Kapitel 1

Einige Wochen später ...

Der Staub der Jahrhunderte explodierte in einer gewaltigen Partikelwolke aus dem Eichenholzschrank, als wären die mit Schnitzereien verzierten Türen des Möbels über die Dauer mehrerer Generationen nicht mehr geöffnet worden. Ein Beobachter der Szenerie hätte beim Anblick der tanzenden Staubkörnchen in den Lichtkegeln wohl meinen können, auf der Kleidung des Gewürzhändlers hätten sich nach dessen Dahinscheiden auch Pfeffer und Salz zur letzten Ruhe gebettet, ehe sie von einer schwungvollen Bewegung meiner Arme aus ihrem Dornröschenschlaf geschleudert worden waren. So trudelten nun allerlei Momentaufnahmen eines viel zu lange gelebten Lebens in Pulverform durch Stube der Vorstadtwohnung und flirrten in den ersten Strahlen der Morgensonne mit den Staubteilchen der Inneneinrichtung um die Wette. Eine Wolke aus Paprika, Chilli und Ingwer.

Hätte man mich noch vor einigen Wochen nach meinen Vorstellungen von den Berufen im Gewürzhandel befragt, so hätte ich mich vermutlich dem Schwelgen an die furchtlosen Abenteurer auf den Handelsstraßen hingegeben und von den Geschichten aus den fremden Winkeln der Königsländer berichtet. Hätte man mich nach dem Duft ihrer Kleidung gefragt, so wäre ich zweifelsohne den Märchen aus der Feder der viel zu poetischen Bibliotheksschreiber in der Kronstadt verfallen. Ich hätte ihnen geglaubt, es wäre der Duft von Geschichten, Reisen und dem freien Leben auf den Straßen des Königs.

Wenige Wochen in einer Zweckgemeinschaft mit der Witwe des Gewürzhändlers hatten mich eines Besseren belehrt. Der Geschmack von Geschichten verwandelte sich in eine erbarmungslose Dauerduftwolke und ...

Heilige Schöpfer unter den Bergen!

Die ach so romantisch betitelten Abenteuer hatten sich über die Dauer eines ewigen Lebens in den Lehmschichten des Vorstadtgebäudes festgefressen, ja, sogar mein Haar im Laufe weniger Tage mit einer unverkennbaren Note der Marriknollen aus dem Nebenzimmer der Stube versehen. Obgleich ich den Spuk der Geruchskombinationen jeden Morgen mit dem Blut und dem Dreck der Nächte von meiner Haut zu waschen versuchte, so verfolgte mich das Erbe des Gewürzhändlers doch wie mein eigener Schatten.

Gerebelte Kräuter und staubende Pulver. Petersilie, Salbei, Rosmarin ...

Igitt, Thymian ...

Die Sinne einer Glaserin erfreuten sich an solch hübschen Tandereien weit weniger, als manch einer meinen mochte.

Aus diesem Grunde schlug ich mir im Verlauf der Gewürzexplosion reflexartig den Ärmel meiner Nachtgewandung vor Mund und Nase, um nicht von der schieren Gewalt aller Noten zwischen den Düften erschlagen zu werden. Das Öffnen des Wandschranks erinnerte noch immer an den Mann, der einst in der Wohnung lebte. Die fatalen Ausmaße eines Jahrtausends. Gerüche, Staub und noch mehr verstaubte Kleidung.

Mit den Augen wanderte ich über die sorgsam aufgestapelten Gewandungen in einem Fach des Eichenholzschranks und sortierte die Lederhosen des Gewürzhändlers in Gedanken nach ihrem Alter, als könnte ich mir unter den teilweise ausgeleierten Stoffen mit Glück noch etwas Passendes finden. Nach all den Jahren lagen noch immer Kombinationen aus Hemden und Ledern in passenden Paaren; sie bildeten in von Gürteln umschlungenen Päckchen ein Fundament für die Reisemäntel, die wie eine Schutzdecke über den Kleidungsbündeln drapiert worden waren. Leder, Leinen und feinere Seide schmiegten sich mit ihren kostbaren Stofflichkeiten an die gröber gewobenen Kleidungsstücke eines Wanderers zwischen den Ländern und falteten eine Palette der mannigfachen Materialien der Stadtmode auf, lockten mit allerlei gefärbten Geweben, die sich nur ein gut betuchter Herr in diesen Gebieten des Kronlands leisten konnte.

Der Staub der Jahrhunderte wirkte ganz verloren dazwischen.

Jedoch erwiesen sich auch die Hosen des Hausherrn nach einer ersten Einschätzung nicht tauglicher als die Ersatzkleidung seiner Gattin, die mir die Gewürzhändlerin Begina bei meinem Einzug freundlicherweise für den Fall der Fälle zur Verfügung gestellt hatte. Die hochgewachsenen Körper der meisten Lehma würde so manch ein Fremder aus den Landen der Glaser wohl als eher drahtige Gestalten bezeichnen, die noch zierlicheren Körper der Frauen wohl beinahe als langen Schattenriss der anderen Bewohner des Landes. Und obgleich sich die deutlich größeren Männer in deutlich größere Kleidungsstücke einhüllten, so würde sich der weibliche Körper einer Glaskriegerin wohl nur schwerlich in den Hosenbund der Schneiderarbeiten einfügen lassen.

Das Leben an diesem Ort ...

Ich verspürte Dankbarkeit gegenüber der Frau, die mich in einer unheiligen Nacht von den Straßen las ... Doch erschien es mir an so manchen Tagen vielmehr, als wäre ich nun das letzte Teil eines Puzzlespiels auf einem der wunderschön gerahmten Scherbenbilder an den Wänden und könnte mich mit meinen Ecken und Kanten einfach nicht in dieses Bild der Welt einfügen, als würde ich schlichtweg nicht in die Welt aus Gewürzen und freundlich lächelnden Lehma gehören, als wäre ich Teil jener Welt und gleichzeitig fremd. Unter den sanften Bewohnern aus den Lehmadörfern, die sich am Rande der königlichen Hauptstadt mehr und mehr zu einer Art Vorstadtkultur zusammenzufassen begannen, sah ich mich so manches Mal als Treibgut gegen den Strom ihrer Massen. Allesamt schienen sie mir friedliche Bürgerinnen und Bürger zu sein, die mich für meine nächtlichen Tätigkeiten in den Glasgruben der Unterstadt verurteilt oder mit einer höflich gehaltenen Bitte an die Tore des Lehmaviertels eskortiert hätten. Ich selbst wirkte wie der Staub der Jahrhunderte zwischen ihnen – verloren. Fehl am Platz. Und in den illegalen Glasgruben der Subkultur in den Winkeln der Vorstadt-Dorf-Strukturen, die mir in den letzten Wochen bei den Unterhaltungskämpfen durch Wetten meinen Lebensunterhalt sicherten ...

Nun, nach den Vorfällen der letzten Nacht würde sich mein Puzzleteil nicht einmal mehr in die Untergrundszene einfügen lassen. Mein Körper mochte der einer Glaserin sein, meine braunen Augen mochten sich noch unter einer Schicht weißer Farbe verbergen ... Aber das menschliche Blut, das bei einem Streifschlag des Gegners aus meiner Lippe gesprudelt war, das würde mich wohl für die Glaskrieger aus dem erlesenen Kampfkader exkludieren.

Eine Welt mit zu engen Maßen.

Eine Glaserin ohne Einkommen in den Vororten der Königsstadt, der Kronstadt der Raben.

»Ach, verfluchter Bockmist noch eins!«, knurrte ich.

Mitten unter den friedlichen Fischen, in einem brodelnden Kessel aus Kulturen und Gerüchten über ein zerbröckelndes Königreich, orientierungslos und mit der Weitsicht von einem Tag auf den nächsten ...

Gestrandet. An welch skurrilen Ort hätte sich mein Puzzlestück auch einfügen können?

Es gab keine Heimat. Keine Identität. Und mein Name entsprang einer Bezeichnung für die Unglücklichen, die ohne Namen in diese Welt geboren worden waren.

Ein resigniertes Seufzen entrang sich den Tiefen meiner Brust, als ich meine Hände in einer vorsichtigen Bewegung über die Prellungen meiner Oberarme gleiten ließ. Dann bohrten sich meine Finger durch die weiten Schwünge meiner Nachtgewandung in die Formen meiner Taille hinein, drückten bei der Ausatembewegung die Kurven meines Körpers so weit als möglich nach innen und unternahmen den lächerlichen Versuch, meinen Glaserhintern mit Gewalt auf die Größe eines männlichen Lehmagesäßes zusammenzudrücken.

Beinahe hätte ich darüber gelacht. Hätte ich mich in diesen Augenblicken vor einem Spiegel gesehen, so hätte ich es ganz sicher getan. Aber mochten mir auch die Schöpfer unter den Bergen in den vergangenen Wochen so manches Mal eine Komödie vorgespielt haben, so wollte ich bei all den Ecken und Kanten meiner Person doch verflucht sein, mir nicht selbst einen Platz in dieser wankenden Welt zu erobern.

Na schön.

Ich pustete mir die weißen Locken aus meinem Sichtfeld.

»Dann wollen wir mal eine annehmbare Bekleidungskombination für den Wochenmarkt improvisieren.«

***

Der Trubel in den Gassen der Vorstadtdörfer ließ mich beim Verlassen des Hauses mit einer Wand aus viel zu lauten Geräuschen kollidieren und stahl mir selbst nach einigen Wochen der Gewöhnung noch immer für die Dauer eines Herzschlags den Atem. Für einen Moment berauschte mich das Meer aus buntgewürfelten Bevölkerungsgruppen mit seinen Tönen und Stimmen, die sich an den Markttagen mit allerlei Dialekten durch die Gassen zwischen den Lehmahäusern schlängelten. Ein harter Bruch mit den anderen Tagen des Mondlaufs, an denen sich hauptsächlich die weniger gut betuchten Mitglieder der Lehmagruppierung auf den Straßen zu ihren Tagewerken begaben. Nun aber fanden sich sämtliche Gesellschaftsschichten und Gildengruppierungen in den Gassen an den Hängen des Rabenbergs und vermengten sich im Getöse der durcheinanderplappernden Stimmen zu einem Flickenteppich so vieler Ländereien, dass die Grenzen zwischen Glaser und Lehma mit einem Male in die Vergessenheit der Hinterhöfe geschluckt zu werden schienen. All die absonderlichen Gestalten des Kronlands ... vermengt in den Häuserschluchten der ärmeren Stadtbezirke.

Die Karren der Reisenden holperten mit ihren oftmals heruntergekommenen Rädern hinter den Hufen der Maultiere über die Pflasterwege der Unterstadt und schlängelten sich mitsamt ihrer klappernden Waren durch die Massen in Richtung der höhergelegenen Plätze. Wie eine einzige Welle schien sich die Menge der Vorstadtbewohner über den Anstieg auf das Marktplateau schieben zu wollen, schwappte mal zu der einen Seite der Häuserreihen an die Fensterverkäufe der Manufakturen und brandete dann wieder gegen die andere Seite, um sich dort mit dem ein oder anderen Imbiss zu versorgen. Der Duft von gebratenem Fleisch legte sich als verlockende Wolke über die Köpfe der Marktbesucher und hüllte sie in eine Glocke aus allerlei Gewürzen, aus Bratensaft und den Dämpfen der Steckrüben in den hölzernen Schüsseln.

Wäre ich nicht durch die duftenden Abenteuer meiner Bleibe gezeichnet gewesen, so hätte ich mich den Reizen der Tage wohl hingeben können. Zu Beginn meiner Zeit in den Dörfern der Vorstadt hatte ich die Märkte wahrlich geliebt. Aber möglicherweise würde ich den Zauber der Gassen in einigen Jahren wieder lieben lernen und auch die Duftglocke über den zahleichen Dielenläden wieder für mich entdecken, sollte ich mir zu diesem Zeitpunkt bereits ein Leben abseits der Gewürzhäuser aufgebaut haben. Denn diese wunderbar chaotischen Lehmakolonnen und die wunderbar schiefen Häuser dahinter, die wunderbar bunten Girlanden an so manch einem Fensterladen und die wunderbar schräg anzusehenden Verzierungen an den hölzernen Türen, die entfalteten doch ihren ganz eigenen Zauber auf die Besucher der Stadt. Da waren so viele Häuser mit schrägen Fachwerkwänden und so viele Schnitzereien auf den Stützbalken zwischen den lehmgedeckten Abschnitten, so viele der pittoresken Abbildungen von Tierkörpern auf den Türen der Häuser und so viele Schnörkelbildnisse von Kobolden und Feen, von Fratzen und Wesen aus alten Geschichten.

Die Vorstellung, eines dieser Häuser könnte mein eigenes sein ... Ein wenig abseits womöglich. Aber zentral genug. Die Vorstellung eines eigenen Lebens mit einem Zugang zu Feiern und Festen, zu Tanz, Musik und Farbe, die ich vielleicht wieder auf andere Weise schätzen könnte ... Ja, dies war eine Vorstellung, die mir durchaus gefiel.

Ich ließ mich vom Strom der unablässig nach vorn drängenden Lehmahändler in Richtung der Marktplätze treiben und navigierte zwischen den Männern und Frauen in die Mitte der Straße, um nicht durch eine unachtsame Bewegung gegen einen der privaten Dielenläden gerammt zu werden. Obgleich die Lehma an vielerlei Orten als die friedlichsten unter den Bewohnern des Kronlands galten und sicherlich nie ohne triftige Begründung eine Faust gegen einen anderen erhoben hätten, so hatte ich doch so manchen unfreiwilligen Haken eines Marktbesuchers am eigenen Leibe gespürt, ja, auch die ein oder andere Handbewegung schon verdächtig nahe an meinen Augen vorbeiziehen sehen. Füße um Füße drängelten sich unter Kleidern und Hosen auf den Pflastersteinen aneinander vorbei; Füße um Füße, die sich unter all den Lehma teilweise unbedacht ihre Trittflächen auf der Wegfläche suchten.

Ach du heiliger Wetzstein!

Was fand ich mich in diesen Momenten doch froh, dass aus der Reitkleidung meiner Gastgeberin nun doch eine Männergewandung mit verstärkten Wanderstiefeln geworden war. Da mochten die Männer unter den Marktbesuchern noch so verdutzt auf das weiße Männerhemd starren, das ich bloß unordentlich in den Bund einer schwarzen Männerhose hatte stopfen können ... Bekleidet erschien mir allemal besser als nackt. Und die Schuhe erwiesen sich als echtes Geschenk.

Mit einem Schmunzeln der Erheiterung auf meinen Zügen stiefelte ich an einem doch sehr irritierten Lehma-Gesicht vorbei, schob mich zielstrebig zwischen zwei weiteren Lehmamännern hindurch und genoss das Gefühl eines freieren Atems in meinen Lungen, nachdem der offene Himmel über den Dächern wieder ein wenig Ballast von meinen Schultern gehoben hatte.

Mit einem Male erschien es mir vollkommen gleich, dass ich mich an diesem Morgen in die staubende Kleidung eines Gewürzhändlers hatte zwängen müssen, vollkommen gleich, dass ich in dieser Vorstadt der Lehma wohl immer Teil einer Minderheit aus fernen Gefilden sein würde. Mit den Blicken der Menschen auf meiner Person kehrte ein verblassendes Teilstück meiner Persönlichkeit wieder an den rechten Platz zurück.

Nach der letzten Nacht ...

In den Wuseleien der Straßen konnte ich beinahe die Demütigungen der anderen Glaser verdrängen und die groben Hände in meinen Haaren ein wenig besser vergessen, die Fäuste – und die dazugehörigen Fratzen der Krieger, die mich aufgrund meines roten Blutes und mangelnder Reinblütigkeit wie einen Straßenköter aus den Gruben geworfen hatten.

Heute ist alles anders.

Meine Glaserseele reagierte instinktiv auf die Massen.

Wie ein Verdurstender trank ich die Aufmerksamkeit der wenigen Augenpaare auf meinem Körper, schwamm mit dem Strom in Richtung der Plätze durch die Hangpassagen der Vorstadt hindurch und scherte mich nicht mehr im Mindesten darum, dass es sich bei den verwunderten Blicken nicht um besonders positive Eindrücke auf den Gesichtern der Lehma handeln mochte. Obwohl so manch einem anderen Glaser ein Ausdruck der Bewunderung in den Zügen der Umstehenden am Grunde ihrer ewigen Herzen bei Weitem lieber gewesen wäre, nahm ich, was mir die Massen in den Straßen darbieten konnten, nahm und trank und heilte den zerbröckelnden Teil meines Selbst. Die Lehma wichen kaum merklich auseinander, wussten nur viel zu gut um die Ernährungsweise der Glaser.

Keine physische Nahrung. Die Nahrung unserer Seelen. Ein Zusatz zu den Speisen, von denen sich unsere Körper ernährten. Meine Seele ernährte sich von den Blicken anderer Personen, von ihrer Aufmerksamkeit oder meinem eigenen Adrenalin. Und sie nährte sich auch an diesem Tage von den Besuchern des Marktes bis in den Rausch, der mich die Demütigungen aus den Gruben vergessen machte. Der Rausch der Glaser.

Ebenjener Rausch legte sich nun in Form einer honiggoldenen Wärme über mein gesamtes Nervensystem und kleidete mich in ein Gefühl der Vollkommenheit, als hätte ich nicht die Blicke der Lehma sondern einen Schluck aus den Quellen der Schöpfer getrunken; Zerbrochenes rastete ein, schob sich wieder zusammen – und mir war für einen Augenblick, als schwämme ich durch verflüssigtes Glück.

Die Lehma schienen das neu erklingende Lied meiner Seele trotz der tosenden Geräuschkulisse in den Schöpfungsfasern ihrer Körper hören zu können. Nicht, dass es auf einem Markt einen Grund zur Sorge gegeben hätte. Kein Rausch, den sie in irgendeiner Form fürchten müssten. Es war nur der Respekt vor einem scherbenscharfen Lächeln auf den Lippen einer Glaskriegerin, das schon so manch einen den Verstand verlieren ließ.

So mahnten sich die anderen Marktbesucher aus reiner Vorsicht vor Eventualitäten und Kausalitäten, den Blick dann doch besser von meiner ungewöhnlichen Bekleidung auf die plötzlich sehr interessanten Girlanden an den Fensterläden der Häuser zu lenken.

***

Unter all den schindelgedeckten Dächern der Vorstadt, am Rande des großen Marktplateaus, wichen die kunstvoll verzierten Häuser der Lehmabevölkerung in einem mondsichelförmigen Halbkreis auseinander. All die Flaschenhalsgassen mündeten wie die Strahlen eines dazugehörigen Sterns in den Markt und fächerten die unterschiedlichen Viertel nach solch akkurater Planung auf, dass sie im Kontrast zu den Fachwerkhäuschen mit ihren fast schon feenhaften Naturgestaltungen aus der Planungsfeder eines anderen Volkes zu stammen schienen. Während im Zentrum all jener Kuriositäten zwei vollkommen verschiedene Welten in einem Sammelsurium der Kulturen aufeinanderprallten, schufen sie aus dem vermeintlich chaotischen Wirrwarr eine ganz neue Welt mit eigener Ordnung.

Auf dem Platz spiegelte sich die anarchistische Mélange in Form vieler Stände. An den Mauern der Marktplatzbegrenzung ließen sich allerlei Tische mit Waren erkennen. Schmiede und Gerber. Köche und Künstler. Händler, die Waren aus dem gesamten Kronland auf den Auslageflächen der Stände anzupreisen versuchten und wirklich nützliche Gerätschaften zur Erleichterung des Alltags darboten – aber auch die befremdlichsten Dienstleister aus anderen Sparten, die sich mit ihren Fähigkeiten bei den Magyr einen Auftrag im Namen eines Adligen sichern wollten.

Wie so oft fragte ich mich, ob die Märkte der oberen Kronstadt eine solche Vielfalt noch übertreffen konnten. Ob sie anders wären. Oder möglicherweise doch gleich.

Jedoch hatte ich mich mit den begrenzten Mitteln in meinen Taschen lieber nicht auf die anderen Märkte gewagt, mich nicht einmal in die Nähe der Tore zu den oberen Stadtbezirken des Rabenbergs begeben. Nein, zu groß erschien mir die Sorge, ich könnte mich in einem schwachen Moment von den Angeboten der Händler verführen und mich zu einem unbedachten Kauf von Waffen oder Büchern oder Kleidung hinreißen lassen. Schließlich hatte die Frau des Gewürzhändlers von den höheren Standgebühren der zentraleren Lage berichtet und erwähnt, sie würde aus diesem Grunde seit dem Tod ihres Gatten nicht mehr auf den oberen Märkten verkaufen – das Einkommen sei mit den Jahren immer mehr in den Händen ihrer Lieferanten geschmolzen und müsste zu großen Teilen in die Reiseunternehmungen anderer investiert werden, sollte sie sich nach dem Entfallen der eigenen Unternehmungen noch als Eigentümerin eines kleinen Geschäfts halten wollen.

Kein Verkauf auf den oberen Rängen mehr möglich. Ich nahm an, dass sich die Gebühr für die begehrteren Plätze auch in den Preisen niederschlagen würde. Ohnehin waren die Märkte mehr Arbeit als reines Vergnügen, doch ...

»Idis!«

Im Schrecken über den plötzlichen Ausruf meines Namens stolperte ich beinahe über meine eigenen Füße und konnte mich nur schleudernd vor der Kollision mit einem rollenden Fass auf den Verladeschienen bewahren. Die Stimme der Gewürzhändlerin riss mich mit solch einer Wucht aus meinen Gedanken, dass ich mehrere Sekunden zur Neuorientierung unter all diesen umherschlendernden Lehmagestalten benötigte ... und erst weitere Sekunden später die winkende Gestalt meiner Gastgeberin hinter einem Stapel aus Holzkisten und Jutesäcken entdeckte.

Heilige Schöpfer und bei ihren Mächten! Begina!

Die Frau habe ich ja gar nicht gesehen ...

Noch während mein Herz im plötzlichen Schockzustand eine Kapriole nach der anderen vollführte, verfluchte ich meine driftende Aufmerksamkeitsspanne in buntgefächerten Mengen wie diesen und hob die Hand über meinen Kopf, um die Geste der Lehma hinter den Standreihen zu erwidern.

»Schon unterwegs!«, rief ich über den lärmenden Trubel hinweg.

Im Gegensatz zu dem Ausruf einer Marktschreierin wurden meine Worte jedoch alsbald in der Geräuschkulisse verschluckt.

Ich wartete die Passage eines weiteren Weinfasses auf den steinernen Schienensystemen des Marktplatzes ab und schob mich dann vor einer weiteren Ladung über die halsbrecherische Stolperfalle zwischen den erhöhten Pflastersteinen, ehe ich mich durch die Gassen der Händlertische in Richtung meiner eigenen Arbeitsstelle schlängelte. Abermals wirbelte ein Farbenwirrwarr der unterschiedlichen Trachten und Gewandungen vor meinem Sichtfeld vorbei, schob sich mal vor die Gestalt der Gewürzhändlerin, gab die Sicht wieder frei und schwappte dann wieder vor ihre Silhouette, sodass man sich unter all den durcheinanderwirbelnden Menschen auch im Umkreis weniger Meter hätte verlaufen können. Wie fleißige Eichhörnchen vor Einbruch des Winters wuselten in diesen Bereichen Frauen, Kinder und Männer umher, schoben sich gegenseitig an den Auslageflächen der Händler vorbei und blieben so manches Mal an einer äußerst ungünstigen Stelle inmitten der Handelspassagen stehen. Niemand beschwerte sich. Niemand echauffierte sich. Auf den Märkten der Lehma entschuldigte man sich noch gegebenenfalls für eine Berührung oder eine Rempelei, die sich bei all dem Chaos nicht hatte vermeiden lassen.

»Entschuldigung«, hörte ich mich prompt murmeln, als ich dann doch etwas unsanfter gegen den Arm eines Menschen stolperte.

Kurzzeitig sah ich einen Schleier schwarzer Kleidung. Menschliche Haut und menschliche Augen.

Dann erkannte ich eine in sakrale Gewandungen gehüllte Gestalt mit einem Notenheft in den verschränkten Armen – eine Gestalt, die ihren in Stoffe gewickelten Kopf in einer Abwärtsbewegung zu Boden senkte. Die schwarzen Wickelleinen verwandelten den seltsamen Bewegungsablauf in den noch viel groteskeren Anblick einer menschlichen Puppe und zwangen die Motorik seines Oberkörpers in abgehackt erscheinende Phasen, als würde dieser Mann unter den Stoffen tatsächlich von unsichtbaren Fäden gezogen werden. Er selbst erschien mir unter den Schatten der Gugel kaum selbst mehr als Schatten zu sein. Irgendwie ... verschleiert. Verborgen.

Verboten.

Trotz der Messekleidung aus den Oberstadtkirchen mochte man beim Anblick des Fremden nicht an eine Gebetsstunde denken ... Und wäre das Gesicht des Mannes nicht Sekunden später in den Massen verloren gewesen, wäre dieser Mann nicht mit der bizarren Gugel über dem Gesicht unter den Lehma verschwunden ... Ich hätte wohl bei den Schöpfern geschworen, dass sich seine Augen beim Anblick meiner Züge erkennend geweitet hatten.

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