|4| Wer bist du?

Die Bässe dröhnen und ich habe die Augen geschlossen, lasse mich nur von der Musik leiten. Ich weiß, ich habe zu viel getrunken und ich weiß, ich werde es morgen bereuen, aber jetzt gerade, genieße ich jede Sekunde.

Vor allem jede Sekunde, die ich gerade keinem Pärchen dabei zusehen muss, wie sie Trockenübungen für zu Hause machen. Denn natürlich sind auch meine Freunde nicht gerade nüchtern. Und wie wir alle wissen, senkt Alkohol die Hemmschwelle. Empfindlich, bei einigen.

Ich werde angerempelt und öffne meine Augen, doch da mich niemand anschaut, wird es ein Versehen gewesen sein. Dennoch hat es mich aus meiner Trance gerissen und ich beschließe, mir etwas zu trinken zu holen. Was ich hier mache, ist echt schweißtreibend.

An der Bar setze ich mich auf einen Hocker und drehe mich mit meinem Cuba Libre zur Tanzfläche. Gierig nehme ich einige große Schlucke, bevor ich mir die Zitronenscheibe schnappe und sie auszusaugen beginne. Mein Blick geht über die Tanzenden, die im rhythmisch wechselnden Licht zuckende Schatten werfen.

Irgendetwas stört mich an diesem Bild. Ich lasse meine Hand mit der Zitronenschale sinken und runzele die Stirn, lasse meine Schultern kreisen, da mich urplötzlich ein unangenehmes Gefühl beschleicht. Ich kann es nicht richtig fassen, aber etwas ist....falsch.

Dann gleitet mein Blick wieder zu den Schatten und plötzlich wird es mir klar: Einige der Schatten bewegen sich völlig asynchron zu den Lichtern und Tanzenden.

Ich schlucke und lasse meine Augen über die Scheinwerfer wandern. Es muss etwas mit der Art der Lichtwechsel zu tun haben...oder? Doch sind diese zu gleichmäßig und dem Beat der Musik angepasst. Zudem kein heftig zuckendes Stroboskoplicht.

Wieder sehe ich auf die Schatten und nun, da ich weiß, worauf ich achten muss, kann ich es nicht mehr übersehen. Einige von ihnen bewegen sich nicht im Mindesten im Takt der Musik, sondern schlängeln eher wie zäher Rauch über den Boden. Auch, wenn sie eindeutig die Schatten von Tanzenden sind.

Das war's mit Alkohol!

Zustimmend stelle ich langsam mein Glas auf den Tresen und bemerke, wie mich eine keine zwei Meter von mir entfernt stehende Frau anstarrt. Ihre Haare sind flammend rot und für ihren Körper würden sich viele Frauen umbringen – und viele Männer würden sich gegenseitig umbringen, um an sie ranzukommen...

Doch trotz ihrer Attraktivität stellen sich meine Nackenhärchen auf, obwohl ich auch hier nicht den Finger drauflegen könnte, warum.

Sie bewegt ihre Lippen, als würde sie mit mir sprechen, doch ist die Musik viel zu laut, als dass ich sie verstehen könnte. Und doch weiß ich, was sie sagt. „Wer bist du?"

Ich sehe unwohl um mich, ob noch jemand diese weirde Situation mitbekommt, doch schaut wirklich niemand in unsere Richtung und als ich zu ihr zurücksehe, ist sie verschwunden.

Hu, das ist wirklich eigenartig. Ich sollte dringend nach Hause. Der letzte Drink war eindeutig schlecht. Ich lasse mich vom Hocker gleiten, als mich ein Kribbeln im Nacken den Kopf wenden lässt. Da! Nun steht sie am anderen Ende der Tanzfläche und wieder starrt sie zu mir.

Wieder stellt sie ihre Frage und ich schaue weg, suche den Tisch meiner Freunde, während mir ein eiskalter Schauer den Rücken hinabrinnt. Was ist das für eine gruselige Tussi? Ich wage einen Seitenblick zur Tanzfläche, doch finde ich sie nicht wieder. Vielleicht bin ich auch einfach nur paranoid.

Ich lecke mir die trockenen Lippen, während meine Schritte schneller werden, ich regelrecht zu dem Tisch meiner Freunde flüchte. Ich stoße gegen jemanden, doch als ich eine Entschuldigung murmeln möchte, erblicke ich feuerrotes Haar und diesmal ist sie mir so nah, dass ich die Frage hören kann.

Mit schreckgeweiteten Augen sehe ich mich um, sehe aber nur die Tanzenden. Reden sie? Schauen sie etwa zu mir?

Quatsch!

Fast bin ich da.

Meine Freunde stecken über dem Tisch die Köpfe zusammen und scheinen über etwas zu tuscheln, als ich zu ihnen stolpere und die Hand nach Toris Schulter ausstrecke, die mir am nächsten sitzt.

„Leute, irgendwas ist hier...", beginne ich, doch entfährt mir ein Schrei, als sie sich zu mir wenden und jeder von ihnen flammend rotes Haar hat und mich mit starren Augen anblickt:

„WER BIST DU?"

Ich fahre mit einem Schrei zusammen und mein Herz hämmert gegen meine Brust, mein Körper zittert unter dem kalten Schweiß und dem Adrenalin, welches durch meine Adern pumpt und es dauert wirklich mehr als nur einen Moment, bis mir klar wird, dass ich in meinem Bett bin.

Meine Augen huschen hektisch durch die dräuenden Schatten meines Zimmers, welche sich alle zu bewegen scheinen und ein kalter Schauer nach dem anderen rinnt meine Arme und den Rücken hinab. Die Bettdecke umklammert und mit einer Atmung, als wäre ich gerannt, krächze ich: „Alexa, Licht an."

Beruhigendes warmes Licht durchflutet den Raum und tilgt sämtliche Schatten, in denen sich etwas verstecken könnte. Ja, nachts im Dunkeln glaube ich an weit mehr Ungeheuer, als am Tag. Und ja, ich glaube anscheinend auch daran, dass sie mit Licht zu vertreiben wären.

Ich spüre, wie ich langsam ruhiger werde und atme tief durch, fahre mir mit zittriger Hand durch mein Haar. Dann stehe ich auf und öffne das Fenster. Die allererste Morgenröte zeigt sich am Horizont und nimmt noch mehr der Unruhe mit sich. Ich liebe Sonnenaufgänge...

Dennoch will das ungute Gefühl nicht ganz weichen und so gehe ich in die Küche, mir einen Kaffee aufzusetzen. An Schlaf ist nun nicht mehr zu denken. Natürlich mache ich auch hier überall das Licht an, lasse das Radio aber aus, als hätte ich Angst, eine Gefahr zu überhören. Denn immer noch trage ich diese Anspannung in mir.

„Reiß dich zusammen", raune ich mir zu und reibe über meine Oberarme. Schnell greife ich mir meinen Kuschelpulli, den ich gestern achtlos auf die Couch geschmissen habe, als ich mich, wie sooft zu spät, fertig gemacht habe für den Abend.

Der Abend... Es fällt mir schwer, das wirkliche Geschehen von dem des Traums zu trennen, wirkte alles darin so verflucht echt. Gut, bis auf den Schluss, vielleicht. Aber auch da will die Unruhe nicht ganz weichen. Ich träume eigentlich nie. Nicht, seit ich erwachsen bin. Und nun derart plastisch...

Ich sollte wirklich weniger trinken. Oder will mir mein Unterbewusstsein etwas sagen? Ich meine die Frage ‚Wer bist du?' ist doch ziemlich essentiell. Tja...wer bin ich denn? Ich nehme einen Schluck meines Macchiatos und schaue seufzend nach draußen, wo langsam die Sonne aufgeht.

Eine neunundzwanzigjährige Singlefrau, die in einer 43 m2 Wohnung lebt, von Job zu Job hüpft, während sie immer noch versucht, herauszufinden, was das Richtige für sie ist, und die nur deswegen keine Katze hat, weil Conner sie sonst Verrückte Katzenlady nennen würde. Aus Spaß. Natürlich. Und dennoch würde es mich treffen. Ich bin ja nicht aus Überzeugung Single.

Ist es das? Dass Conner, mein bester Freund, nun ebenfalls heiratet und ich damit die einzige der Clique bin, die noch niemanden dazu bekommen hat, sie so sehr zu mögen? Zu lieben?

Oder war der Traum realer, als ich gerade denke und hat etwas damit zu tun, dass ich... na ja... einen Dämon beschworen habe? Erneut stellen sich meine Nackenhärchen auf und ich sehe mich unwohl um. Ich meine, es könnte doch gut sein, dass ich...keine Ahnung, die Grenzen zwischen den...uhm...Welten etwas geschwächt habe? Oder...

„Ach, so ein Unsinn!"

Ärgerlich auf mich selbst erhebe ich mich und leere meinen Kaffee. Ich bin einfach nur aufgeregt. Und habe gestern etwas zu viel getrunken. Und natürlich ist die Tatsache, dass ich einen Dämon beschworen habe nicht spurlos an mir vorübergegangen.

Aber so sollte der Tag heute ganz sicher nicht starten. Conner kommt nachher vorbei, sodass wir uns gemeinsam für die Hochzeit fertig machen. Nur wir zwei. Also beschließe ich, duschen zu gehen und Traum Traum sein zu lassen. Heute ist Conners und Bens Tag und ich werde einen Teufel tun, ihn wegen irgendwelcher Hirngespinste zu versauen.

Zumal ich mit eben jenem ein Date habe.

Zufrieden mit der Richtung, die meine Gedanken einschlagen und mit einem Prickeln der Vorfreude gehe ich ins Badezimmer.

Doch trotz wiedergefundener Laune traue ich mich nicht, in die schattigen Ecken des Flurs zu schauen, den ich schnellen Schrittes durchquere.

Denn als Nachbeben des Traums schien es mir, als würden sie sich bewegen.

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