Kapitel 10 ✔️


Etwas war anders, als ich aufwachte. Ein schweres Gewicht lag auf meiner Taille, dann bemerkte ich den Körper hinter mir, der sich warm an meinen Rücken schmiegte. Ich öffnete die Augen und starrte die Wand an. Im Zimmer bei Ashley lag ich schon mal nicht. War ich überhaupt am Vorabend nach Hause gegangen? Wohl kaum, wenn ich so darüber nachdachte. Ich erinnerte mich nicht daran. Verdammt. Außerdem, mit wem war ich bitteschön im Bett gelandet? Und vor allem, was war vorgefallen? Mann, dabei hatte ich wie immer keinen Alkohol getrunken. Woher kam dieser Filmriss? Egal, was passiert war, es hätte nicht passieren dürfen. Ich schloss resignierend die Augen. Wie kam ich unbemerkt hier weg?

Ein leises, aber nachdrückliches Klopfen an der Tür. Die Person hinter mir knurrte ungehalten. Mein Atem stockte. Das Knurren war mir zu bekannt.

„Takoda?" Jake trat leise ins Zimmer. Ich presste meine Kiefer fest aufeinander, lag mucksmäuschenstill. Was würde er von mir denken, wenn er mich in den Armen seines Bruders fand? Noch dazu in dessen Bett.

„Was ist?", knurrte dieser nun leise, hielt mich aber nach wie vor im Arm.

„Schläft sie noch? Scheiße, wie viel Schlafmittel hat Steffi ihr nur verpasst?" Sorge klang in seinen Worten mit.

„Keine Ahnung, aber das wird sie noch büßen." Das Knurren wurde grimmiger.

„Das hat Luke schon erledigt. Zum Glück hast du Anna rechtzeitig draußen gefunden." Die Stimme war zu nah. Jake schien vor dem Bett zu stehen. Der Griff um meine Taille verstärkte sich weiter.

„Steffi ist übrigens wütend abgerauscht, nachdem Luke mit ihr fertig war." Jake lachte leise. „Stehst du Faulpelz mal auf? Du hast fast die ganze Nacht im Bett gelegen. Wir sollten mit dem Aufräumen anfangen."

„Ja gleich, gönn' mir noch einen Moment", knurrte Takoda wieder.

„Pass bloß auf, dass sie nicht aufwacht, wenn du noch neben ihr liegst. Die kriegt den Schreck ihres Lebens."

„Ich weiß, aber es war die schnellste Art ihren unterkühlten Körper wieder aufzuwärmen. Hätte ich sie nur etwas später gefunden...", die Stimme hinter mir brach ab. Der Arm verschwand von meiner Taille. Dann stand Takoda mit einem Seufzer auf. „Reich' mir mal meine Sachen rüber. Anna sollte mich wirklich nicht hier erwischen. Und grins mich nicht so blöd an."

„Finde es nur lustig, dass du es mal geschafft hast deine Boxershorts anzubehalten, trotz Mädel in deinem Bett."

„Schnauze. Etwas Anstand habe sogar ich. Außerdem sollte ich nichts bei Anna überstürzen." Kurz darauf verschwanden die beiden Brüder und ich atmete erst einmal tief durch. Ohne den warmen Körper an meinem Rücken wurde mir kalt. Daher zog ich die Decke höher, mummelte mich in ihr ein. Was war gestern Abend passiert? Langsam fielen mir wieder ein paar Vorkommnisse ein. Steffi, die genervt von mir war, weil ich ihr geraten hatte, keine Dummheiten mit Luke anzustellen. Den Orangensaft, den sie mir gebracht hatte. Wie mir auf der Party dann schummrig wurde und ich kurzentschlossen in den Garten lief, um frische Luft zu schnappen. Danach gähnende Leere. Wenn ich das seltsame Gespräch von eben richtig deutete, war ich draußen umgekippt, hatte Takoda mich gefunden und ohne Umschweife in sein Bett verfrachtet. Ich rieb mir über den Bauch, tastete weiter. Das hatte er nicht getan! Fast überall nackte Haut. Takoda hatte mich halb entkleidet. Wieso fiel mir erst jetzt auf, dass ich nur noch das BH-Top und den Slip trug? Wenigstens hatte ich nicht völlig unbekleidet neben ihm gelegen. Dafür schickte ich dem Verrückten gedanklich ein Dankeschön.

Ich klopfte mir an die Lippen. Unterkühlt hatte er gesagt. War es nicht so, dass man durch direkten Hautkontakt schneller wieder aufwärmte? Ich schnaufte leise. So ganz uneigennützig hatte der Frauenheld damit nicht gehandelt. Trotzdem seltsam, dass ausgerechnet er mir geholfen hatte und nicht Jake, der sich mir gegenüber immer freundlich verhielt. Was mich noch mehr wunderte, war, dass es Jake herzlich wenig gestört zu haben schien, seinen Bruder und mich in einem Bett anzutreffen. Gedankenverloren spielte ich mit meinem geflochtenen Zopf, bis ich verdutzt innehielt. Womit wurden die Haare zusammengehalten? Hart, dünn. Das fühlte sich so gar nicht nach einem Haargummi von mir an. Hatte ich meine Mähne auf der Party nicht offen getragen? Ich beäugte das Zopfende. Ein Lederband war fest um die Haare gewickelt, sodass der Zopf nicht wieder aufging. Nur der Chief nutzte Lederstreifen, wenn er seine Mähne flocht. Hatte er meine geflochten, damit sie nicht komplett verfilzte? Jetzt wurde es mir noch unheimlicher. Ich hatte mal in der Gruppe erwähnt, warum ich immer einen Zopf trug. Takoda hatte mir zu dem Zeitpunkt nicht das Gefühl vermittelt, dass er überhaupt zuhörte. Wie so oft hatte er still in die Ferne gestarrt. Als ob seine Gedanken einzig etwas weit Entferntem, etwas nicht Greifbarem gehörten.

Einige Minuten lang fixierte ich die Wand an. Worüber hatten die Jungen gesprochen? Steffi hätte mir ein Schlafmittel verpasst? Allein die Idee überrumpelte mich völlig. Erstens, wieso ausgerechnet meine beste Freundin? Zweitens, wie hatten sie davon erfahren? Das kaufte ich ihnen nicht ab. War aller Voraussicht nach nur eine Masche, um den Keil tiefer zwischen uns zu treiben. Die Mädels rund um Ashley bezirzten Steffi wie blöde, damit sie ihre gesamte Freizeit mit ihnen verbrachte. Ich zog mit den Zähnen an meiner Lippe. Die glorreichen Sieben hatten sich mir gegenüber auf der Party allesamt freundlich verhalten, statt mich wie vorher nur zu dulden. Das roch doch nach einem Hinterhalt. Mein altes Misstrauen war wieder da. Grimmig suchte ich mein Shirt und die Jeans, zog mir beides in Windeseile an. Ich lief zur Zimmertür, als ich aus dem Augenwinkel etwas bemerkte. Ein Zeitungsausschnitt an der Wand über dem Schreibtisch auffiel. Voller Neugierde las ich mir den kurzen Text durch.

Gestern wurde ein etwa zwölfjähriger Lakotajunge allein in den Schwarzen Bergen angetroffen. Gekleidet war er in traditionellen Ledersachen. Er spricht kein Wort Englisch. Wer Hinweise zu seinen Eltern machen kann, meldet sich bitte umgehend bei der nächsten Polizeistelle.

Ich schaute auf das Datum. Der Zeitungsartikel war fast sieben Jahre alt. Das Bild zeigte einen Indianerjungen, der einen kleinen Bogen fest umklammerte und dessen Augen weit aufgerissen waren. Es war derselbe Pfeilbogen, der über dem Artikel an der Wand hing. Altmodisch, ohne Verzierungen. Wie aus einer anderen Zeit.

Hatte Ashley uns gegenüber nicht mal erwähnt, dass Takoda als zwölfjähriger Junge zu Jakes Familie kam? Seitdem waren die beiden so ein Herz und eine Seele wie Steffi und ich. Wobei unsere Unzertrennlichkeit in letzter Zeit drastisch gelitten hatte. Leise schlüpfte ich aus dem Raum. Hoffentlich sah keiner der anderen, in wessen Zimmer ich die Nacht verbracht hatte. Ich seufzte, realisierte ich nur zu genau, dass ich mir selbst etwas einredete. Der Rest der glorreichen Sieben wusste mit Sicherheit schon Bescheid. Ich lief ins Bad und betrachtete mein Gesicht im Spiegel. Befürchtete das Schlimmste, weil ich das Make-up nicht entfernt hatte. Obwohl ich nur etwas Puder und Lidschatten aufgetragen hatte, erwartete ich, dass es verschmiert war. Umso erstaunter musterte ich mein Spiegelbild. Abgeschminkt. Kein verschlafener Panda. Geräuschlos flitzte ich zurück in Takodas Zimmer und betrachtete das Kissen. Ebenfalls keine Make-up-Spuren. Dann fiel mein Blick auf den Papierkorb unter dem Schreibtisch. Daneben lagen zwei Feuchttücher mit, oh Wunder, Farbresten. Ernsthaft jetzt? Schnell ließ ich sie verschwinden. Dann begab ich mich auf den Weg nach unten.

„Guten Morgen Anna. Auch endlich wach?"

Ich erschrak und fuhr mit wild klopfendem Herzen herum. Michael stand vor mir. Mit dunklen Ringen unter den Augen, seine Haare komplett verwuschelt. Dennoch brav dabei, das Chaos zu beseitigen. Das gefiel mir ja am Chief und seinen Kriegern; zusammen feiern, miteinander aufräumen.

Michael drückte mir ein paar leere Flaschen in die Hände. „Mach dich mal nützlich." Dann verschwand er grinsend im nächsten Raum, um die Überreste der Party zu beseitigen.

Ich schüttelte den Kopf. Takodas Zimmer war meiner Vermutung nach das Einzige, das nicht verdreckt war. Jake hatte mir zu Beginn der Party erzählt, dass sein Bruder es immer abschloss. Womöglich hatte er es nur geöffnet, um mich in sein Bett zu legen.

Jake hatte mal erwähnt, dass sein Bruder selbst seine Bettgespielinnen nur mit in eines der Gästezimmer nahm. Oder sie für ein bisschen Spaß bevorzugt gar nicht erst ins Haus ließ. Wieso hatte er für mich eine Ausnahme gemacht? Ich schüttelte den Kopf. Was kümmerte mich die Antwort? Er war eh ein Arsch, der Mädchen nur ausnutzte. Ich lief mit den Flaschen die Treppe runter und brachte sie in die Küche. Dort war Max mit dem Abwasch beschäftigt. Ich legte den Kopf schief, beobachtete seine Bewegungen. Sicher auf den Beinen stand er nicht, so wie er schwankte.

„Lass mich das mal machen, bevor noch was zu Bruch geht." Ich grinste ihn frech von der Seite an.

„Ich wünsche dir auch einen guten Morgen", konterte er mit einem schelmischen Blick, bevor er die Küche verließ. Sein Frohsinn entlockte mir ein Schmunzeln, gleich darauf ein Seufzen. Es zu leugnen brachte nichts mehr. Ich hatte die Bande ins Herz geschlossen. Zumindest solange sie sich nicht irgendwem gegenüber blöd verhielten. Dennoch kam mir ihr plötzlicher Sinneswandel seltsam vor. Heuchelten sie die Freundlichkeit nur oder hatten sie mich gern? Möglicherweise, weil ich nicht so war wie die anderen Mädchen, die ihnen sonst reihenweise zu Füßen lagen. Ich lächelte versonnen, doch stoppte mich gleich darauf. Diese Hoffnung war lächerlich. Es war alles nur ein abgekartetes Puppenspiel, bei dem Takoda die Strippen zog.

Seufzend wusch ich weiter ab. Das Geschirr stellte ich erst in das Abtropfgestell, trocknete es dann ab und räumte es in die Schränke. Ein verschmitztes Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Zu Hause war ich nicht so lieb. Wie oft hatte Mama geschimpft, weil ich den schmutzigen Teller auf der Spüle hatte stehenlassen, statt in unseren Geschirrspüler zu räumen. Doch jetzt, da ich mitbekommen hatte, dass die Brüder meist alleine für sich sorgten und das Haus in Schuss hielten, weil ihre Eltern ständig unterwegs waren, half ich automatisch mit. Ich begutachtete ein letztes Mal die aufgeräumte Arbeitsfläche, überprüfte, ob alles makellos war. Dann sah ich auf die Wanduhr. Es war kurz vor zehn Uhr. Es wurde Zeit, nach Hause zu laufen, damit sich keiner sorgte.

„Jake hat Ashley Bescheid gesagt, dass du noch hier bist und erst heute Abend rübergehst."

„Reicht es dir jetzt nicht mehr dich an mich anzuschleichen? Musst du jetzt auch noch meine Gedanken lesen?" Ich drehte mich seufzend um und sprang vor Schreck einen Schritt rückwärts, denn Takoda stand direkt vor mir. Das mit dem Anschleichen war unglücklicherweise kein Witz. Es bereitete ihm einen Heidenspaß. Auch jetzt blitzten seine Augen wieder vergnügt auf. „Wenn du nicht willst, dass ich einen Herzinfarkt bekomme, solltest du das Schleichen sein lassen", murrte ich.

„So schreckhaft?" Geschmeidig wie eine Raubkatze näherte er sich, drängte mich gegen die Arbeitsfläche. „Das ist es mir wert, wenn ich dann bei dir eine Mund-zu-Mund-Beatmung durchführen kann." Sein Grinsen wurde breiter. Sein Blick ruhte auf mir, schien jeden Millimeter meines Gesichts abzuscannen. Verlegen wandte ich mich ab.

„Du bist echt unmöglich", murmelte ich. Meine Wangen brannten wie bei einem hartnäckigen Sonnenbrand.

„Na, belästigt er dich mal wieder Anna. Ich kann ihn gerne für dich verprügeln", rief John vom Flur aus und wedelte dann mit zwei großen Brötchentüten herum, als er zu uns in die Küche kam.

„Auftrag ausgeführt Chief. Frühstück ist da. Habe sogar den kleinen Extrawunsch erfüllen können", raunte er Takoda zu, bevor er die anderen suchen ging.

„Dann sollten wir wohl mal den Tisch decken." Ich schaute den Chief an, der nach wie vor keine Anstalten machte, mir mehr Freiraum zu gewähren. Stattdessen musterte er mich weiter eindringlich mit seinen dunklen Augen. Dann beugte er sich schlagartig vor, um mich zu küssen. Ich drehte den Kopf blitzartig weg, sodass seine Lippen nur meine Wange streiften. Dennoch verursachte dieser misslungene Kuss ein Kribbeln in meinem Bauch.

„Ey Takoda. Stehe da nicht so faul rum. Und höre auf Anna zu erschrecken." Meine Rettung in Gestalt von Jake war da. Widerwillig knurrend fing der Chief an, den Tisch für unser Frühstück zu decken. Ich kalkulierte schnell im Kopf die Plätze. Wir waren zu acht. Das würde ein wenig eng werden auf den Bänken, und ich hatte nicht vor, unfreiwillig mit jemandem zu kuscheln, der mir auch so schon immer mehr mein Herz stahl. Als wir uns hinsetzten, sorgte ich daher dafür, dass ich zwischen Jake und Michael landete. Takoda setzte sich mir gegenüber und zog eine Augenbraue hoch. Es passte ihm nicht. Das sah ich ihm deutlich an. Aber es war zu meiner Sicherheit. Sonst lag ich demnächst freiwillig mit ihm im Bett.

„Das Schokocroissant ist für Anna, oder?" Luke hatte sich über die erste Brötchentüte hergemacht und reichte mir das Croissant rüber. Ich linste erstaunt zu Takoda, der zufrieden grinste. In meinem Bauch kribbelte es erneut. Ich biss mir auf die Lippe. Hoffentlich bekam ich das bald unter Kontrolle. Der Auftrag war, mit Jake zu flirten, obwohl ich dazu keine Lust verspürte. Steffi würde ausflippen, wenn ich mich auf Takoda einließ. Still aß ich das Croissant, während sich die Jungs über ein bevorstehendes Spiel unterhielten. Dann wechselte das Thema auf die Party vom Vorabend.

„Die Cheerleader-Truppe hatte sich ja ganz schön rausgeputzt." Das war Toms Stimme vom Tischende.

„Da werden einige wohl einen Spachtel gebraucht haben, um das Make-up wieder zu entfernen", prustete Max los.

„Habe übrigens die Bettwäsche aus einem Gästezimmer zur Waschmaschine in den Keller gebracht. Die war zu sehr mit Kriegsbemalung verschmiert", fügte Luke schmunzelnd hinzu.

Ich sah hoch und bekam gerade noch mit, wie Takoda einen warnenden Blick zu ihm rüber warf. Jake versteifte ebenfalls etwas neben mir. Ging es um die Sache zwischen Luke und Steffi, von der sie heute früh geredet hatten? Hatten sie vor, mir zu verheimlichen, was vorgefallen war? Meine Freundin würde es mir später mit Sicherheit erzählen. Vor allem, weil sie laut Jake wütend abgehauen war. Das Gespräch wechselte wieder auf unverfänglichere Themen. Das bestätigte meinen Verdacht. Es war alles nur ein abgekartetes Spiel. Eine Intrige, in die ich immer mehr von beiden Seiten verstrickt wurde.

„Was habt ihr heute eigentlich noch vor?" John richtete sich an Jake, der breit grinste.

„Deutsch lernen, wenn wir Anna schon mal hier haben."

Ich schnaubte entrüstet. „Es ist Sonntag, Jungs. Da habe ich keine Lust auf sowas. Außerdem sollte ich langsam mal rübergehen."

„Ach komm schon, wir schreiben Dienstag einen Test. Für dich ja keine große Nummer, aber ich muss noch üben." Jake setzte seinen besten Dackelblick auf, der mich zum Lachen brachte.

„Na meinetwegen, aber kochen übernehme ich nicht auch noch."

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