Der allererste Arbeitstag in sechsundzwanzig langen Jahren

Gegen Spätmittag klopfte es wieder an der Tür - es war der süße Fremde von gestern. 

"Darf ich hineinkommen?" 

"Aber natürlich, wir lieber Besuch und außerdem ist es furchtbar langweilig im Moment!", rief ich fröhlich als Antwort. 

Mati warf mir einen bitterbösen Blick zu. Typisch - niemals wollte er das, was ich wollte. 

Der Mann trat ein. Heute trug er schicke Lederstiefel mit kleinen Absätzen, eine Jeans und ein Karohemd - irgendwie war das noch ein bisschen süßer als gestern. Aber daran durfte ich nicht denken, immerhin war ich mit den hübschesten, klügsten und überhaupt besten Millionär in Buenos Aires verlobt. Und irgendwann würde ich ihn schon heiraten, etwas anderes war immerhin nicht möglich. Doch ein kleiner Blick auf diesen Cowboy wie aus einem von Matis alten Comicheftchen war schließlich kein Verbrechen. 

"Ich habe mir gedacht, ich könnte mich jetzt um euer Auto kümmern ...", begann er. 

Mati sprang augenblicklich auf und seine Augen leuchteten so sehr, als wann er den Wagen bekommen hatte, obwohl ich dieses Ding niemals leiden konnte. "Das wäre super!" Wenn es um Autos und Essen ging, war mein Bruder wirklich noch immer drei Jahre alt. 

"Gut. Ich hole dann gleich den Abschleppwagen und dann kann ich mich schon auf den Weg machen. Aber erst einmal sollte ich euch vielleicht zeigen, wo das Restaurant ist. Es sollten nicht sonderlich viele Leute kommen, keine Sorge. Vielleicht bestellen ein paar Leute ein Getränk und wollen etwas plaudern, mehr nicht." 

Matis Lächeln erlosch. Wenn es ums Arbeiten ging, dann war für ihn jeder Spaß beendet. Wie oft er mir erzählt hatte, wie schlimm es doch war. Man musste schwitzen und durfte stundenlang nichts essen, man musste sich von Idioten anmeckern lassen und immer herumhetzten. Und das Schlimmste: Man wurde meistens furchtbar dreckig dabei. Und nun sollte auch ich damit anfangen? Aber mein Kleid war doch beinahe neu! 

Ich warf meinem Bruder einen flehenden Blick zu, er aber kniff die Lippen zusammen und nickte, ich ließ den Kopf hängen und beobachtete ihn aus den Augenwinkeln, er zuckte mit den Schultern und nickte, ich hob den Kopf wieder und nickte nun auch. Wir hatten uns abgesprochen. Wir würden es machen, selbst wenn wir keinen Spaß dabei haben würden. 

Und so liefen wir zu dritt - der Cowboy, Mati und natürlich ich - zum Restaurant auf der anderen Straßenseite. Sonderlich hübsch war es nicht, jemand hätte mal die Fenster wischen können und die Tische könnten auch neu gestrichen werden, denn die weiße Farbe blätterte ab. "Ich würde dir dunkelblaue Farbe für die Tische empfehlen, es würde besser zu den grauen Wänden und den dunkelgrünen Stühlen passen", meinte ich, ohne dass ich es wirklich laut aussprechen wollte. 

Der Cowboy drehte sich zu mir um. "Ich hatte schon darüber nachgedacht, aber auf dunkelblau bin ich nicht gekommen ... Gute Idee!" Er grinste mir zu. 

Ich war überrascht - jemand fand, dass ich gute Ideen hatte? Seit Jahren hatte ich das nicht mehr gehört. Aber es gefiel mir, dass mich jemand anderes außer mir selbst für klug hielt. 

Auch Mati schien ziemlich überrascht - aber das war er von meinen Fähigkeiten ja immer, weshalb, wusste ich nicht. 

Dann gingen wir in die Küche, wo uns Hugo Garcìa, wie er sich vorgestellt hatte, alles zeigte. Das Restaurant war wirklich winzig, doch Mati schien sich nicht einmal das wenige merken zu wollen, das da war. Ich für meinen Teil war sehr interessiert daran - ich konnte zwar noch nie kochen, aber so anders als das perfekte Outfit zu kreieren konnte es auch nicht sein. 

Hugo machte sich kurz darauf auf den Weg und ließ und hier allein. Ohne lange zu zögern wuchtete sich Mati auf einen der Tische und rollte sich zusammen. Wütend schubste ich ihn runter. Wenn ich schon wegen seines blöden Autos hier herumstehen musste, dann sollte er das gefälligst auch! 

"Aua! Ich bekomme bestimmt einen blauen Fleck", jammerte er und rieb sich den Arm, auf dem er gelandet war. 

"Wenn du mich noch einmal im Stich lässt, gehe ich hinaus und erzähle allen, dass du eine Tasche voller Geld in deinem Kofferraum hast", zischte ich ihm zu. 

"Du hängst da genauso mit drin wie ich!", erwiderte er. 

Ich richtete mich auf und grinste. "Mich werden sie nur wieder herauslassen wegen Unzu ... Unrech ... Unzerech ...", begann ich und versuchte hoffnungslos, dieses seltsame Wort zu wiederholen. 

"Unzurechnungsfähigkeit? Mist. Du hast Recht. Aber dann nehmen sie dir auch dein Kleid weg!" 

Ohje ... daran hatte ich gar nicht gedacht. Ich war schließlich genauso auf der Flucht wie er. Aber ein Kleid war kein Haufen von Geld. Und außerdem dachte die Polizei, dass ich wohl nicht alle meine Sinne beisammen hätte, was auch immer das heißen sollte. 

"Machen wir ein Geschäft, Schwesterherz. Du erzählst niemandem etwas von dem Geld und der Flucht und von dem Gefängnis ... eben allem, das zwischen unserer Kindheit und dem Urlaub hier liegt. Und dafür sorge ich dafür, dass du den schönsten Urlaub aller Zeiten hast." Er sah mich nickend an. 

Ich dachte nach und nickte dann auch. Wenn er im Gefängnis war und ich mit niemandem reden konnte, war es schließlich ziemlich langweilig, obwohl er mir so oft auf die Nerven ging. 

Kurz darauf kam tatsächlich die allererste Bestellung - ein Obstshake. Wenigstens das konnte ich problemlos machen und da ich die Preise vergessen hatte, entschied ich mich dafür, das jeder selbst den Preis festlegen durfte. Da konnte ich wenigstens nicht zu viel oder zu wenig Geld verlangen, es bezahlte ja jeder, wie er wollte. 

Und entgegen Hugos Vermutung kamen langsam auch einige Leute, die meistens nur einen Shake oder ein Sandwich haben wollten. Viele von ihnen fanden Matis Sandwiches großartig, allerdings schien er faste alle von den zwei riesigen Stapeln, die er gemacht hatte, selber zu essen. 

Arbeiten war gar nicht so schlimm, wie mein Bruder mir immer erzählt hatte - es machte mir sogar Spaß! Shoppen war zwar immer noch besser, doch es gab weitaus schlimmere Sachen: abgebrochene Fingernägel, kleine Rotzgören, eine Übernachtung in diesen hässlichen Zellen oder Kaffee. 

Es dauerte eine ziemlich lange Weile, bis Hugo Garcìa, der nette Cowboy, wieder zurückkam. In der Zeit unterhielt ich mich blendend mit den Gästen - es gab wirklich viele freundliche Leute hier. Benny, der erste Gast, war auch der Hotelbesitzer. Da Beth uns gestern Abend die Zimmer gezeigt hatte, konnte ich es nicht wissen. Er arbeitete auch in einer Stadt in der Nähe, dessen Namen ich mir nicht merken konnte und kam mittags schon zuhause - früher hatten sie eine große Ranch gehabt, jetzt nur noch fünf Pferde, die ich gerne besuchen kommen durfte. Offenbar gab es kaum junge Leute in Ciudad de Caballos, weshalb er wirklich froh über uns zwei Besucher zu sein schien. Außer Beth, Hugo und irgendeiner Alice schienen hier alle alt zu sein - aber das machte nichts, ich mochte alte Leute schon immer, wenn sie nur ruhig und freundlich waren. Weshalb in Buenos Aires niemand mit mir klarkam, wusste ich nicht - hier waren alle einfach wunderbar. 

Als Hugo hineinkam, saß ich gerade am Tisch mit einer netten ältlichen Dame, die sich nicht vorgestellt hatte und lackierte ihr die Nägel in einem blauen Wellenmuster. Vor wenigen Minuten hatte ich ihr schon einen modischen Haarschnitt verpasst, wobei sie vorher aussah, als wäre sie in einen Wirbelsturm geraten. 

"Das Auto steht draußen", meinte der Cowboy und sah sich um. 

"Hugo! Wie schön dich wiederzusehen! Ich konnte mir zwar nicht alle Preise merken, also weiß ich nicht, ob alle auch richtig bezahlt haben, aber die Leute hier sind so nett, die würden bestimmt nichts Falsches machen! Und es gab auch ganz viele Bestellungen und ..." Ich hätte ewig weitererzählen können. 

"Es ist alles super. Ich gehe zum Auto", unterbrach mich Mati und sprintete über die Tisch zur Tür. Typisch, was ich sagte, war ihm immer egal. 

"Mach dir nichts draus, so schnell wir er schließlich nicht davonfahren können. Der Wagen ist ordentlich beschädigt", meinte Hugo lächelnd. 

Ich grinste. Endlich bekam er mal seine gerechte Abreibung! Und außerdem konnte ich so noch ein wenig an diesem schönen Ort bleiben. Ich machte die letzte Linie auf dem Nagel der Frau und sagte: "Fertig! Nur noch trocknen lassen, dann ich alles perfekt!" Sie schien glücklich zu sein, denn sie strahlte von einem Ohr zum anderen. 

Wirklich, hier war alles viel besser als zuhause und wäre nicht mein Verlobter, würde ich wohl niemals zurückkehren wollen. Doch Liebe ist und bleibt nun mal Liebe. 


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