Kapitel 35 ✔️
Für meinen Geschmack viel zu früh am Morgen schlug ich die Augen auf. Der Platz neben mir war kalt und leer. Takoda war am Vortag zu seinem Selbstfindungstrip aufgebrochen. Pardon, Visionssuche. Ich schnaufte genervt. Er fehlte mir. Dabei war es gar nicht so lange her, dass ich ihn am liebsten auf den Mond geschossen hätte und er sich gar nicht weit genug von mir entfernt aufhalten konnte. Zumindest hatte er mit seinem Vorhaben gewartet, bis ich das Bisonfleisch verarbeitet hatte. Das waren ein paar verdammt anstrengende Tage gewesen. Tagelang hatte ich Fleisch in Streifen geschnitten und zum Trocknen in die Sonne gehangen. Die gröbsten Fleischreste hatte ich ebenfalls schon von den Häuten beseitigt. Wollte nicht einmal daran denken, wie es wäre, den Dreck erst später zu entfernen. Igitt. Wenn ich jetzt so darüber nachdachte, wurde mir speiübel, obwohl ich bei den Tätigkeiten selbst wenig Probleme mit Ekel und Übelkeit hatte. Ruhelos wälzte ich mich zwischen den Fellen. Leise schimpfend kroch ich zu dem Wasserbehälter und nahm einen Schluck. Brachte auch nicht viel. Seufzend zog ich mich an und warf einige Zweige auf die Glut des Vortags, damit es bei meiner Rückkehr vom Fluss hier drinnen mollig warm sein würde.
Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen und trat gähnend aus dem Tipi in die kühle Morgenluft, die ich gierig einsog. Sie war so frisch, so sauber. Völlig anders als in Hamburg, wo ich aufgewachsen war. Ich atmete weiter tief ein, füllte meine Lungen mit köstlichem Sauerstoff. Die Übelkeit schwand, doch ein seltsames Gefühl blieb in meinem Bauch zurück, den ich sanft tätschelte. Bisher hatte die Schwangerschaft, obwohl wir hier fernab der modernen Zivilisation lebten, sowohl räumlich als zeitlich, keine nennenswerten Probleme verursacht. Ich erinnerte mich an das Gejaule Schwangerer in Frauenzeitschriften und grinste vor mich hin. Von den Weibern würde es keine hier eine Woche durchhalten. Wacher werdend schaute ich mich um. Der Morgen graute gerade erst, doch das störte mich nicht. Normalerweise lief ich mit den anderen Frauen zum Fluss, doch heute benötigte ich etwas Zeit allein. In der vergangenen Nacht hatte ich von meinen Eltern und meinem alten Zuhause geträumt. Und vom Mobbing in der Schule, wo ich oft ausgelacht worden war wegen meiner Liebe zum Lesen. Hier dagegen gehörte ich trotz des fremden Aussehens dazu. Zugegeben, die Lakota hatten bisher keine negativen Erfahrungen mit Weißen gemacht. In wenigen Jahren würde sich das ändern. Ich erschauderte und wünschte mir, dass ich eine Decke mitgenommen hätte. Kurz davor umzudrehen und mir ein wärmendes Fell aus dem Tipi zu holen, hörte ich einige der Ponys wiehern. Daher verwarf ich meine Idee wieder. Etwas schien die Tiere zu stören. Wie üblich hielten zwei Jungs über Nacht die Wache, um Raubtiere von der Herde fernzuhalten. Ansonsten hatten wir keine Wachposten aufgestellt. Diese Gegend hatte sich bisher als ungefährlich herausgestellt. Daher dachte ich mir auch nicht viel dabei, bei den Ponys nach dem Rechten zu sehen. Meine Stute würde sich sicher über eine Kuscheleinheit freuen. Ich dachte dabei an die weiße Stute, nicht die hübsche Scheckstute, die mit ihrem Fohlen vor dem Tipi angebunden stand. Laut Takoda gewöhnten sie sich auf diese Art schneller an den Kontakt zu Menschen. Die Schecke war im Gegensatz zu ihrem Sohn noch etwas reserviert, doch machte ich deutlich Fortschritte dabei, ihr Vertrauen zu gewinnen.
Lächelnd schritt ich zur Herde. Wie friedlich es um diese Zeit doch war.
Eine Windböe strich um meinen Körper herum wie eine hungrige Katze und verpasste mir eine Gänsehaut. Daher schlug ich die Arme um mich, rieb sie warm. Aus welchem Grund hatte ich das Tipi verlassen? Um frische Luft zu schnappen? Grandiose Idee! Ich betrachtete die Huftiere vor mir. Die Atemluft der Ponys stieg wie feiner Nebel von ihren Nüstern auf. Einige der Tiere spielten unruhig mit ihren Ohren, achtend auf eine für mich nicht wahrnehmbare Gefahr. Strich ein Raubtier um die Herde? Und wo waren die zwei Jungen? Etwa eingeschlafen? Sollte das der Fall sein, würde ich sie sanft wecken. Bei der Wache einzuschlafen würde ihnen danach sicher nie wieder passieren, wenn ausgerechnet ich sie dabei erwischte. Ich lief einige Schritte tiefer in die Herde hinein und suchte meine Stute. Sie stand am äußeren Rand, am weitesten entfernt zum Lager, mit einigen anderen Tieren. Als ich sie fast erreicht hatte, fiel mir auf, dass sie alle nicht mehr die schmalen Lederbänder um ihre Sprunggelenke trugen, die sie daran hinderten, sich weit von uns zu entfernen. Das Herz pochte schneller in meiner Brust. Etwas stimmte hier nicht. Kein Raubtier hatte sich herangeschlichen, zumindest kein tierisches. Ich atmete tief ein, um mich zu beruhigen. Es roch nach Pferden und Erde. Nichts Aufsehenerregendes. Doch auch ein anderer Geruch mischte sich schleichend darunter, ein metallischer, der mir schon vor einigen Wochen Übelkeit verursacht hatte. Mein Magen krampfte sich zusammen. Die feinen Härchen im Nacken stellten sich auf. Alle Sinne befahlen mir, mich schleunigst aus dem Staub zu machen, doch eine unbekannte Macht zog mich weiter vorwärts. Womöglich sollte ich auf meine Stute springen, um wie der Blitz zum Lager zurückzukehren. Wer auch immer sich hier versteckt hielt, hatte es noch nicht für nötig befunden, mich zu töten. Dennoch bildete ich mir ein, einen Blick auf mir zu spüren. Oder sogar mehrere. Scheiße.
Zielstrebig lief ich auf die Schimmelstute zu, die mir freudig den Kopf für Streicheleinheiten entgegenstreckte und leise wieherte. Ich hatte sie fast erreicht, als ich über etwas Weiches stolperte und der Länge nach hinfiel. Der metallische Geruch drängte sich mir auf, schwappte über mich wie eine Welle. Innerlich betend, dass es nicht war, was ich befürchtete, drehte ich mich zu dem Stolperstein um. Augenblicklich zuckte ich zusammen. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Ein bitterer Geschmack kroch meine Kehle empor. Ich öffnete den Mund zum Schrei, doch kein Ton kam über meine Lippen. Zitternd schaute ich auf einen der beiden Zwölfjährigen, der Wache gehalten hatte. Seine Augen waren weit aufgerissen und glasig. Die Wangen eingefallen, die Lippen fahl, wie der Rest seiner Haut. An seinem Hals klaffte eine riesige Wunde. Kein Tier hatte ihn getötet. Nein, es war ein sauberer Schnitt und die Übeltäter starrten mich an, das spürte ich genau. Mein Körper kribbelte, als wenn tausend Ameisen gleichzeitig auf der Haut tanzten. Ich ließ den Blick hin und her wandern. Bisher hatte ich keinen der Feinde gesehen, doch ich wusste, dass sie da waren. Schreien unterließ ich, denn das wäre sicher mein Ende. Warum griffen sie nicht an? Sie hatten die Jungen umgebracht. Weshalb ließen sie mich in Ruhe?
Meine Gedanken wanderten zu einer Geschichte zurück, die ich nur halb mitbekommen hatte, als die Lakotafrauen beim Gerben gequatscht hatten. Es war darum gegangen, dass Krieger fremder Stämme manchmal junge Frauen und Mädchen im heiratsfähigen Alter stahlen, um sie selbst zu heiraten und mit ihnen eine Familie zu gründen. Sollte das mein Schicksal sein? Und was für Männer waren es überhaupt, die mich anstarrten, ohne sich zu zeigen. Hatten sie mich umzingelt? Hielten sie sich nur auf einer oder vielleicht zwei Seiten auf? Ich wollte hier weg, zurück in den Schutz des Dorfes. Langsam bewegte ich mich nach hinten, rutschte dabei über den Boden, denn aufzustehen traute ich mich nicht. Darauf hatten die Kerle wohl nur gewartet.
Einer verließ seine Deckung, kam mit geschmeidigen Schritten auf mich zu. Dunkle Haut, lange schwarze Haare, die kunstvoll hochgesteckt waren. Das war eindeutig kein Lakota. Sein Blick war kalt und ich wich unwillkürlich nach hinten aus. Bis ich von etwas Warmen gestoppt wurde. Ein sehniger Arm schlang sich um meine Taille, eine Hand legte sich auf meinen Mund.
„Shit", hörte ich leise an meinem Ohr. Moment. Englisch? Der Mann hinter mir tastete meinen von der Schwangerschaft schon leicht gewölbten Bauch ab. Streichelte ihn anschließend unendlich sanft. „Keep quiet and I can help you." Die Hand verschwand von meinem Mund und der Kerl, der Englisch sprach, tauchte in meinem Blickfeld auf. Jung, groß, durchtrainiert. Aber wenigstens sah er mich sanfter an als seine Begleiter, die nun alle ihre Deckung verlassen hatten. Fünf fremde Krieger, die gekommen waren, um Pferde zu stehlen, und vermutlich beide Jungs getötet hatten. Denn sonst wäre der Überlebende schon längst zum Lager gerannt und hätte die Lakota geweckt. Die Fremden diskutierten leise, aller Wahrscheinlichkeit nach über mein Schicksal. Zwischendurch schauten die Indianer mürrisch zu mir. Hilflos saß ich auf der Erde, traute nicht, mich zu bewegen. Den Blick hatte ich mittlerweile nach unten gerichtet. Aus Angst, einen von ihnen oder alle zu provozieren.
Ohne Vorwarnung packte mich jemand an der Hüfte und setzte mich auf meine weiße Stute. Dann sprang der Krieger hinter mir auf. Die anderen Männer saßen ebenfalls auf, nahmen sich die Pferde am Rand der Herde. Trieben sie weg vom Dorf, von meinem Zuhause. Eine Träne kullerte über meine Wange. Ich wollte stark sein, doch im Moment fühlte ich mich wie ein Häufchen Elend. Als ob der Krieger hinter mir es spürte, legte er seinen Arm um mich, drückte mich an seine Brust.
„Don't worry, I will protect you", raunte er mir ins Ohr. Langsam wurde er mir unheimlich. Wieso sprach er Englisch? Damit war er der zweite Indianer in dieser Zeit, der eine Sprache beherrschte, die den Völkern der Prärie erst viel später eingehämmert werden sollte. Woher zum Teufel wusste er, dass ich ihn verstand? Hatte er mich direkt als Weiße erkannt? Durfte ich ihn danach fragen? Und warum wollte er mir helfen, mich beschützen?
Ich nahm mir vor, mich vorläufig still und unterwürfig zu verhalten. Doch eines war mir bewusst. Kampflos würde ich nicht bei diesem fremden Volk bleiben. Takoda würde mich sicher befreien. Verdammt, warum nur war mein Mann nicht da? Er hatte doch versprochen, mich immer zu schützen und dass niemand uns trennen würde. So viel zu dem Thema. Mutlos ließ ich den Kopf hängen.
Nach einiger Zeit fiel mir auf, dass wir im Zickzack ritten. Mal schritten die Ponys für einen längeren Zeitraum durch ein Bachbett, dann wurden sie von den Kriegern über steinige Flächen getrieben. Ein schmerzhafter Gedanke schlich sich in mein Hirn. So verhinderten sie, dass jemand die Spuren las, ihnen folgte und mich aus ihrer Gewalt befreite. Ein dicker Kloß verschloss meinen Hals. Die Taktik der fremden Krieger verwirrte mich so sehr, dass ich mir den Weg für eine etwaige Flucht nicht merkte. Scheiße. Warum hatte ich auch ausgerechnet so früh aufstehen und allein zu der Herde gehen müssen? Das war mal wieder eine glanzvolle Leistung, Anna. Resignierend schloss ich die Augen, lehnte den Kopf an den Krieger. Suchte bei ihm den Schutz, den mir in diesem Moment sonst keiner geben konnte. Vorläufig war ich seiner Aussage nach bei ihm sicher. Doch wie lange würde das so bleiben?
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