Kapitel 2a
[Kapitel wurde aufgrund der Länge zur besseren Übersicht in a und b geteilt]
Übelkeit.
Der Knoten in meiner Magenregion zog sich in einer Reaktion auf den Geschmack des Blutes zusammen und jagte einen heftigen Schmerzimpuls durch meine Körpermitte in die Nervenbahnen hinein, bis mir der Mageninhalt mit einem Säureschwall zurück in die Kehle gedrängt wurde. Mein gesamter Körper bäumte sich wie ein wildgewordenes Tier gegen die Schmerzen in meinem Bauchraum auf, verkrampfte sich und verdrehte meine Eingeweide in wellenartigen Schüben umeinander, bis sich der Klumpen aus Organen mit einer Welle des Ekels aufzublähen begann. Ein seltsamer Geschmack kleidete sich über die fauligen Noten des Blutes auf meiner Zunge, der mir vor lauter Schwindel die Tränen in die Augen trieb. Keine Tränen der Trauer, sondern ...
Schöpfer!
Ich glaubte, mir wäre niemals zuvor derart übel gewesen. Obwohl ich seit Wigas Tod nicht einen Tag von Schwindel oder Übelkeit verschont geblieben war, so wurde ich doch das Gefühl nicht mehr los, es wäre mit jedem verstreichenden Tag nur noch schlimmer. Um so vieles schlimmer.
Die nächste Welle aus Magenschmerzen ließ mich die Hand reflexartig vor meine Lippen schlagen, als könnte ich mich auf irgendeine Weise mit meiner Willenskraft vor einem größeren Unglück bewahren. Doch der Säuregeschmack breitete sich auch gegen meinen Willen auf sämtlichen Oberflächen meines Mundes aus und drängte den Mageninhalt unaufhaltsam nach oben, sodass ich mich schon allein aufgrund meiner Erfahrungen aus der Umarmung mit Laurin befreite. Ich wandte mich ab, löste meine Hände von ihm, rutschte über das Deckenlager an die Kante des Bettes heran ...
... und schwang schließlich meine Beine auf den Marmorboden hinunter, als ich den Kampf meiner Kontrollmechanismen gegen die überwältigenden Einwirkungen meines Körpers verlor.
»Entschuldige«, quetschte ich gerade noch über die Lippen, während ich mich gegen den Schmerz in meiner Körpermitte vornüber krümmte. »Ich ...«
Ein weiterer Würgereflex ließ alle Erklärungsversuche verstummen. Sie wären auch nicht vonnöten gewesen. Laurin erfasste die Situation ohne Worte, zumal er in den vergangenen Stunden mehr als nur einmal Zeuge der körperlichen Auswirkung der Ereignisse geworden war.
Nur Sekunden später spürte ich die seine Bewegungen unter den Decken des Lagers, als er sich auf der anderen Seite des Bettes an den Rand der Aufbauten kämpfte. Selbst der Laut seiner baren Füße auf dem Boden brannte sich wie eine verzerrte Wahrnehmung der Realität in meine Ohren, sodass ich beinahe geschrien, gebrüllt und getobt hätte, er solle sich bei all den Schöpfern unter den Bergen doch etwas leiser durch das Zimmer bewegen.
Es war irrational. Laurin war weder laut noch hörbar noch donnerte irgendein Schöpfer unter den Bergen mit seinen Fäusten gegen den Stein. Meine Wahrnehmung gaukelte mir die donnernden Geräusche seiner Sohlen auf dem Marmorstein bloß vor. Dennoch wankte meine Welt, geriet aus den Fugen und ... Zu viel! Es war zu viel, zu viel, zu viel!
Ich würgte erneut.
»Ich hole den Eimer«, flüsterte Laurin so leise als möglich in meine Richtung, ehe ich seine Schritte zum Schachtisch tapsen hörte.
»Tut mir leid. Tut mir so leid«, hörte ich mich selbst flüstern.
Dann schloss ich mit bebendem Körper die Augen.
In der Finsternis verging jedes Bewusstsein für Zeit und Raum in einem Nebel aus Schwarz, in dem sich zumindest die Möbel der Gemächer nicht in einem unendlichen Reigen umeinander drehen konnten. In der Dunkelheit schienen all die Außenreize viel weiter von meinen Glasersinnen entfernt. Und es wäre in der Tat nicht die schlechteste Lösung gewesen, all die durcheinandergeratenden Sinnesreize meines Körpers einfach hinter einer Wand aus Schwarz von mir abzuschirmen ... wäre da nicht der Geschmack des Blutes auf meiner Zunge gewesen. Im Schwarz blieb mehr Raum für all die Dinge, die nicht wirklich waren. Für den zuckenden Leib der Generalin auf den Marmorfliesen des Ballsaals. Für das Erbrochene. Das Blut und ...
»Laurin?«
»Ich sitze direkt vor dir«, tönte es aus dem Schwarz. »Ich bin schon da.«
Ich konnte nicht einmal mehr die Formen des Eimers in meinen Händen in ihrer Größe erfassen, ehe die nächste Welle der Übelkeit den Mageninhalt ohne Hemmungen nach außen beförderte. Mein Oberkörper zog sich ohne mein Zutun über dem Schoß zu einem Bogen zusammen und verkrampfte sich in der Position über dem Kübel, als sich alle Organe in meiner Mitte mit einer einzigen Schubbewegung nach oben drückten.
Ich sah nicht, ich hörte nicht und ich fühlte nichts mehr, als es geschah. Es war ein Reflex.
Ich beugte mich mit dem Kopf so weit als möglich nach vorn und übergab mich, würgte, röchelte und übergab mich erneut, während ich mich mit den Armen um das Holzgefäß auf meinem Schoß klammerte. Meine Hände krallten sich wie besessen in die Eisenbeschläge, als könnte ich mich an einem diesem Rettungsanker gegen die wogende Welt meines Bewusstseins halten. Dennoch entglitten mir all die bewussten Beeinflussungsmöglichkeiten meines Körpers wie Nebelschwaden im Dunkel, vergingen und verloren an Bedeutung, während sich die Muskeln in meiner Körpermitte ohne meine Kontrolle zu Klumpen verkrampften.
Heiße und kalte Schauer rannen mir über den Rücken.
Atmen. Ich wollte atmen, schnappte in hektischen Zügen nach Luft. Doch mein Magen drängte einen Schwall nach dem anderen in meine Kehle zurück.
Ich wollte fluchen. Ich wollte fluchen und schimpfen und so vielen Dingen Luft machen. Doch hätte meine Glaserzunge in ebenjenen Augenblicken noch nicht einmal einen einzigen Fluch in Worte zu fassen vermocht oder gar sonst einen Ausdruck für das erbärmliche Elend gefunden, das wie ein Dämonentanz mit dem Schmerz durch mein gesamtes Nervensystem zu toben begann. Schmerz. Der nächste Schmerzimpuls zog meinen Unterleib mit einer so plötzlichen Empfindung in sich zusammen, dass ich mich nur mit einem stummen Schrei ohne Atem auf den Rand des Eimers aufstützen konnte, als hätte man mir einen Dolch mit Wucht durch die Eingeweide gestoßen. Ich presste meine Stirn auf die Brettkanten des Gefäßes, krallte mich daran fest, verbarg mein Gesicht vor Laurin und stieß einen Keuchlaut in die Finsternis jenseits der Reichweite seiner Augen.
Das stechende Gefühl übertraf so viele Verletzungen aus den Gruben zuvor. Ich hätte wahrlich gern geschrien. Ich hätte am liebsten geschrien, gebrüllt und getobt. Stattdessen hielt ich den Atem. Denn mit jedem Funken Bewusstsein, das mit dem Schmerz in meine Seele gelangte ...
Mit jedem Funken Verstand wollte ich weniger, dass Laurin die Ausmaße der Reaktion verstand. Wir teilten die Trauer, all die Sorgen der Nacht, aber das ... In Anbetracht all der Verhandlungen, die noch anstehen würden ...
Nein.
Meine Finger verkrampften sich um das Holz, während ich gegen die Dunkelheit hielt. Ich hielt mich und betete zu den Schöpfern unter den Bergen, es möge vorübergehen. Es ging immer vorüber. Irgendwann.
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