stellte ich es mir schon bildlich vor. Ein wunderschönes Brautkleid, die ganze Stadt ist zu Gast bei der Hochzeit und ich bekomme einen riesigen Diamantring - obwohl, konnte Hugo mir überhaupt so einen teuren Ring kaufen? Ich verstand zwar nicht viel von Geld, aber konnte ein Restaurant so viel einbringen?
"Schwesterherz, worüber denkst du nach?", kam prompt die Rückfrage.
"Meinst du, er kann mir einen Diamantring kaufen? Ich meine einen richtig großen, größer als der bei meiner letzten Verlobung." Ohne einen Diamanten würde ich so etwas wie eine erneute Verlobung gar nicht erst in Betracht ziehen.
"Ist dir das so wichtig?" Er sah mich skeptisch an. Kannte er mich so wenig? "Ich kaufe dir einen hübschen großen Diamantring, wenn du endlich heiratest, einverstanden?"
Erst legte ich den Kopf schief, dann nickte ich. Eigentlich könnte das alles jetzt perfekt sein. Ich sollte laut lachen, aufstehen und zu Hugo rennen. Ich sollte ihm um den Hals fallen und für nächsten Samstag eine Hochzeit anberaumen lassen. Ich sollte so glücklich sein wie noch nie in meinem Leben. Ich hatte jetzt doch endlich alles bekommen! Einen hübschen Mann, viel Geld, ein schönes Kleid, eine tolle Arbeit, nette Freunde und bald eine Hochzeit und natürlich einen tollen Diamantring. Aber wie sollte ich jemanden heiraten, von dem ich nicht ganz ganz sicher wusste, dass ich ihn liebte?
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