Zufall oder Fügung?
Dieser Tage hatte ich ein sehr berührendes Erlebnis, dessen Vorgeschichte schon 60 Jahre zurückliegt.
Ende der 1950er Jahre, ich war etwa 10 Jahre alt, waren meine Eltern mit der ganzen Familie zur Goldenen Hochzeit eines Onkels meiner Mutter eingeladen. Diese fand im Heimatdorf meines Großvaters, der schon im 1. Weltkrieg gefallen war, im Schwäbischen statt. Die Familie meines Großvaters war sehr groß. Er selber hatte schon sieben Geschwister und sein Bruder, der damals Goldene Hochzeit feierte, hatte zwölf Kinder. Wir wohnten ein paar Tage bei einer seiner Töchter und bekamen so die ganzen Vorbereitungen für das große Fest mit. Am Vortag wurde Brot gebacken. Dazu wurden die ungebackenen Brotlaibe in speziellen Körben mit einem Handkarren, einem sogenannten Leiterwagen, zum öffentlichen Backhaus gefahren, wo sie dann im traditionellen Holzofen gebacken wurden. Nach meiner Erinnerung waren etwa zehn solcher Laibe auf dem Wagen gestapelt und eine Tochter der Gastfamilie, vielleicht ein bisschen älter als ich, hatte die Aufgabe, mit mir zusammen, diese zu transportieren.
Es ging über eine ziemlich holprige Straße, die noch dazu etwas abschüssig war, zum Backhaus und meine Großcousine meinte wohl, mir eine Freude zu machen, wenn sie mir als Stadtkind die Deichsel überließ, um den Wagen zu lenken. Aber das ging gründlich schief. Ich weiß nicht mehr genau wie das ablief, aber im Ergebnis war der Wagen umgekippt und die ungebackenen Brotlaibe lagen auf der Straße. Oh Weh! Aber das größere Mädchen hatte damit kein Problem, sie packte die Teiglinge wieder in die Körbe, pickte die groben Steinchen heraus und ab gings ins Backhaus. Am Tag des Festes wussten wohl alle, außer meinen Eltern, Bescheid über das Missgeschick und machten beim Essen immer so Bemerkungen wie „Das ist aber besonders kernig heute", „Ja, das hat eine besonderen Geschmack zu dem besonderen Anlass".
Ich war den Verwandten sehr dankbar, dass sie meinen Eltern nichts gesagt hatten, denn mein Vater war sehr streng und ich hätte wahrscheinlich eine ziemliche Abreibung abgekriegt, wenn er es mitgekriegt hätte.
Aus verschiedenen Gründen war ich die ganzen Jahre nicht mehr in diesem Ort und habe auch von den Verwandten niemand mehr wieder gesehen.
Diese Woche waren wir bei unserer Tochter, die seit ein paar Jahren dort ganz in der Nähe wohnt. Diese Gelegenheit wollte ich nutzen mir das Dorf einmal anzuschauen und das alte Backhaus zu suchen, von dem ich aus einem Bericht im Fernsehen wusste, dass es vor ein paar Jahren durch eine Bürgerinitiative wieder reaktiviert worden war. Wir fanden das Backhaus nicht gleich, aber eine schöne alte Kirche, die wir uns anschauten. Dort trafen wir auf eine Frau, mit der wir uns ein bisschen über die Kirche unterhielten. Zum Schluss fragte ich sie nach dem Backhaus. Sie wollte wissen, warum mich das interessiere, das sei nichts Besonderes. Da erzählte ich ihr die alte Geschichte vom umgekippten Leiterwagen. Das führte zu der Frage, um welche Familie es sich denn handle und als ich den Namen sagte, meinet sie: „Ich kenne eine alte Frau aus der Familie, sie ist schon 99 Jahre alt. Wenn ich der erzähle, dass jemand verwandtes da war und ich sie nicht zu ihr geschickt habe, ist sie sicher sehr traurig. Sie müssen sie unbedingt besuchen! Sie wohnt mit ihrer verwitweten Nichte zusammen."
Da die Frau das so eindringlich gesagt hatte, machten wir uns also auf den Weg, obwohl wir niemand lästig sein wollten, aber irgendwie hatten wir das Gefühl, das muss jetzt sein. Bei dem geschilderten Haus angekommen, wurde uns auf unser Klingeln sofort geöffnet. Eine Frau, etwa in meinem Alter, begrüßte uns herzlich und wir wunderten uns über den freundlichen Empfang. Aber die Frau von der Kirche hatte schon angerufen und uns angekündigt. Sie führte uns zu der alten Dame. Und dann kam der Gänsehautmoment. Ich erzählte, wer ich bin und warum ich nach so vielen Jahren in den Ort gekommen war. Bei der Erwähnung des Leiterwagens flippte die jüngere Frau fast aus: „Duuu bist das, ich fass es nicht. Ich habe mit dir den Leiterwagen zum Backhaus gefahren und bei jedem Familientreffen erzähle ich die Geschichte. Nein, so was, das gibt es ja nicht!" Da gab es kein Halten mehr und wir lagen uns in den Armen!
Schnell wurde klar, die 99-Jährige ist eine jüngere Cousine meiner schon vor 17 Jahren verstorbenen Mutter (sie wäre dieses Jahr 108 Jahre alt geworden) und eine Tochter des damaligen Goldhochzeiters. Die 72 jährige war die Tochter einer anderen Cousine meiner Mutter, bei der wir damals wohnten. Die alte Dame hatte viele gute Erinnerungen an meine Eltern und an andere Verwandte aus meiner Heimatstadt, die auch aus dieser großen Familie stammten. Wir unterhielten uns zwei Stunden lang prächtig, bis wir uns herzlich und um ein tolles Erlebnis bereichert, verabschiedeten.
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