Kapitel 26 ✔️
Als ich die Augen wieder öffnete, standen wir nicht mehr in dem Höhlenraum. Ich lag auf einem weichen Untergrund im Schatten einiger hoher Kiefern. Moment, bei der Höhle gab es nur wenige Bäume. Verdutzt setzte ich mich auf. Schaute mich um. Traute meinen Augen kaum. Überall um mich herum standen hoch in den Himmel wachsende Nadelbäume. Der weiche Untergrund, auf dem ich saß, entpuppte sich als Waldboden. Vögel zwitscherten weit über mir. Ich atmete tief ein. Die würzige Luft des Waldes war ungewohnt für ein Stadtkind wie mich. Selbst im Reservat hatte es nicht so nach unberührter Natur gerochen wie hier. Womöglich bildete ich mir das nur ein. Was war überhaupt passiert? Takoda würde es mir erklären, versicherte ich mir gedanklich. Wo steckte der Lakota nur? Ich schaute mich abermals um.
Takoda stand einige Meter entfernt von mir und zog sich seelenruhig um. Statt Jeans, Shirt und Sneakers trug er seine indianische Kleidung. Der Wind spielte mit seinen langen Haaren, in die er eine Adlerfeder band. Alle Anspannung, jeglicher Stress, den er zuvor gezeigt hatte, schien von ihm abgefallen zu sein. Und ich starrte ihn nur mit offenem Mund an. Er bemerkte meinen Blick und schmunzelte. Mit funkelnden Augen kam er auf mich zu und hielt mir etwas hin.
„Zieh dich mal um, damit wir meine Leute suchen gehen können. Ich hoffe, dass sie nicht zu weit entfernt lagern."
Wie bitte was? Ich schaute ihn verdutzt an. Seine Leute? Wen meinte er?
„Wo sind wir bitteschön?" Denn dass dies nicht mehr der Ort war, an dem wir in die Höhle gegangen waren, erschien logisch. Dafür sah es zu anders aus. Viel naturbelassener, unbewohnter. Als ob die westliche Zivilisation diesen Platz noch nicht erreicht hatte.
„Noch immer in den Black Hills." Er drückte mir das Weiche, das er mir entgegengestreckt hatte, mit Nachdruck in die Hand. Ohne es zu beachten, starrte ich ihn weiter an. Zugegeben, in den Black Hills gab es mit Sicherheit haufenweise Orte, an denen sich niemand herumtrieb. Aber wie waren wir hier gelandet? Hatte es etwas mit dem seltsamen Licht zu tun?
„Wo sind unsere Mitschüler?" Bisher hatte ich keine Stimmen oder andere Geräusche, die auf eine Horde Schüler schließen ließen, gehört. Ich lauschte. Nein, außer Takoda und mir hielt sich hier niemand auf.
„Hoffentlich noch immer dort, wo sie hingehören. Also weit weg von uns." Den Indianer schien es nicht zu beunruhigen, dass wir hier allein waren. Allerdings fand ich seinen Kommentar wenig hilfreich. Mürrisch sah ich ihn an, um ihm zu verstehen zu geben, dass ich mehr wissen wollte. Sein Gesichtsausdruck wechselte zu nonchalant. Als wäre die Situation, in der wir uns befanden, völlig in Ordnung. Er betrachtete mich kurz, bevor er zu der Stelle zurückging, an der er sich zuvor umgezogen hatte. Dann kramte er weitere Sachen aus seinem Rucksack hervor. Seinen Jagdbogen, sein Beil, einen Köcher mit Pfeilen. Auf eine genauere Antwort wartete ich vergeblich. Ich kam mir vor wie in einem schlechten Film.
„Könntest du mir bitte erklären, was das hier alles soll?" Ich zeigte auf ihn, die Sachen, unsere Umgebung. Mein Magen krampfte sich mal wieder zusammen. Ich kämpfte gegen die Übelkeit an, die mir im Hals hochstieg. Obwohl mir gerade zum Kotzen zumute war, vermied ich es doch lieber. Schon allein, weil ich danach noch mehr Fragen in Bezug auf meine Gesundheit bekommen würde. Und das hatte Zeit. Erst der Weg zurück in die Zivilisation, dann ein klärendes Gespräch.
„Das werde ich, sobald du dich umgezogen hast. Wir können hier nicht ewig bleiben." Der Kerl hatte die Ruhe weg und kümmerte sich weiterhin um seine Angelegenheiten.
Kopfschüttelnd betrachtete ich die Sachen, die er mir gegeben hatte. Es war die indianische Frauenkleidung und mein Messer. Ich verstand zwar nicht, weshalb er es von mir verlangte, aber ich zog mich wie befohlen um. In der Zwischenzeit nutzte Takoda sein Beil, um damit ein Loch zu buddeln.
„Gib mir nun deine anderen Sachen. Auch dein Haarband und deine Uhr." Wieso stand er schon wieder direkt vor mir? An dieses ewige Anschleichen würde ich mich nie gewöhnen.
Widerwillig reichte ich ihm meine Habseligkeiten und sah zu, wie er alles im Rucksack verstaute und diesen dann in das Loch packte. Danach schob er Erde drüber und klopfte sie fest.
„Hoffentlich buddelt hier nie jemand herum. Obwohl, in zweihundert Jahren wäre es vermutlich nicht so schlimm." In einer fließenden Bewegung stand er auf und streckte mir seine Hand entgegen. Ich betrachtete ihn nachdenklich. „Komm, es wird Zeit, dass wir von hier verschwinden."
„Nur wenn du mir jetzt erklärst, was eigentlich los ist." Ich blieb an Ort und Stelle stehen und verschränkte bockig meine Arme. Sah dabei vermutlich aus, wie eine eingeschnappte Fünfjährige, der man ihr Spielzeug weggenommen hatte. So fühlte ich mich allerdings auch. Etwas hatte sich verändert. Und dieses Etwas war nicht nur der Lakota vor mir, der mir einen genervten Blick zuwarf.
„Erzähle ich dir später, wenn wir uns einen sicheren Unterschlupf für die Nacht gesucht haben und ich ein Tier erlegt habe. Komm jetzt." Sein Ton gefiel mir überhaupt nicht. Voller Dominanz, keine Widerrede duldend. Der Typ brauchte hier nicht einen auf großen Macker zu machen. Irgendwo müssten unsere Mitschüler schon sein. Unsere Lehrerin würde garantiert bald einen Suchtrupp für uns zusammenstellen lassen. Doch das kümmerte Takoda wenig.
Leise vor mich hin grummelnd folgte ich dem Blödmann durch den Wald nach unten. Ich war froh über meine Lederleggings, denn einen richtigen Pfad gab es nicht. Immer wieder stiegen wir über Gestrüpp oder umgefallene Bäume. Das Waldgebiet hatte schon lange kein Förster mehr aufgeräumt, schoss es mir durch den Kopf. Zwischendurch blieb Takoda immer wieder mal stehen und lauschte. Ich ahmte es nach, doch das Einzige, was ich hörte, waren die Stimmen der Vögel und Geraschel in Büschen. Reden hatte er mir verboten, nachdem ich ihn wieder genervt hatte. Nach dem Motto, es könnten sich Feinde in der näheren Umgebung aufhalten. Ich würde sie mit meinem Gezeter und Getrampel nur anlocken. Aber sicher doch. Als wenn gleich das Siebte Kavallerieregiment um die Ecke galoppiert kam und die Gewehre auf ihn richtete. Allerdings hatte er in einer Sache recht. Im Gegensatz zu ihm hörte ich mich wie ein Wildschwein an, das durchs Unterholz brach.
Was hatte Takoda vorhin wieder von seinen zweihundert Jahren gefaselt? Im Rez hatte er gern Vergleiche zum Leben zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts gezogen. Und wieso hatte er den Rucksack verbuddelt? Wir waren unter gar keinen Umständen in die Vergangenheit gereist. Sowas war gar nicht möglich. Wahrscheinlicher schien mir, dass dies ein Versuch war, sich mit mir abzusetzen. Die Sachen hatte er versteckt, damit niemand uns schnell auf die Schliche kam. So viel zum Thema, er wollte nach dem Schulabschluss zu mir nach Deutschland ziehen. Ich pflanzte meine Hacken in den weichen Boden. Der Lakota, der vor mir gegangen war, merkte es trotzdem direkt und drehte sich zu mir um.
„Was ist jetzt wieder?" Irritiert stieß er seinen Atem aus. Der Blick seiner dunklen Augen durchbohrte mich. Das Feuer, das in ihnen loderte, jagte mir Angst ein. Nicht, dass ich Angst vor ihm hatte. Nur die Art, wie er sich plötzlich verhielt, war so anders. Seriöser, ernster. Und er gab mir das Gefühl, ohne ihn hilflos zu sein. Ganz so, als ob ich hier in der Wildnis nicht ohne ihn überleben würde. Dabei gab es doch gar keine gefährlichen wilden Tiere mehr in den Black Hills. Bären und Wölfe vertrugen sich nicht mit dem Tourismus, daher hatte man sie entweder getötet oder umgesiedelt. Weshalb sollte ich mich dann so in Acht nehmen? Mein Gesicht spiegelte wohl die Verwirrtheit, die Zweifel wider, denn Takoda seufzte.
„Komm, ich höre einen Bach in der Nähe. Dort reden wir." Sein Gesichtsausdruck zeugte von Besorgnis. Ich hatte das Gefühl, dass er mir etwas verheimlichte. Zugegeben, ich verschwieg ihm ebenfalls eine Kleinigkeit. Ich nahm Wärme an meinem Bauch wahr und schaute an mir runter. Wie von selbst war meine rechte Hand dort gelandet. Schützend. Schnell zog ich sie weg. Dabei bemerkte ich Takodas Blick, der von meinem Bauch hoch zu meinem Gesicht wanderte. Dann bedeutete er mir, ihm zu folgen. Wir liefen noch ein kleines Stück weiter den Berg hinab, bis ich das Glucksen des Wassers hörte. Mein Begleiter setzte sich in den Schatten an einen Baum und streckte die Beine aus. Ich tat es ihm gleich.
„Du willst also Antworten. Ich weiß nur nicht, ob sie dir gefallen werden." Seine Worte verunsicherten mich. Hatte er ernsthaft vor, mit mir abzuhauen? Oder steckte etwas völlig anderes dahinter? Eine Reise in die Vergangenheit etwa? Ja klar, ich hatte wohl zu viel Science-Fiction geschaut. Als ob Zeitreisen im Bereich des Möglichen lagen. Erwartungsvoll starrte ich zu Takoda.
„Wie dir schon aufgefallen ist, hat sich unsere Umgebung geändert. Beziehungsweise, sie ist jetzt wieder so, wie sie sein sollte." Ich blinzelte einige Male schnell hintereinander. Der Typ sprach in Rätseln. „Das Leuchten, das wir in der Höhle gesehen haben, habe ich schon einmal zuvor gesehen. Da war ich zwölf und auf der Flucht vor Feinden. Sie waren mir bereits einige Zeit gefolgt und waren kurz davor, mich einzuholen. Um ihnen zu entgehen, hatte ich mich dann in einer Höhle versteckt. Ein junger Krieger ließ sich nicht beirren und folgte mir. Seine Schritte näherten sich, als eine Höhlenwand plötzlich anfing, hell zu leuchten. Fasziniert, weil ich noch nie zuvor etwas Vergleichbares gesehen hatte, hatte ich sie berührt. Und damit mein Schicksal besiegelt, wie ich lange dachte."
Sein Blick driftete in die Ferne, als die Erinnerung an seinem inneren Auge vorbeizog. Dann wandte er sich wieder mir zu.
„Das Licht hatte mich circa zweihundert Jahre in die Zukunft katapultiert. Deine Zeit."
Mein Kiefer klappte nach unten. Waren wir jetzt bei Verstehen Sie Spaß? Wo war der Kameramann mit seiner Ausrüstung?
„Du erzählst mir doch Märchen." Ungläubig schüttelte ich meinen Kopf. Den Scheiß konnte er jemand anders auf die Nase binden. Grimmig betrachtete ich den Bach, der leise dahinplätscherte.
„Anna." Takodas drängende Stimme ließ mich aufblicken. „Denk doch mal nach. Warum konnte ich wohl bis zu meinem zwölften Lebensjahr kein Englisch? Woher habe ich das alte Wissen? Richtig. Weil ich kein Kind des einundzwanzigsten Jahrhunderts bin."
Er atmete tief durch. Dann fuhr er bedächtig fort.
„Sieben Jahre habe ich mich fehl am Platz gefühlt. Jetzt bin ich endlich wieder dort, wo ich wirklich hingehöre. Und du bleibst bei mir, ob du willst oder nicht." Breit grinsend schaute er mich an. „Ach übrigens, willkommen im neunzehnten Jahrhundert."
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top