Kapitel 49 ✔️


Der Angriff der Kiowa steckte mir noch in den Knochen, obwohl er bereits einige Tage her war. Abgesehen davon hatte ich von meinem Versteck aus nicht wirklich etwas mitbekommen. Im Gegensatz zu den anderen hatte ich nicht mitten im Kampfgetümmel gestanden oder feindlichen Kriegern ausweichen müssen. Dennoch plagten mich nachts Träume, in denen entweder ich verschleppt oder Takoda vor meinen Augen getötet wurde. Mehrfach war ich aus diesen Alpträumen hochgeschreckt und hatte mich an meinen Mann geklammert.

Dennoch hatten die Lakota Glück im Unglück, wenn man überhaupt von Glück reden konnte. Niemand war entführt worden, doch wir hatten zwei Tote zu beklagen. Ein älteres Ehepaar, das sich zusammen gegen die Angreifer gestellt hatte, um einigen Kindern und ihren Müttern die Flucht zu ermöglichen. Der Mann hatte einen Pfeil nach dem anderen abgefeuert und jeder hatte sein Ziel erreicht, bis ein Kiowa ihm mit dem Kriegsbeil den Schädel gespalten hatte. Seine Frau hatte mit ihrem Beil daraufhin den Krieger schwer verwundet, bevor sie von einem feindlichen Pfeil tödlich getroffen zu Boden sackte. Nachdenklich schaute ich auf die Totengerüste der beiden Gefallenen. An dem des alten Lakotakriegers hingen seine Waffen. Ihr hatte man ihre Kochutensilien mitgegeben. So konnte er in den ewigen Jagdgründen jagen und sie seine Beute für beide kochen. Früher hätte ich mich darüber aufgeregt, zumindest innerlich, dass sowas sexistisch wäre. Doch hier empfand ich es als süße Geste. Um nichts in der Welt wollte ich mit Takoda tauschen und auf die Jagd gehen. Stundenlang oder Tage hinter Wild her zu hetzen, nur um dann womöglich mit leeren Händen zurückzukehren, das stellte ich mir furchtbar vor.

Wie mein Leben wohl verlaufen würde, wenn ich keine Beziehung mit Takoda angefangen, sondern zurück nach Deutschland gegangen wäre? Kurz sah ich mich zum Dorf um, dann setzte ich mich auf einen umgestürzten Baum am Waldrand. Der Häuptling hatte noch nicht entschieden, ob wir heute oder erst morgen aufbrechen sollten. Abgesehen davon war es früh am Tag. Daher hatte ich etwas Zeit für mich. Mein Sohn war in der Obhut meiner Schwiegermutter, die ihn mir fast schon verzweifelt abgenommen hatte. Prima, das war eine Übertreibung. Doch hatte nicht viel gefehlt und sie hätte ihn mir aus den Armen gerissen.

Laut Takoda war ich eine so fürsorgliche Mutter, dass ich mein Kind kaum hergab. Etwas, das Stilles Wasser frustrierte, weil sie sich gern um ihren Enkel kümmerte. Daher hatte ich ihn jetzt in ihrer Obhut zurückgelassen. Unter anderem, weil ich die Sprache nach wie vor nicht zu einhundert Prozent beherrschte und das womöglich nie lernen würde. Schon die Aussprache und die feinen Nuancen trieben mich regelmäßig zur Verzweiflung. Hinzu kam, dass ich kaum Geschichten und Lieder des Volkes kannte. Takoda konnte unserem Sohn nicht alles allein beibringen. Ich seufzte leise.

Wofür war ich nochmal hergekommen? Ach ja, ich wollte mal darüber nachdenken, was passiert wäre, wenn ich jetzt wieder in Hamburg wohnte. Als Erstes hätte ich die Schule beendet. Dank der nun ausgezeichneten Englischkenntnisse hätte dem BWL-Studium nichts im Wege gestanden. Mein Selbstvertrauen wäre weiterhin im Arsch gewesen, also hätte ich brav auf meinem Studentenzimmer oder zuhause gelernt, statt auf Partys zu gehen und mit Jungs rumzumachen. Zur großen Freude meiner Mutter.

Mama. Sie hatte mich nie gewollt. Ich war ein Unfall, wie sie es mir mal so schön mitgeteilt hatte. Ungeplant, ungewollt. Nur dazu da, ihren Traum einer erfolgreichen Managerin zu verwirklichen. Das war ich ihr laut ihrer Aussage schuldig, denn ich hatte ihr Leben ruiniert. In Gedanken ging ich das Gespräch durch. Es war in etwa zwei Jahre her, dass sie mir ihre Meinung ins Gesicht gesagt hatte. Wenn ich mich recht entsann, hatte eine Nachbarin zuvor freudestrahlend von ihrer Schwangerschaft berichtet. Meine Mutter hatte nur die Nase gerümpft und mir danach bei einem Gespräch unter vier Augen ans Herz gelegt, nicht so dumm zu sein und mir ein Kind anzulachen.

So abwertend, wie Mama immer über Hausfrauen und Mütter gesprochen hatte und wie viel Arbeit Babys verursachten, wäre ich nicht mal im Traum auf die Idee gekommen, schwanger zu werden. Da wäre ich eher als alte Jungfer mit einem Haufen Katzen geendet. Ich grinste bei dem Gedanken. Dann fiel mir Takodas Versprechen ein, bevor wir mit dem Bus zur Höhle fuhren. Er hatte mit nach Deutschland kommen wollen. Ich überlegte, wie das abgelaufen wäre.

„Mama, das ist Takoda. Er ist nach indianischem Recht mein Ehemann. Ach und übrigens, ich bin schwanger."

Wäre sie in Ohnmacht gefallen oder hätte sie mich angeschrien?

„Das geht auf gar keinen Fall! Du treibst das Ding ab! Du versaust dir sonst deine ganze Zukunft! Und dieser Langhaardackel verschwindet auch gefälligst!"

So und einiges in der Art hätte ich mir anhören dürfen. Mit den Händen in den Seiten und mit einem hochroten Gesicht hätte sie vor mir gestanden. Mein Vater hätte nur still genickt. Dabei liebte er Kinder und hätte mich sicher unterstützt. Vorausgesetzt, meine Mutter hätte es zugelassen. Wieso er mit mir überhaupt bei ihr geblieben war, war mir noch immer ein Rätsel. Scheidung und alleiniges Sorgerecht für meinen Vater wäre für alle Beteiligten das Beste gewesen.

Auch so hätte er nichts gegen meinen Mann und das Kind einzuwenden gehabt, bildete ich mir. Oder hätte er doch geschimpft, dass es seinem Ansehen schadete, weil Takoda ein Indianer war? Ich seufzte, zog die Beine an und legte die Stirn auf die Knie. Einige Atemzüge verharrte ich so.

„Denkst du gerade an deine Familie in Deutschland?" Leise setzte er sich zu mir. Ich brummte nur. Gleich darauf legte mein Mann seinen Arm um meine Taille.

„Kannst auf dem Pferd weiter nachdenken. Aber erst müssen wir das Lager abbrechen." Es ging also doch heute schon los. Mein Blick schnellte hoch und ich wollte schon aufspringen, doch der Lakota hielt mich am Arm zurück.

„Ich weiß, dass dein Leben seit der Zeitreise nicht einfach ist. Vielleicht solltest du an unserem neuen Lagerplatz mal mit den Frauen eine Schwitzhüttenzeremonie durchführen. Ich weiß zwar nicht, wie die bei den Frauen abläuft, aber bei uns Männern wird dabei gebetet. Nach meiner Erfahrung klärt das den Geist und kann man mit Dingen, die passiert sind, besser abschließen." Sanft berührten seine Lippen meine Wange. Seine dunklen Augen betrachteten mich liebevoll, bevor er mir aufhalf.

Zusammen schlenderten wir zurück zu unserem Tipi. Die ersten Frauen lösten bereits bei ihren Zelten die Planen. Meine Schwiegermutter hatte bei ihrem ebenfalls schon angefangen. Ich wollte mir meinen Sohn schnappen, doch sie winkte ab. Sie wollte ihn bei sich behalten.

„Um meinen Enkel kümmere ich mich." Mein Schwiegervater nahm vorsichtig den Säugling hoch und sah ihn mit einem verklärten Blick an. Hier war ich wohl gerade überflüssig. Flugs machte ich mich daran, mein Tipi abzubauen. Obwohl, das hier war das Zelt, das wir nach unserer Ankunft beim Stamm geliehen bekommen hatten. Am nächsten Lagerplatz konnte ich endlich das Neue aufstellen. Grinsend bereitete ich den Aufbruch vor. Wie es dort wohl aussah? Es versprühte einen gewissen Reiz, nicht am selben Fleck zu bleiben. Eine andere Umgebung, Neues zu entdecken, Altes hinter sich zu lassen.

Das Takodas Worte kamen mir dabei wieder in den Sinn. Mit meiner Schwiegermutter und einigen anderen Frauen einer Schwitzhüttenzeremonie beizuwohnen, klang verlockend. Vom physischen Ablauf ähnelte es einem Dampfbad oder einer Sauna. Schon allein der Aspekt würde mir guttun.

Wieder sah ich zu den Totengerüsten. Ich war nie gläubig gewesen, doch mittlerweile schätzte ich die religiösen Bräuche der Lakota. Sie stärkten den Zusammenhalt und machten auch unangenehme Gegebenheiten, wie Angriffe und den Tod erträglicher. Niemand wurde mit seinem Schmerz alleingelassen. So wie das Dorf Anteil nahm an Eheschließungen und Geburten, so halfen die Menschen einander bei Krankheit und Trauer. Das komplette Gegenteil zu meinem alten Leben in einer Großstadt. Vermutlich ging es in den deutschen Dörfern beschaulicher und freundschaftlicher zu. Oder auch nicht. Wenn man in einer kleinen Gemeinschaft geächtet wurde, hatte man höchstwahrscheinlich die große Arschkarte.

Ich schielte zu meiner Freundin rüber, die fleißig mit ihrer Mutter alles abbaute. Mist, zu zweit waren sie natürlich schneller als ich. Die nächste Zeit konzentrierte ich mich nur auf meine Arbeit, bis ich alles fein säuberlich auf dem Travois und auf einem Packpferd verstaut hatte. Ich überlegte, ob ich für diesen Umzug die Scheckstute nahm. Dann hörte ich leises Quaken neben mir. Mein Mann brachte unseren Sohn. Ich befreite die hungrige Krähe aus seinem Wiegenbrett und setzte mich mit ihm hin, damit er in Ruhe trinken konnte.

„Ich habe ihn mal gerettet, bevor meine Eltern ihn gar nicht mehr rausrücken", brummte er. Seine ausdruckslose Miene täuschte mich nicht darüber hinweg, dass er sich über die Zuneigung, die der Kleine von den Großeltern erhielt, enorm freute.

„Wären wir durch die Zeitreise nicht hier aufgetaucht, würden sie nie Enkelkinder haben", erwiderte ich leise. Noch ein Grund mehr für mich, die Höhle nie wieder aufzusuchen. Denn weder meine Mutter noch Takodas Zieheltern würden sich über unser Kind freuen.

Während der Reise dachte ich weiter über diese zwei so unterschiedlichen Welten nach und was sie für mich persönlich bedeuteten. Selbst wenn ich zurück ins einundzwanzigste Jahrhundert reisen könnte, würde ich es nicht tun. Dieses Fazit traf mich nicht einmal unvorbereitet. Zu oft hatte ich schon die jeweiligen Vor- und Nachteile abgewogen.

Urplötzlich hielten wir auf einer der vielen Anhöhen der Prärie an. Die Lakota vor mir schauten gebannt hinunter in das Tal. Takoda, der mit Otaktay eine Seite gesichert hatte, ritt mit diesem zusammen nach vorne zum Häuptling. Mein Blick folgte ihnen. Mein Atem stockte und meine Nackenhaare stellten sich auf. Ich bezweifelte, dass die Menschen im Tal Lakota waren. Crow waren es ebenfalls nicht. Die Kleidung der Fremden unterschied sich von den mir bekannten Stämmen.

Atemlos sah ich zu, wie mein Mann mit seinem Vater auf zwei Krieger des unbekannten Volkes zuritt. Meine Hände, die die Zügel wie eine Rettungsleine umklammerten, zitterten. Das Leder wurde unter meinen Fingern glitschig.

„Šahíyela", hörte ich einen älteren Lakotakrieger in der Nähe sagen. Cheyenne. Zu dieser Zeit waren sie noch nicht mit den Lakota befreundet. Das sollte erst zwei Jahrzehnte später kommen, wenn ich mich recht entsann.

Ich ließ den Blick über die gegnerische Gruppe gleiten. Frauen, Kinder, Ältere. Auch die Cheyenne waren mit ihren Familien unterwegs und suchten in diesem Moment keinen Streit. Ich verlagerte die Aufmerksamkeit zurück auf meinen Ehemann. Mit seinen Händen formte er Gesten, unterhielt sich so mit den fremden Männern. Soweit ich es von dieser Entfernung aus erkannte, wirkte er entspannt. Trotzdem gefiel mir die Sache nicht. Womöglich, weil Shishiesh seine Ehefrau an einen Krieger der Cheyenne verloren hatte. Klar, eine Frau mit blonden Haaren erregte zu dieser Zeit sicher Aufmerksamkeit. Ich knabberte an meiner Unterlippe herum. Etwas, das ich seit Ewigkeiten nicht mehr gemacht hatte. Doch irgendetwas störte mich, obwohl dieses Aufeinandertreffen friedlich verlief. Ich sah erneut von den Kriegern weg zu den Frauen und Kindern weiter hinten.

Mein Magen verkrampfte sich, als ob mich jemand mit der Faust hineingeboxt hatte. Das war nicht möglich! Leise keuchte ich auf, versuchte, wieder normal zu atmen, nachdem ich zuvor die Luft angehalten hatte. Bei einem Hund, der vor ein Travois gespannt war, stand sie. Sowohl ihre hellere Haut als auch ihre blonden Zöpfe verrieten mir, dass sie keine Indianerin war. Ihr Gesicht erkannte ich aus der Ferne nicht. Sarah oder eine Weiße, die die Cheyenne bei einem Überfall auf einen Wagenzug oder eine einsame Siedlung erbeutet hatten? Oder bildete ich mir alles nur ein?

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