Kapitel 39 ✔️
Takoda
Nachdenklich ritt ich zum Dorf zurück. Die Vision hatte mich verwirrt. Aber das war typisch für diese. Kein Wunder, wenn man gezwungen war, einige Tage ohne Nahrung und Wasser auszukommen. Da spielte hinterher der Verstand nicht mehr mit. Zumindest hatte meiner das Weite gesucht. Es war womöglich besser, wenn ich unseren Heiligen Mann fragte, mir bei der Entschlüsselung zu helfen.
Doch erst freute ich mich darauf, meine Frau wieder in die Arme zu schließen. Ich sehnte mich danach, stundenlang mit ihr zu kuscheln und ihren betörenden Duft einzuatmen. Stattdessen würde einer der Jungs mich mit auf die Jagd schleppen, so wie es immer war. Da gefiel mir unser Leben in der Moderne deutlich mehr. Niemand hatte etwas Negatives gesagt, wenn man seinen Partner in den Arm nahm oder ihn küsste. Hier sah man in der Öffentlichkeit nichts.
Ob Anna deswegen sauer auf mich war? Weil sie es anders kannte? Gerade als ich beschloss, sie am Abend danach zu fragen, kam das Dorf in Sicht. Mir fielen sofort die zwei neuen Totengerüste auf und ich fragte mich, wer während meiner Abwesenheit gestorben war. Im Geiste ging ich unsere alten Leute durch. Sie waren alle vor meiner Abreise quicklebendig. Eine schwangere Frau, die die Geburt nicht überlebt hatte? Es kam selten vor, doch war es jedes Mal wieder herzzerreißend. Andererseits konnte es auch jemanden bei der Jagd erwischt haben. Grübeln brachte nichts, aber es störte mich, dass es zwei Gerüste waren. Zwei Tote innerhalb von vier Tagen. Das gefiel mir nicht. Das gefiel mir überhaupt nicht. Murrend trieb ich meinen Hengst an.
Die Kinder kamen wie sonst auch auf mich zugestürmt und tanzten um mein Pony herum. Dennoch lag eine unangenehme Stimmung in der Luft. Mein Blick suchte die Anwesenden ab, doch Anna entdeckte ich nirgends. Um diese Zeit des Tages aber nicht sonderlich besorgniserregend, denn Lakotafrauen hatten immer irgendetwas zu erledigen.
Ich ritt zur Dorfmitte. Einige Frauen schauten mich mitleidig an. Mein Magen zog sich zusammen und ich spürte, wie meine Nackenmuskeln sich verspannten. Etwas, dass mir manchmal passierte, wenn mir eine Situation missfiel. Und es gab hier mindestens zwei Dinge, die mir nicht gefielen. Die Totengerüste und Annas Abwesenheit. Was war hier während der Visionssuche vorgefallen? Ich stieg vor dem Tipi meiner Eltern ab und mein Vater trat hinaus.
„Komm mein Sohn, ich muss mit dir reden.", begrüßte er mich sogleich und führte mich ins Zeltinnere. Mama saß auf ihrer Seite und nähte. Sie schaute kurz hoch, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ich schloss für einen Moment die Lider, sammelte mich. Es war etwas mit Anna passiert. Das war offensichtlich. War sie etwa umgekommen? Nervös schluckte ich den Kloß in der Kehle runter und setzte mich zu meinem Vater.
„Als du weg warst wurden uns einige Ponys gestohlen. Krieger der Crow kamen in den frühen Morgenstunden und haben die beiden Wachen getötet." Deshalb die zwei Totengerüste. Doch ich wagte es noch nicht, aufzuatmen. Etwas stimmte hier nicht. Vielleicht war Anna krank oder hatte unser Baby verloren. Es hatte mit ihr zu tun, denn sonst wäre meine Mutter nicht so traurig. Davon war ich überzeugt. Der Tod eines Menschen gehörte für uns zum Leben dazu. Natürlich trauerten wir, wenn jemand starb. Aber zu dieser Zeit nahmen wir es als zum Alltag gehörend hin, selbst wenn eine Person von Feinden getötet wurde.
„Was ist mit Anna?", fragte ich meinen Vater, in dessen Gesicht sich Sorgen widerspiegelten. Die Stirn in Falten, die Augenlider hingen ein wenig.
„Die Crow haben sie mitgenommen. Wir vermuten, dass sie etwas bei der Herde bemerkt hatte und nachsehen wollte." Mein Herz verkrampfte. Das passte zu ihr. Egal wie oft ich sie darauf hingewiesen hatte, dass es hier gefährlicher war als im einundzwanzigsten Jahrhundert, sie hatte lächelnd abgewinkt. Verdammt, warum war ich nicht zuhause geblieben? Dann wäre das alles nicht passiert. Nie hätte ich zugelassen, dass sie sich um die Uhrzeit allein im Dorf herumtrieb. Mein Vater betrachtete mich still. Er vermutete sicher zum Teil, was in mir vorging. Doch alles wusste er nicht. Ich hatte ihm nichts von den Zeitreisen erzählt. Nichts davon, was unserem Volk in der Zukunft widerfahren würde. Erst recht nicht, wie anders das Leben einmal sein würde, wie beschütz Anna aufgewachsen war.
„Ich habe unsere besten Krieger ausgesandt, doch unsere Feinde haben ihre Spuren geschickt verwischt. Daher sind die Krieger erfolglos heimgekehrt. Wir wissen nicht, wohin sie deine Frau gebracht haben." Und ob sie noch lebte, doch das fügte ich den Worten meines Vaters nur in Gedanken hinzu. Verdammte Crow. Sie waren es, vor denen ich damals in die Höhle geflüchtet war. Einer von ihnen hatte mich fast erwischt. Und nun hatten sie meine Frau gestohlen.
„Ich werde sie suchen gehen", erwiderte ich entschlossen und stand auf. Dabei schwankte ich ein wenig. Die Tage ohne Nahrung und Wasser hatte mir zugesetzt, doch ich weigerte mich, noch mehr Zeit zu verschwenden. Wenn die Geister mir gutgesinnt waren, würde ich Anna finden. Oder waren sie so grausam und hatten sie mit mir in die Vergangenheit geschickt, nur damit ich sie verlor? Mein Magen verkrampfte sich ein weiteres Mal. Was wenn ich alles versaut hatte? Warum hatte ich Idiot sie dieser Bedrohung ausgesetzt? Dabei hätten wir mit Unterstützung meiner weißen Zieheltern ein entspanntes Leben gehabt, fernab aller Gefahren.
„Ruh dich für heute aus, mein Sohn. Du kannst morgen aufbrechen." Die besorgten Blicke konnten meine Eltern sich sparen. Es war mir bewusst, dass ich erst etwas Schlaf und Nahrung benötigte.
„Ich werde Otaktay fragen, ob er mich begleitet." Seine Fähigkeiten beim Spurenlesen waren meinen weit überlegen. Außerdem brauchte ich die Unterstützung meines besten Freundes jetzt mehr denn je.
„Tue das, mein Sohn. Denk aber bitte daran, dass all unsere Mühe manchmal vergebens ist." Die Augen meines Vaters füllten sich mit Tränen. Er dachte an meine Schwester, die vor Jahren von fremden Kriegern entführt worden war. Meinen älteren Bruder hatten die Angreifer an dem Tag getötet. Obwohl wir schnell einen Suchtrupp zusammengestellt hatten, hatten wir sie nie gefunden. Weder meine Schwester noch die Feinde. Ich war später allein aufgebrochen, um sie erneut zu suchen. Dabei hatten die Crow mich überrascht, verfolgt und bei der Höhle fast erwischt. Ich war nicht auf der Jagd, wie ich es immer allen erzählt hatte. Nein, ich hatte es mir in den Kopf gesetzt, meine Schwester zu befreien und mir damit den Respekt unserer Leute zu verdienen. Die Sache war dann etwas anders gelaufen, als ich es geplant hatte. Und nun schloss sich der Kreis. Wieder war jemand entführt worden, den ich liebte. Nur dieses Mal hätte es gar nicht dazu kommen müssen.
„Ich weiß Vater, aber ich muss es zumindest versuchen." Das schuldete ich ihr. Damit verabschiedete ich mich und suchte Otaktay, den ich bei den anderen Männern fand, die zu meinem Freundeskreis gehörten.
„Freund, ich weiß, was mit deiner Frau passiert ist. Ich werde mit dir gehen, um sie zu suchen", begrüßte er mich gleich, bevor ich mein Anliegen vorbringen konnte.
„Danke mein Freund. Ich werde morgen früh aufbrechen und freue mich, dass du mich begleitest."
Am nächsten Tag sattelten wir beim Morgengrauen unsere Pferde.
„Bist du bereit?" Otaktay sah mich mit einer undurchdringlichen Miene an. Er hatte an der ersten Suche teilgenommen und wusste daher, in welche Richtung die Crow geritten waren. Selbst wenn er eine zweite Suche überflüssig erachtete, würde er es nicht sagen. Mir war klar, dass dieses Unternehmen ein sinnloses Unterfangen war. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich Anna fand, war gering. Schweigend ritten wir einige Stunden, bis wir zu einem Bach kamen. Er verlief von Südwesten nach Nordosten.
„Sie haben den Bach nicht überquert, sondern sind vermutlich ein Stück im Bachbett geritten. Wir sind dem Bachverlauf in nordöstlicher Richtung gefolgt, konnten aber keine Spuren mehr finden. An einigen Stellen ist das Ufer felsig. Wenn sie dort das Bachbett verlassen haben, wird es keine Spuren geben." Mein Freund schaute mich abwartend an.
„Ihr seid also nur nach Nordosten geritten, richtig?" Ich hatte eine Idee.
„Ja, die Dörfer der Crow liegen im Norden. Es würde keinen Sinn machen, sie südlich zu suchen."
Das stimmte. Außer, wenn diese gerissenen Hunde vermeiden wollten, dass wir ihr Dorf fanden. „Genau deswegen werden wir jetzt dem Bach in südöstlicher Richtung folgen. Vielleicht haben sie einen Umweg genommen." Da ich davon ausging, dass sie den Wasserlauf auf der anderen Seite verlassen hatten, trieb ich meinen Hengst rüber. Otaktay folgte mir skeptisch, sagte aber nichts. Nach einiger Zeit sah ich etwas am Flussufer liegen. Pferdeäpfel.
„Sieht so aus, als ob du recht hattest." Mein Freund stieg vom Pferd und untersuchte den Boden. Am Ufer waren einige Hufabdrücke zu sehen.
„Hier. Diese sind tiefer als die anderen. Entweder musste das Tier einen sehr fetten Crow tragen..."
„Oder er hat meine Frau mitgenommen", fügte ich hinzu. Wir ritten in nördlicher Richtung weiter. Regelmäßig sahen wir Hufabdrücke, Pferdeäpfel oder an Büschen waren einzelne Zweige abgeknickt.
Wir werden dich finden Anna. Bald bist du wieder bei mir.
Guter Dinge ritten wir weiter. Die Vögel zwitscherten in den einzelnen Büschen, die mal hier, mal dort auf der Prärie wuchsen. Das Gras war mindestens kniehoch. Ich verglich das Bild vor mir in Gedanken mit meiner Erinnerung, wie die Grasebene in zweihundert Jahren aussehen würde. Zerstört von den Monokulturen, den Rindern und den schweren Maschinen, mit denen sie den Boden auslaugten und verhärteten, bis er mehr und mehr einer Wüste glich. Schade, dass man den Menschen dieses nicht vor Augen führen und somit die Zerstörung verhindern konnte. Würden die Tiere im Regenwald von Südamerika und auf Borneo sowie die Eisbären am Nordpol ebenfalls begrüßen.
Immer wieder scannte ich mit meinem Blick den Boden nach Spuren ab, bis wir auf steinernen Untergrund stießen. Fuck. Egal wie lange wir das Gebiet absuchten, wir würden keine weiteren Hinweise finden. Dafür war es zu groß. Sie konnten überall ihren Weg fortgesetzt haben. Dennoch ritt ich es so weit wie möglich frustriert ab, bis die Abenddämmerung langsam einsetzte.
„Komm mein Bruder, wir sollten unser Lager aufschlagen." Otaktay hatte recht, doch ich fürchtete mich davor, aufzuhören. Vor allem, weil mir bewusst wurde, dass mir alles entglitt. Frustriert stieg ich ab. Wir entzündeten ein Feuer, aßen etwas Trockenfleisch und hüllten uns in unsere Decken.
„Es hat keinen Sinn. Wir kehren morgen um." Meine Stimme brach und ich starrte stumm in die Flammen, die immer stärker vor meinen Augen verschwammen.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top