Kapitel 1b
Wir haben Wiga verloren.
Die Erkenntnis des Rabenkönigs schien in den Ecken des Raumes als Echo widerzuhallen und erschütterte die Gemäuer der Rabenfeste hinter den Holzverkleidungen bis ins Herz des Berges hinein. In jenem Moment wurde das Aussprechen der Worte wurde wie jeden Morgen zum Zeugnis der Stille unter dem Berg, zum Spiegel einer Realität, die wir gerade erst mit unserem Verstand zu erfassen versuchten. Jeden Morgen waren es ebenjene Worte, die Laurins Tränen nach der Nacht wieder aufbrechen konnten. Und jeden Morgen bestätigte ich die Erkenntnis, um es selbst zu begreifen.
»Ja«, bestätigte ich. »Ja, das haben wir.«
»Kannst du das verstehen? Weil ich ... Ich glaube, ich verstehe es immer noch nicht. Ich trauere. Ich fühle Schmerz. Ich habe das Gefühl, dass mir alles entgleitet. Dennoch ist es, als würde sie im nächsten Moment an diese Tür klopfen. Nichts hat sich geändert. Rein gar nichts. Und doch hat sich alles verändert. Es fühlt sich so falsch an.«
Ich nickte stumm.
Das war es, was wir jeden Morgen zu begreifen versuchten. Das Ziel des Rituals. Vielleicht die Hoffnung, dass man es eines Tages begreifen könnte. Wirklich begreifen. Denn bisher ...
»Ich habe bei ihrem Grab einen Schwur geleistet und verstehe es so manches Mal nicht recht«, gab ich zu. »Ich weiß es. Ich habe es gefühlt, als es geschah. Es ist dennoch ... nicht so leicht zu begreifen.«
Er wischte sich mit der Hand über die Wange.
»Das ist es nicht«, bestätigte er. »Jedoch würde sie nicht wollen, dass ich in Trauer um sie eine solche Dummheit begehe. Ich kann den Gedanken nicht abstellen, aber es ist besser, dass du ihn kennst. Ich wünschte, Wiga wüsste, was wir hier tun. Sie würde uns für unsere verheulten Gesichter über ihren Verlust auslachen, aber sie wäre verflucht noch eins froh, dass du hier bist.«
»Sie würde vermutlich Fähnchen mit unseren Namen schwingen«, brach es reflexartig aus mir.
Ich konnte mir bei all den Schöpfern unter den Donnerbergen nicht mehr erklären, aus welchen Untiefen meiner zerknitterten Seele sich ausgerechnet eine selbstironische Bemerkung gestohlen haben sollte, aber ... Sie sprudelte einfach aus mir. Höchstwahrscheinlich ein Überschuss an Gefühl.
Es fühlte sich unendlich falsch an, so kurz nach dem Tod der Generalin einen Funken Humor in mein Leben zu lassen, so falsch, auch nur ein Lächeln über meine eigene Bemerkung auf meine Lippen zu legen, aber ... Ich musste über meine eigene, erbärmliche Bemerkung lächeln.
Laurin sah mein Gesicht – zwischen Tränen, Selbstironie, Selbstbestrafung und Lächeln. Er sah mich an, sah mich noch länger an ... und lachte auf.
Unter all den Tränen, die ihm gerade noch in stummer Trauer über die Wangen geronnen waren, entschlüpfte ihm doch tatsächlich eine Mischung aus Lacher und Schniefen, als könnte er sich selbst nicht so recht zwischen all den Gefühlen einer menschlichen Seele entscheiden. Es mochte sich nur um einen Wimpernschlag in Anbetracht all der schweren Gefühle in der Atmosphäre des Raumes handeln und es mochte nichts fröhlich oder glücklich oder gut werden lassen, doch hätte ich mich beinahe für seine Reaktion auf meine Worte bedankt. Es war kein gewöhnliches und sicher kein fröhliches Lachen. Aber es tat auf gewisse Weise gut, es von ihm zu hören. Zu glauben, er sähe für den einen Moment die Vorstellung von Wiga Eisenherz auf der gedanklichen Leinwand, wie sie uns in einer anderen Zeit in einer anderen Realität aus irgendeinem Winkel der Feste bei unserem abenteuerlichen Liebgehabe auf den Fluren angefeuert hätte.
»Genau aus diesem Grunde mochte sie dich«, behauptete Laurin, während er sich mit dem Handrücken energisch Tränen und Lachen aus dem Gesicht zu wischen versuchte. »Und aus diesem Grunde meinte ich, sie wäre froh, dass du hier bist.«
Der Rabenkönig stützte sich nun auch mit einem Arm auf dem Lager nach oben, um neben mir an der Lehne des Bettes auf eine Höhe rutschen zu können – die andere Hand noch in einer letzten Streifbewegung über die Augenwinkel, als sich die Augen aus ihrem gesplitterten Glanz zu einer klaren Struktur zusammenzusetzen begannen. Eine Sekunde, in der wir die Vorstellung einer solch möglichen Zukunft in unseren Gedankenbildern miteinander teilten und das verkniffene Lächeln auf den Lippen des anderen wie ein Spiegelbild aneinander ausrichteten, ehe es wieder verlosch.
Dann fuhr Laurin mit seinen Fingern durch meine Haare, zog mich zu sich, lenkte mich vorsichtig in seine Richtung und hauchte mir einen kaum spürbaren Kuss auf die Stirn.
»Ich bin froh, dass du hier bist«, korrigierte er.
Wieder schwappte eine Welle der Aufmerksamkeit über den dichten Raum zwischen den Seelen und klopfte an meinen Schöpfungsfasern um Einlass. Obwohl mein Seelendurst seit den Vorfällen im Ballsaal irgendwo zwischen den Schatten der Tage blockiert zu sein schien, so beruhigte die bloße Anwesenheit der Signale doch einen Teil der Fasern auf ein erträgliches Maß. Ausreichend, um mich der folgenden Wahrheit zu stellen. Meiner Antwort auf seine Frage.
»Woran hast du gedacht?«
Meine Arme legten sich ganz ohne mein Zutun um die Schultern des Königs, als ich meine Gedanken in Worten zu sortieren begann.
»Ich habe daran gedacht«, begann ich, »dass ich sehr schätze, was ich in den letzten Tagen gefunden habe. Es ist kompliziert, aber ich will es nicht missen. Ich habe daran gedacht, dass eine Leere hinter den Dingen zurückbleibt, die ich verloren habe. All die Dinge, die bleiben, will ich nicht an ein Vergessen verlieren. Ich habe mich daran erinnert, dass ich es zunächst wollte. Vergessen. Dann habe ich daran gedacht, dass sich die Realität schmerzlich anfühlt. Alles, was ich sehe, höre und rieche, erinnert mich. Sehe ich Staub, denke ich an die Übungshalle. Sehe ich Licht, denke ich an den Tag, an dem ich trotz all der Ereignisse die Schönheit eines Morgens genießen konnte. Rieche ich Isgers Kräuter, denke ich an die Weissagung der alten Krakah und daran, dass ich ...«
Ich verstummte schlagartig.
Das Aufzählen all der Assoziationen ließ eine Sammlung aus Erinnerungsbildern durch meinen Verstand donnern und warf mich von einer Sekunde auf die nächste in das Zelt der alten Frau aus den Marschen zurück, sodass ich meine Lippen vor der letzten Hürde in meinen Worten versiegelt fand. Ich sah mich im Kräuterdampf der Seherin auf dem Teppichboden der Jurte knien, sah mich selbst, wie ich zu der Öffnung der Leinenplanen über der zentralen Zeltkonstruktion emporblickte, weil mein Verstand mir eine Vision von abertausenden weißen Raben in der Eingangshalle der Rabenfeste zeigte. Meine eigene Erzählung warf mich in die Geschehnisse vor dem Königsball zurück.
Ich sah sie wieder. Vor meinem inneren Auge.
Raben über Raben regneten tot aus den Steinen der Rabenfeste auf das Schaustellerlager hernieder und prasselten mit ihren Leibern auf die Dächer der Wohnkutschen, der Zelte und Stuben. Raben über Raben fielen tot aus dem Himmel.
Raben über Raben.
Tot.
In Blut und singender Asche.
Aus all den toten Leibern sang ihr ersterbendes Lied im Flüsterchor von all den Dingen, die nicht mehr sein würden.
Denn der Tod ist dein Schatten, dein lieblicher Freund. Er folgt dir, weißer Rabe. Unter diesen steinernen Dächern. Inmitten der Menschen folgt er dir.
Denn der Tod ist dein Schatten, dein lieblicher Freund.
Er folgt dir.
Er folgt dir auf immermehr.
Beinahe jedes Mal stolperte ich über den Rand der unaussprechlichen Worte, weil sie für mich nicht deutlicher in Verknüpfung zu Wigas Tod hätten stehen können. Weil ich ...
»Du hast ihr nicht den Tod gebracht, Idis«, unterbrach Laurin meine Gedanken, als hätte er meine Seele unter all den einströmenden Gefühlswellen schreien gehört. »Du hast keine Schuld«, versicherte er. »Ganz gleich, was in der Prophezeiung liegen mag ... Den Tod brachte ihr Mörder.«
Meine Hände verkrampften sich um den Stoff seines Nachthemds, als seine Worte verklangen.
Ich hatte ihm die Weissagung der alten Krakah in einer Suche nach Absolution und Erleichterung an die Ohren getragen, doch fand ich bei jeder Frage danach nur einen Schmerz jenseits aller greifbaren Grenzen. Der Schmerz zerriss den zarten Schleier des Trosts mit den Zähnen und Klauen eines Dämons, den ich auch nach den Tagen der Trauer nicht in seinem Wesen zu verstehen vermochte.
Meine Zunge fand immer zum Thema der Weissagung zurück. Immer.
Wie oft er mir nur sagte, ich würde aufgrund einer Prophezeiung keine Schuld am Tod der Generalin tragen und auch keine Schuld durch das Verdrängen der Worte auf meine Schultern geladen haben, dass ich mich nicht in einer Ereignisverkettung mit den Vorfällen auf dem Königsball sehen dürfte – ganz gleich. Jede einzelne Formulierung von Schuld rief mir all die Gedanken um Schuld wieder in mein Bewusstsein und stellte mir Fragen nach dem Was-wäre-wenn; wenn ich die Weissagung nicht in den Hintergrund meines Bewusstseins zurückgedrängt hätte, wenn wir uns durch die Bedeutungsmöglichkeiten der Bilder aus meiner Vision gerungen und die Zukunft daraus entschlüsselt hätten. Irgendwie.
Ob sie noch leben würde. Ob es deshalb doch Schuld war.
Laurins Versicherungen erinnerten mich wieder und wieder an jene Fragen. Doch wie oft ich mich erinnerte, so verlangte ich doch immer wieder danach, ihn die Worte sagen zu hören. Ich quälte und quälte und quälte mich darin, aber ...
Ich benötigte sie.
Du hast keine Schuld.
Den Tod brachte ihr Mörder.
Es war keine Absolution. Es war Folter und die Suche nach Erlösung zur selben Zeit. Erinnerung. Schmerz. Versicherung, die ich dennoch suchte.
»Nur hätte der Mörder vielleicht niemals sein Werk verrichten können, wenn Wiga mich gemieden hätte«, presste ich zitternd hervor. »Oder wenn wir den Tod vor dem Königsball identifiziert hätten.«
»Idis ...« Laurin zog mich an sich. »Du konntest es nicht wissen.«
Seine Fingerspitzen formten kreisende Bewegungen auf meiner Schulter, als wüsste er sehr explizit um das Gefühl dieser Last – unsichtbar und dennoch so schwer, dass man unter ihrem Gewicht in den Stein des Rabenbergs gedrückt zu werden glaubte.
»Du konntest es nicht wissen«, wiederholte er, als wir einen Blick miteinander tauschten.
»Sei ehrlich ... Hältst du die Prophezeiung für unsinnig?«
»Das meinte ich nicht«, gab er zurück. »Nein, ob die Prophezeiung eine Wirkung besitzt oder nicht – das kann ich nicht beurteilen. Aber was sie auslöst, ist in jedem Falle echt. Ich will dir nur sagen, dass eine Weissagung keine Rolle bei einer Schuldfrage spielen darf. Nein, ich weiß nicht, ob die Krakah Kräfte jenseits unserer Vorstellungen besitzt und ob die Prophezeiung tatsächlich eine Auswirkung auf unser Leben hatte. Ich kann es nicht wissen. Aber wenn ihre Worte Wigas Tod prophezeiten, so hätten wir nichts daran ändern können. Auch sagen sie nicht, dass du dir die Schuld für ihren Tod geben solltest. Der Wortlaut sagt nur, dass der Tod dir folgt. Du wist nicht als Todbringerin dargestellt. Du hast Wiga nicht ermordet. Du bist nicht schuld an ihrem Tod. Du warst Zeugin. Und sagte nicht die Krakah vielmehr, du seist eine Botin? Sie sagte, man würde sich gern von dir in ein neues Zeitalter reißen lassen. Vielleicht entsprechen die Worte der Wahrheit und beziehen sich nicht auf Wiga. Vielleicht sind sie metaphorisch und bedeuten etwas vollkommen anderes, das noch in der Zukunft liegt. Wir wissen es nicht.«
»Und wenn ich doch eine Todbringerin bin? Warin sagte, der Anschlag könnte mir gegolten haben ...«
Der Atem des Königs wurde auf halbem Wege durch die Andeutung in meiner Stimme blockiert.
»Sag das nicht«, fuhr er ein wenig zu scharf in die Unterhaltung, als sich der nächste Atemzug löste. »Du solltest solche Dinge nicht sagen.«
Seine Muskeln verkrampften sich spürbar unter den Berührpunkten mit meinen Händen und verwandelten den König der Raben in eine unbewegliche Version seines Selbst, die man sich ebenso gut als Teil der Marmorfiguren in der Speisehalle der Rabenfeste hätte vorstellen können. Auch seine Fingerspitzen hielten auf meiner Schulter schlagartig bei den Kreisbewegungen inne und hielten sich nur unter Mühen von einer Krampfreaktion auf die ausgesprochene Andeutung ab, als hätte ihn meine Stimme zurück in das Loch aus schwarzen Schatten gestoßen – als würde er nun tiefer und tiefer hinabfallen müssen, weil ihn das Gewicht der Worte in die Düsternis unter der Andersweltkluft zu ziehen begann.
»Sag das nicht«, wiederholte er.
Es war kein Befehl, überhaupt nicht scharf gemeint. Aber die Betonung bewies mehr Schärfe als eine Klinge aus dem Zirkonfürstentum.
»Weshalb nicht?«, gab ich vorsichtig zurück. »Er hat recht, Laurin. Das ist eine Wahrheit, die wir nicht totschweigen dürfen. Er hat recht.«
Der König atmete lange aus, ehe er die Stimme erneut zu erheben wagte.
»Das hat er.«
Stille. Nur eine Sekunde. Dann ...
»Hast du Angst?«
»Nicht in diesem Sinne, nein. Nicht vor Attentätern. Es ist eher die Prophezeiung selbst und die Verknüpfung zu Wigas Tod, die auf mir lastet. Erinnerst du dich an den Albtraum, von dem ich dir erzählt habe? Sieben Elstern, die Schlange und ... der Rabe.«
Laurin musste sich unter Aufgebot sämtlicher Willensreserven um Körperbeherrschung bemühen, als er sich aus dem verkrampften Zustand zu einer entspannten Handhaltung zu zwingen versuchte.
»Der Traum, der mich an das Kinderlied erinnert hat? Sieben Elstern?«, versicherte er sich.
Ich nickte.
»Ich habe das Gefühl, all das ist verbunden. Ich habe Angst, dass es mit mir verbunden sein könnte. Der Traum und die Weissagung. Meine Verknüpfung, die sich möglicherweise auf ein Attentat gegen mich bezieht. Ich als Todbringerin, weil ich es hätte sein sollen. Ich hätte sterben sollen. Vielleicht sagen mir all die Andeutungen, Träume und Prophezeiungen genau das. Als Wiga das Blut auf die Fliesen erbrochen hat, habe ich mich explizit an die Worte der Krakah und die Traumsequenz erinnert. Mir war, als müsste ich mich erinnern. Es war nicht freiwillig. Ich habe das Blut gesehen und sofort an den weißen Raben gedacht. Ich konnte den Tod auf der Zunge schmecken.«
Angst.
In den Momenten ihres Todes war es Angst. Blanke Angst. Mein Körper zitterte bei der bloßen Erwähnung von Blut auf den Fliesen, ohne dass da eine echte Erinnerung vor die Leinwand in meinen Gedanken ziehen müsste. Und falls dann das Bild erneut in mir aufsprudelte ...
»Manchmal habe ich den metallischen Geschmack immer noch im Mund, wenn ich daran zurückdenke. Ich muss mich nur daran erinnern, wie ich Wiga in meinen Armen halte und ...«
Ich unterbrach mich.
Der Geschmack des Blutes entfaltete seinen metallischen Nebel im Bruchteil eines Herzschlages auf meiner Zunge und kleidete meinen Mund mit einer Schicht aus Geschmacksnoten aus, die in all ihren Facetten und Assoziationen die feinen Härchen auf meiner Glaserhaut in die Höhe sträubten. Eisen legte sich auf die Oberfläche meiner empfindlichen Glaserzunge und stieg mir als unausweichlicher Dunst aus Gerüchen in die Nase hinein, füllte mich, umhüllte mich und meine Schöpfungsfasern mit den Eindrücken des Abends, an dem Wiga Eisenherz auf den Fliesen des Ballsaals in ihrem eigenen Blut um den letzten Funken Lebenskraft kämpfte. Ich fühlte die schmeichlerischen Hände des Todes erneut wie einen Atemhauch auf meiner Glaserhaut und sah die flirrenden Leuchten der Kristalltageslichtspender, als er daran vorüberstrich.
Ein einzelner Atemzug in der Nähe der Generalin füllte die Lungen mit dem Geschmack der Endlichkeit; mit einem Bewusstsein für die Unausweichlichkeit eines Schicksals, als könnte man den Tod mit einer so simplen Kombination aus Gerüchen in eine noch simplere Konsequenz verpacken.
Blut ... So viel Blut ...
Der Geschmack auf meiner Zunge.
Jene Erinnerung lag fernab von Trauer. Sie war Angst und Instinkt und animalische Panik.
So sehr, dass ich mich nicht mehr rechtzeitig aus der Erinnerung an das Erbrochene auf dem Marmor zu ziehen vermochte. Ich schmeckte die Vergangenheit und ...
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