Kapitel 2b

Ich war mir nicht sicher, wie lange ich mein Gesicht mit angehaltenem Atem im Schatten des Eimers verbarg und wie quälend langsam sich das Gefühl aus meinen Eingeweiden drehte ... Aber es vergingen Ewigkeiten des Schweigens über den Gemächern der Krone, die in der Finsternis irgendwo zwischen Minuten und Sekunden an Bedeutung verloren haben schienen. Der Schmerz nahm den Begrifflichkeiten von Zeit die Bedeutung. Der König selbst sagte zunächst kein einziges Wort, während ich den Eimer mit meinen Armen umschlang. Erst nach Sekunden und Ewigkeiten spürte ich eine fragende Berührung an meinem Oberschenkel, als wäre er sich der Berührung zunächst nicht so sicher.

»Tief durchatmen«, vernahm ich seine Stimme dann leise. »Das ist vorbei. Es ist geschehen, aber es ist vorbei. Du bist in meinen Gemächern.«

Ich drängte den angehaltenen Atem mit einem gewaltsamen Stoß nach außen, ehe ich Laurin ein Nicken signalisierte.

»Ich weiß ... Ich ...«

»Kannst du den Kopf heben und die Augen öffnen? Manchmal hilft es, wenn man sich bewusst macht, wo man ist.«

»Laurin, es ist schon besser. Ich weiß es zu schätzen, aber ich ... Es ist besser. Mir ist einfach nur elend.«

Elend. Als wäre es derart simpel gewesen.

Selbst die Dunkelheit zersprang vor meinem Sichtfeld in einem scherbenscharfen Spiegel aus Morgenlicht, als ich den Kopf unter Aufgebot meiner gesamten Willenskraft aus dem Schutz des Eimers zu heben wagte. Ich konnte das Zittern nicht vor ihm verbergen. Weißer Glanz blendete meine Glasersinne mit einer Leuchtkraft fernab von gewöhnlichen Kristalltageslichtspendern und verlief vor meinen Wahrnehmungsgrenzen zu einer pulsierenden Sammlung von Formen und Schatten, ehe sich die Farben über den Rand meiner Leinwand zurück auf die Einrichtungsgegenstände schoben. Das Gesicht des Rabenkönigs zeichnete sich noch vor all den anderen Formen klar aus dem Schleier von Milchglas. Ich konnte die zusammengeschobenen Augenbrauen über dem Blau seiner Blicke mehr als deutlich aus den Zügen lesen und die dahinter befindlichen Gefühle aus den Schwingungen in der Luft interpretieren – Gefühle, die ich am liebsten nicht in den Liedern seiner Menschenseele wahrgenommen hätte.

Nicht in dieser Situation. Nicht meinetwegen.

Mir ist einfach nur elend.

Das sollte er glauben. Das wollte ich glauben. Doch Laurin nahm mir den Eimer einmal mehr mit diesem furchtbaren Ausdruck der Sorge auf seiner Miene aus den Händen und stellte ihn hinter sich auf den Boden, ehe er zu einem gefürchteten Gespräch über einen Besuch bei Isger anhob.

»Es sieht so aus, als wäre es mehr als das«, murmelte er, während er mit seinen Händen vorsichtig über meine Oberschenkel zu streichen begann. »Du ...«

»Du hattest keine Sprossen im Salat!«, fuhr ich auf. »Du isst sie doch nur gekocht. Vielleicht waren die Sprossen im Salat nicht mehr in Ordnung«, unterbrach ich den Keim seiner Ausführungen noch im Entstehen. »Entschuldige.«

Aber Laurin ließ sich nicht auf das Abwiegeln ein.

»Ich sage dir doch, dass du dich nicht entschuldigen musst«, erklärte er ruhig. »Und du willst mir doch nicht erzählen, dass die Sprossen seit einer Woche nicht in Ordnung sind. Du musst nicht mit mir darüber reden. Schon gar nicht über alles. Das ist nur ein Angebot, aber ...«

Er schüttelte den Kopf.

»Ich weiß nicht, wie ich dir helfen kann. Ich sehe, dass es dir nicht gut geht. Meinst du, dass du mit Isger ein paar Punkte abklären könntest?«

»Es geht mir gut.«

»Das glaube ich dir nicht. Er hat dir gesagt, dass du ihm derartige Symptome in jedem Falle schildern musst. Du nimmst noch immer ein Mittel ein. Das sollten wir nicht vergessen. Es scheint unterschiedliche Auslöser für deine Übelkeit zu geben und es wären verschiedene Ursachen möglich. Vielleicht auch eine Kombination aus mehreren Faktoren. Wir können es nicht einordnen. Bitte. Rede mit ihm, wenn du ihn heute besuchst. Wenn es körperlich ist, muss es vielleicht behandelt werden. Wenn es das nicht ist, kann er möglicherweise dennoch helfen.«

Die Stimme des Königs rührte auch mit leise gesprochenen Worten in einem Ozean der Gefühle in mir, der mit jedem Gespräch über eine Untersuchung aufs Neue in meterhohen Wellen gegen meine Seele brandete. Möglicherweise, weil ich um die Berechtigung hinter dem Aussprechen seiner Befürchtungen wusste und weil ich selbst lieber nicht um die Gegebenheiten hinter meinen Schmerzen wissen wollte, weil es ... beängstigend war. Es hatte mehrere Auslöser gegeben. Nicht ausschließlich die Erinnerungen, die bei Weitem genug gewesen wären. Aber die Übelkeit schien nicht daran gekoppelt.

Manche Kombinationen von Gerüchen fernab der Erinnerungen an die Bilder im Ballsaal drängten mir bereits nach Sekunden den Mageninhalt in die Kehle und wurden durch den Geschmack bestimmter Speisen verstärkt, sodass ich in den letzten Tagen so einige Mahlzeiten zurück in die Küche des Hofs hatte gehen lassen. Der Geschmack des Weins brannte sich wie Säure durch meine Glaserzunge in meine Wahrnehmung und verwandelte sich in eine unerklärliche Schärfe, die sich nicht einmal durch den Zusatz von Gewürzen aus dem Zirkonfürstentum hätte erklären lassen. Ein anderes Mal genügte eine vorschnelle Bewegung aus dem Bett, wenn man sich im Trubel der Ereignisse vor Erschöpfung für wenige Minuten auf das Lager sinken ließ. Und wieder ein anderes Mal vernahmen meine Ohren ein Geräusch in den Winkeln des Zimmers, das sich in den vergangenen Nächten um so vieles lauter in meine Gehörgänge brannte, als dass es durch eine Geräuschkulisse in der Realität hätte begründet werden können. Als wären all meine Sinne zu scharf. Als wären sie aus den Fugen geraten, bis das Unausweichliche geschah: Ich übergab mich.

Geräusch. Geruch. Licht. Ganz egal.

Es hätte sich durchaus um den allgemeinen Einfluss der Ereignisse handeln können, zumal ich in den Erzählungen über Isgers Arbeit mit Soldaten viele Geschichten über die Männer in den Grenzgebieten gehört hatte, die mit ähnlichen Symptomen auf die Zeit nach den Schlachtengeschehnissen reagierten. Erinnerungen, die den Körper über eine lange Zeit nach den Vorfällen bis in den Schlaf verfolgten, die ihn verzehrten, nicht zur Ruhe kommen ließen und in einigen Fällen auch Symptome wie Übelkeit mit sich brachten. Erinnerungen wie die an Wigas Tod.

Dennoch wurde ich das Gefühl nicht mehr los, dass da ... etwas anderes war. Die Kontrolle über den eigenen Körper zu verlieren, so wenig darüber sagen zu können ... Da war schlicht ... ein ungutes Gefühl in meiner Magenregion. Eine Nebenwirkung des Verhütungsmittels wäre durchaus ein möglicher Auslöser für die Symptome gewesen, zumal ich die Kräutermischung noch immer jeden Abend von Isger Daranan zugesteckt bekam. All der Aufwand, obwohl Laurin und ich seit den Ereignissen im Ballsaal noch nicht einmal in einsamen Momenten an diese Form der körperlichen Nähe gedacht hatten und uns nach Wigas Tod nie näher als flüchtige Küsse zur gegenseitigen Versicherung gekommen waren. Ich hätte mein Unwohlsein ja wahrlich gern auf eine Unverträglichkeit der Medikamente geschoben, hätte daran geglaubt und mir vom Hofmagyr des Königs eine andere Mischung zur Empfängnisverhütung anmischen lassen, auf dass alle Beteiligten eine Sorge weniger auf den Schultern durch die Rabenfeste schleifen mussten. Wäre da nicht eine Stimme in mir gewesen, die mir sagte, dass es so simpel nicht wäre.

»Idis ... Das ist keine Kleinigkeit«, beharrte Laurin, als er das Ausweichen meiner Blicke registrierte.

Auch ohne Blickkontakt nahmen meine Glasersinne die lesenden Bewegungen seiner Pupillen wahr, die sich mit warmen Spuren der Aufmerksamkeit wie Berührungen auf meine Haut zeichneten.

Forschend. Behütend. Auch vereinzelte Noten von Skepsis darin, als ich mein Gesicht so offensichtlich aus der Reichweite seiner Interpretationsfähigkeiten zog.

Laurin hatte den zugrundeliegenden Gedanken hinter der Skepsis zwar nie vor mir in Worte gefasst, doch ahnte ich auch ohne eine ausgesprochene Befürchtung auf seinen Lippen, was ihm seit einer Bemerkung durch Warin Sorrell sicher mehr als nur einmal durch den Kopf gegeistert war.

»Ich bin nicht schwanger, falls du das auch denken solltest«, murmelte ich mit einem Blick durch das Nadelfenster. »Das wäre viel zu früh. Es hat vor Tagen begonnen.«

Wäre nicht das scharfe Licht des Tages durch die Öffnung in den Mauerwerken gedrungen, so hätte ich mich liebend gern im Anblick der Weiten des Kronlands vor den Bergen verloren. Ich hätte lieber den Morgen auf den nebelbewachsenen Wiesen in den Tag hineinbluten sehen und mich in Stille all den anderen Gedanken gestellt. Aber das Sonnenlicht brannte viel zu hell ... und Laurin ... Laurin sah mich mit einem Blick an, der sich nunmehr wie Feuer auf meiner empfindlichen Glaserhaut niederschlug.

»Idis, sieh mich an«, flüsterte er mir zu, während er mit seiner Hand nach meinem Arm tastete. »Ich habe nichts dergleichen behauptet. Warin ist ... Du kennst ihn. Ich glaube nicht, dass er unsensibel sein wollte.«

»Er hat mich gefragt, als ich mich nach der Grablegung übergeben musste. Das war unsensibel.«

»Das bestreite ich nicht. Ich sage nur, dass er es vermutlich nicht sein wollte. Warin hat viele Dinge getan, die er vor Wigas Tod sicher anders gesehen hätte. Es war ein Bruch mit der Etikette des Hofs, als er sich vor mir an ihrem Grab auf die Knie begeben hat. Klingt das nach Warin Sorrell? Ich möchte sein Verhalten der letzten Tage gar nicht schönreden und ihn auch nicht für alles in Schutz nehmen. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass auch er jemanden verloren hat. Er sagt es nicht. Aber er stand unter Schock.«

»Ich weiß. Ich ...«

Meine Stimme versagte.

Ich zwang meinen Blick aus der Konfrontation mit dem gleißenden Lichtspiel in die Gemächer des Königs zurück und erwiderte den Blickkontakt, den ich zuvor nicht zu halten gewagt hatte.

»Ich weiß«, wiederholte ich. »Es ist nur alles so furchtbar viel.«

»Das ist es«, bestätigte Laurin. »Und gerade in einer solchen Ausnahmesituation ist es doch nur richtig, dass man sich umeinander sorgt.«

»Hat er ... sich gestern Abend zurückgemeldet? Warin?«

Laurin schüttelte den Kopf. In seinen Augen ein Spiegel der Sorge meines eigenen Ausdrucks.

Ein weiterer Stein, der in unseren Seelen lag. Warin Sorrells Verhalten hatte sich in den Tagen nach dem Tod der Generalin stark verändert, zeigte aber keine echten Spuren der Trauer. Der Chorleiter des Königs hatte sich nur am Morgen nach dem Ball mit dem Zeichenbuch unserer Freundin beschäftigt und es dann ohne jede Beachtung auf dem Arbeitstisch im Kartenzimmer gelassen, als handelte es sich bei den Skizzen um eine Ansammlung von bedeutungslosen Kritzeleien. Nicht ein einziger Blick des Ewigen war mehr zu den Seiten des Buches gewandert, während er einen Sänger nach dem anderen zu sich in die abhörsicheren Räumlichkeiten rief oder sich in anderen Ermittlungen um den Giftanschlag vor den Augen der Welt im Schatten versenkte. Fand man ihn nicht zwischen buchdicken Berichten über die Soldatenpositionierungen des Balltages vergraben, so flüchtete er sich mit seinen Frettchen in den Weiten des Kronlands auf die Jagd nach Kaninchen – oder er teilte sich selbst bei Beschattungsmaßnahmen von potenziellen Informationsorten ein, gab seine pelzigen Gefährten für die Dauer der Ausflüge in die Hände der Bediensteten Eske. Er arbeitete oder flüchtete. Er trauerte nicht. Nicht auf diese Weise. Denn es war ebendas, wovor er zu flüchten versuchte. Trauer. Und er flüchtete so weit, dass wir ihn so manches Mal nicht mehr zu erreichen vermochten.

Gerade in einer solchen Ausnahmesituation ist es doch nur richtig, dass man sich umeinander sorgt.

Ich stieß einen hörbaren Atemlaut aus.

»Na schön«, murmelte ich dann. »Du redest mit General Löwenstein und siehst nach Sirka. Wenn ich Isger besuche, frage ich ihn nach meiner Unpässlichkeit und im gleichen Atemzug nach Warin. Vielleicht war die Meldung wieder verspätet. Vielleicht ist beim Beschatten der Gasthäuser auch so wenig vorgefallen, dass er die Berichte der Priester sammelt. Isger hatte Nachtdienst. Er wird es wissen.«

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