Kapitel 31 ✔️


PoV Takoda

Die Herde Wildpferde graste friedlich vor uns in einer Talsenke. Wir waren einen Tagesritt vom Dorf entfernt, doch die Tiere vor mir waren es wert für einige Tage von Anna getrennt zu sein. Ich hatte es mir in den Kopf gesetzt, meine eigene kleine Herde um zwei Pferde zu erweitern. Mir war aufgefallen, dass Annas Stute trächtig war. Um diese wenn nötig zu ersetzen, suchte ich ein zweites Reitpferd für meine Frau, damit sie nicht auf eines der Packpferde angewiesen war. Spätestens nach dem Winter, wenn sie unser eigenes größeres Tipi genäht hatte und das Kind da war, brauchten wir die Tiere.

Für mich selbst suchte ich ebenso ein zweites Reitpferd. Mein weißer Hengst hatte sich zwar bei der Jagd bewiesen, doch bisher hatte ich keine Ahnung, wie er auf die Bisons reagieren würde. Sollte ihm die Bisonjagd ebenfalls liegen, dann würde ich mein zweites Pferd für Kriege ausbilden.

Nachdenklich betrachtete ich die Herde. Eine Tigerscheckstute und ihr Fohlen sprangen mir speziell ins Auge. Die Stute war ein Schabrackenschecke, um genau zu sein. Ihr Brustbereich sowie die Beine, Mähne und Schweif waren rotbraun, während die Kruppe weiß mit dunkelbraunen Tupfen war. Ihr Fohlen hatte eine ähnliche Scheckmusterung, nur dass es nicht Rotbraun als Grundfarbe hatte, sondern schwarz war. Zufrieden stellte ich fest, dass es ein Hengstfohlen war. Eines, das fast alt genug war, um von seiner Mutter getrennt zu werden und um die Herde zu verlassen. Denn Leithengste jagten ihre Söhne davon, damit sie ihnen nicht den Rang streitig machten. Die Stute und ihr Fohlen zu fangen, würde weniger Arbeit bedeuten, als wenn ich ein weiteres erwachsenes Tier wählte. Außerdem hatte ich so einen größeren Spielraum, alle Pferde in Ruhe zu trainieren.

Meine Gedanken wanderten zurück ins Dorf, zu meiner Frau. Sie war nach wie vor sauer auf mich. Schwieg mehr als zu der Zeit, als wir noch im einundzwanzigsten Jahrhundert lebten. Sie arbeitete genauso hart und fleißig, wie jede Lakotafrau und ich war stolz darüber, wie schnell sie sich eingelebt hatte. Nur hasste ich es, wie sie mich mit Nichtbeachtung strafte, wenn wir allein waren. Dabei ließ ich ihr schon so viel Spielraum wie möglich, indem ich mit den anderen Kriegern zusammen jagte und unser Zuhause schützte. Wieso verstand sie das nicht?

„Freund, sind deine Gedanken wieder bei deiner Frau?" Otaktay beobachtete mich breit grinsend von der Seite. Der Ausflug war seine Idee und ich war ihm dafür dankbar. Womöglich schätzte Anna mich wieder mehr, wenn sie einige Tage allein verbracht hatte. Über die Stute würde sie sich mit Sicherheit freuen, obwohl sie es belächelt hatte, dass ich anstrebte, unsere kleine Herde zu vergrößern. Mehr Pferde, höheres Ansehen.

„Ja. Ich frage mich, ob ihr die Stute gefallen würde." Ich zeigte auf die Tigerschecke und ihr Fohlen. Mein bester Freund schnalzte anerkennend mit der Zunge.

„Die Stute wird ihr sicherlich gefallen, doch vielmehr solltest du dein Handeln überdenken", mischte sich Matȟó-glešká ein, der sich bisher still verhalten hatte. Ich sah ihn erstaunt an.

„Was meinst du damit?"

„Du hast den Weg der Lakota verlassen. Deine Frau sollte für dich die wichtigste Person sein, doch sie fühlt sich von dir bevormundet." Er wies zu der Herde. „Mit der Stute allein wirst du sie nicht besänftigen können. Auch nicht mit den schönsten Fellen oder den besten Häuten." Der Bär wendete sein Pferd und ritt zu der Stelle, an der wir unser Lager für die Nacht aufzuschlagen planten.

„Matȟó hat recht", sagte Otaktay nun leise und trieb sein Tier ebenfalls zu den Bäumen. Nachdenklich blieb ich auf der Anhöhe zurück. Anna hatte mir schon im einundzwanzigsten Jahrhundert schonend beigebracht, dass ich die Tugenden meines Volkes vergessen hatte. Der Zettel am Spind war nur ein erster Hinweis. Auch später, als sie bei uns in der Villa wohnte, hatte sie mehrfach gesagt, dass ich meinem Adoptivvater vom Verhalten sehr ähnelte. Ich hatte es immer brüsk von mir gewiesen. Doch nun kamen Zweifel auf. Noch einmal schweifte mein Blick zu der Stute, bevor ich mich meinen Freunden anschloss. Die Sonne näherte sich bereits dem Horizont. Wir redeten noch ein wenig, aßen etwas von unserem mitgebrachten Essen und legten uns dann schlafen. Ein Feuer entzündeten wir nicht, da es die Wildpferde in Panik versetzen würde. Eine durchgehende Herde galt es unter allen Umständen zu vermeiden. Wir hatten nicht vor, ihnen tagelang zu folgen, da die Gefahr von Feinden wie den Crow überrumpelt zu werden, immer gegeben war.

Da wir nur zu dritt waren, hatten wir uns überlegt, dass wir versuchten, einige Tiere von der Herde zu trennen. In der Hoffnung, dass diese dann unseren Pferden folgten. Dafür war es notwendig, dass wir ausgeruht und wachsam waren. Gedankenverloren starrte ich in die Ferne, als ich nun unter einem Fell lag. Mir kam wieder in den Sinn, wie mein Ziehvater meine Ziehmutter behandelt hatte.

„Wir können die Jungs doch nicht ständig sich selbst überlassen", wandte die zierliche Frau mittleren Alters ein. In ihren Augen schimmerte es verdächtig feucht. Sie war mir ans Herz gewachsen. Vor allem, seitdem ich endlich ein wenig von dieser fremden Sprache verstand. Doch wusste ich zu genau, dass jegliche Einmischung verboten war. Jack hatte mich davor gewarnt, dass sein Vater sehr streng reagieren würde. Was auch immer das hieß. Gebannt beobachtete ich also die Szene.

„Die Jungs werden von unseren Angestellten bestens versorgt. Den ganzen Luxus hier," der blonde Mann machte eine weiträumige Bewegung, um die Aufmerksamkeit seiner Frau auf die Ausstattung des großen Raumes zu lenken, „können wir uns nur leisten, wenn wir beide hart dafür arbeiten. Vom faul auf dem Sofa liegen und den ach so kleinen Jungen den Kopf tätscheln, können wir uns die Villa, unsere Autos und alle anderen schönen Dinge im Leben nicht leisten. Du möchtest doch so gern auf die Seychellen. Dann musst du dafür auch Opfer bringen."

Opfer. Bei der Familie zu sein bedeutete, ein Opfer zu bringen. Das verstand ich nicht. Die Familie war doch das Wichtigste, was man im Leben hatte. Ohne die Familie und Freunde war man hilflos, allein, aufgeschmissen. Nahrung, Wasser, Unterschlupf. Das alles war schwieriger, wenn man allein unterwegs war. Dieser Mann war seltsam, von Gier getrieben. Und dadurch sorgte er sich, statt das Leben zu genießen. Die tiefen Furchen auf seiner Stirn waren Zeugen dessen, dass er oft über Geld grübelte. Seine schütter werdenden ergrauenden Haare zeigten, dass er sie sich nicht selten raufte. Sein dicker Bauch war wiederum ein anderes Zeichen seiner Gier. Die Gier nach Nahrung und Alkohol. Vor allem Letzteres genoss er in Massen, nicht in Maßen, wenn Jacks Eltern mal zuhause waren. Statt mit seinem Sohn etwas zu unternehmen, mit ihm über dessen Sorgen zu sprechen, trank er lieber dieses Gift, das nicht nur seinen Körper, sondern auch seine Seele langsam vergiftete. Wie sonst war es zu erklären, dass er seine Frau zwang, sich oft von ihrem Sohn zu trennen?

Wie anders war doch das Leben bei seinem Volk. Seit einem Jahr lebte ich in der Welt der Weißen und hasste sie mit jedem Tag mehr. Sowohl diese Welt als auch die Weißen. Sie hatten mein Volk fast ausgerottet. Sie wie ihre Tiere eingesperrt. Ihnen ihre Freiheiten genommen. Nun spielten sich die Weißen auf, als ob sie die eigentlichen Bewohner des Landes waren. Dabei waren sie nichts mehr als die Nachfahren des Abschaums von Europa. Von dort waren sie gekommen. Waren wie die Heuschrecken über die Erde, auf der die Lakota und andere Stämme im Einklang mit den Tieren lebten, hergefallen. Hatten die Erde aufgerissen, ihr schwere Wunden zugefügt, wovon sie sich nie wieder erholen würde. Immense Flächen Land waren durch Ackerbau und Viehzucht verödet, verdorrt, verwüstet. Einzig und allein durch ihre Gier nach mehr Besitztümern. Ich gab mir selbst das Versprechen, niemals so zu werden wie mein Ziehvater.

Hatte ich diesen Schwur gebrochen? Zugegeben, wir besaßen bereits vier Pferde und ich wünschte mir zwei weitere. Vor allem, um damit Annas Leben hier zu vereinfachen. Die Tiere ermöglichten es uns, schneller und weiter zu reisen. Nur durch die Ankunft der Huftiere war mein Volk in der Lage, das sesshafte Leben aufzugeben, und den Bisonherden zu folgen. Bisons bedeuteten Nahrung, Kleidung, Wärme, aber auch dringend benötigte Alltagsgegenstände. Dieses war nicht nur mir, sondern auch meiner Frau bewusst. Hielt sie es für Gier, dass ich ein schönes Leben für sie anstrebte? Oder steckte noch mehr dahinter? Mein Magen krampfte leicht. Ein unsichtbarer Gürtel wand sich um meine Brust, engte meine Atmung ein. Ich übersah etwas. Nur was? Es nagte an meinem Unterbewusstsein. Was entging mir?

Zugegebenermaßen, ich hatte Anna mehr oder weniger dazu gezwungen, mit mir in meine Zeit zu reisen. Hatte ihr alles weggenommen, was irgendeinen Bezug zum einundzwanzigsten Jahrhundert hatte.

Sie fühlt sich von dir bevormundet.

Matȟós Worte trafen mich härter, als mir lieb war. Bestimmte ich wirklich über ihr Leben? Völlig ausgeschlossen! Ich wälzte mich frustriert auf die andere Seite und schloss die Augen. Wenn ich vorhatte, die Pferde für uns zu fangen, sollte ich mal schlafen.

Am nächsten Morgen weckte Otaktay mich unsanft. „Wir sollten aufbrechen, die Herde zieht weiter."

Ich nickte und sprang auf. Matȟó war schon zu einem Canyon in der Nähe aufgebrochen. Wir planten, dort seine zahme Stute als Lockpferd zu nutzen, wenn wir einige Pferde von der Herde getrennt hatten. Etwas nervös war ich schon, denn ich hatte keinen blassen Schimmer, wie mein Hengst auf diese Situation reagieren würde. Er war schnell, aber war er obendrein wendig genug, um ein Entkommen der Mustangs zu verhindern? Das würde ich schon bald erfahren. Unser Freund hatte die Packpferde mitgenommen, daher verstaute ich meine wenigen Sachen auf meinem Reitpferd.

„Wieso habt ihr mich so lange schlafen lassen?" Schon etwas peinlich, dass ich Matȟós Aufbruch nicht mitbekommen hatte. Dabei war ich derjenige, der Anna immer mit ihren Träumereien aufgezogen hatte. Jetzt hatte ich selbst nichts gehört. War ich wohl doch ein verweichlichter moderner Reservatsindianer und kein stolzer Krieger des neunzehnten Jahrhunderts.

„Du hast gestern noch lange wachgelegen. Höre auf, so viel zu denken und fühle stattdessen mit deinem Herzen. Es wird dir einen besseren Rat geben. Oder du bittest die Geister um eine Vision."

Haŋblečeya, die Visionssuche, die er ansprach, war eine der sieben Riten der Lakota. Es bedeutete vier Tage nur mit einer Decke und Pfeife auf einem abgelegenen Berg zu bleiben, und die Geister um eine Vision zu bitten. Ohne Wasser, ohne Nahrung. Um die Bedeutung der Vision zu begreifen, wurde sie nach der Rückkehr mit dem heiligen Mann besprochen. Doch auch er konnte nur Hinweise geben oder einen dazu auffordern, auf Wissen und Verständnis zu warten, da Visionen meist schwer zu verstehen waren. Es war eine gute Idee meines Freundes. Doch jetzt war es an der Zeit, sich auf die eigentliche Mission zu konzentrieren.

Zusammen ritten wir zur Pferdeherde. Die Scheckstute stand mit ihrem Fohlen und zwei weiteren Stuten etwas abseits. Otaktay und ich schafften es im ersten Anlauf, sie von der Herde zu trennen. Zuerst versuchten sie, noch auszubrechen, doch schnell gaben sie auf. Vermutlich, weil die anderen beiden Stuten trächtig waren und dementsprechend leichter ermüdeten. Zufrieden trieben wir die vier zum Canyon, wo unser Freund schon wartete. Er hatte mit Ästen eine Art Absperrung gebaut, mit der wir bei einer Sackgasse die Fluchtmöglichkeiten ausmerzten. Perfekt. Hinter den Pferden schlossen wir die Barriere und beobachteten, wie die Tiere sich nach einiger Zeit beruhigten. Matȟós Packpferd, unser Lockvogel, stand seelenruhig grasend in ihrer Mitte. Wir hielten erst einmal Abstand von den Tieren. Wir würden sie später nacheinander fangen und festbinden, damit sie nicht doch in einem unbewachten Moment wegliefen. Das Hengstfohlen beäugte mich mit schräggelegtem Kopf, was ich als positives Zeichen ansah. Ich nahm mir vor, das Fohlen vor seiner Mutter zu fangen. Vielleicht würde sie dann ebenfalls weniger misstrauisch sein. Das Praktische an Mustangs ohne vorherigen Kontakt zu Menschen war, dass sie durch eine freundliche Behandlung schneller Vertrauen fassten, als Pferde, die zuvor misshandelt worden waren. Menschen waren da nicht anders, schoss es mir durch den Kopf. Anna war sowohl von ihren Eltern als auch von Steffi bevormundet worden. Da half es wenig, dass ich mich ebenfalls etwas aufspielte, weil ich grundsätzlich in dieser Zeit alles besser wusste. War es das, was sie so störte?

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