5-3 | Ein anderer Mann
Die Kellnerin unterbrach den intimen Moment, als sie den Wein brachte und ihre Bestellungen aufnahm. Als sie wieder unter sich waren, schwieg Daniel absichtlich für einen Moment, um nicht zu neugierig zu wirken.
»Einen anderen Mann?«, hakte er dann vorsichtig nach, die Stimme absichtlich leise, um sie nicht zu verschrecken. Er hatte Mina noch nie so offen und verletzlich gesehen, und zu jedem anderen Zeitpunkt hätte er das vermutlich ausgenutzt, um sie noch tiefer zu verletzen, doch jetzt wollte er nichts dergleichen tun. Im Gegenteil, er wollte mehr wissen.
»Ja«, hauchte sie, den Blick immer noch gesenkt, die Wangen rot, die freie Hand zu einer Faust auf dem Tisch geballt: »Es ist ... es ist einfach nicht richtig. Ich weiß, dass ich René verletzen werde. Er wird es nicht verstehen. Niemand wird das. Und bitte zwing mich nicht dazu, auszusprechen, wer das ist. Es ist so schon einfach zu viel. Ich ...«
Endlich hob sie den Kopf. Aus großen, braunen Augen starrte sie ihn an, völlig offen, absolut verzweifelt. Daniels Herz setzte einen Schlag aus. Wer hätte gedacht, dass Mina Richter wie jede andere Frau auch schwach werden konnte, wenn es um Männer ging? Sie hatte nie so gewirkt, als ob sie wegen eines Mannes Tränen vergießen könnte oder sich überhaupt tiefere Gefühle erlauben würde. Ihre kaltschnäuzige Auskunft über ihre Beziehungspause mit René hatte diese Ansicht nur verstärkt. Und nun?
Seine Gedanken überschlugen sich. Hatte er mit seinem Charme etwa so schnell solche Erfolge erzielen können, dass sie tatsächlich anfing, Gefühle für ihn zu entwickeln? Er konnte verstehen, dass sie ihm das nicht auf diese Nase binden wollte, ebenso wie er verstehen konnte, dass ihre Freunde sie dafür verurteilen würden. Er hatte eigentlich nur spielen wollen. Genug Vertrauen und Zuneigung gewinnen wollen, um sie davon zu überzeugen, nicht eine Spende von ihm zu wollen, sondern sich vor der Presse mit ihm als Paar zu inszenieren. Der Gedanke, dass sich Mina in ihn, Daniel von Hohenstein, verlieben würde, war einfach zu absurd, als dass er da auch nur eine Sekunde wirklich dran geglaubt hätte.
Aber genau das war anscheinend auf mysteriöse Weise geschehen. Und er konnte nicht anders, als sie plötzlich mit ganz anderen Augen zu betrachten. Seit er sie an der Universität kennengelernt hatte, war sie stets nur ein Jagdobjekt gewesen, ein Mädchen, das er wie so viele andere auch einfangen und kosten wollte. Aber hier vor ihm saß eine Frau, eine echte Frau mit komplexen Emotionen, die so viel mehr war als nur Beute.
»Ist schon gut«, sagte er überfordert, »ich will dich gar nicht zwingen, mir irgendwelche Details zu erzählen.«
Sie schenkte ihm ein gequältes Lächeln: »Danke. Ich kann nicht glauben, dass ausgerechnet du das verstehst.«
Daniel atmete tief durch, um sich zu zwingen, seine Gedanken wieder auf das eigentliche Ziel zu fokussieren. Mina musste ihm nicht sagen, wer der Mann war, für den sie René verlassen hatte, da er es sowieso schon wusste. Wichtig war jetzt, dass er seine Karten richtig spielte. Lächelnd erklärte er: »Wir alle sind mehr, als wir scheinen. Ich glaube, wir zwei haben während des Studiums einfach irgendwie nur die negative Seite des anderen gesehen. Vielleicht sollten wir uns die Chance geben, auch mal die positiven Seiten zu zeigen?«
Daniel musste ein Schütteln unterdrücken. Wann immer er seichte Worte herausholte, um Frauen zu becircen, wurde ihm ein wenig übel. Dass solche gefühlsduseligen Phrasen tatsächlich zogen, war doch immer wieder ein Wunder.
Für einen langen Moment blieb Mina stumm, dann erwiderte sie endlich: »Sehr gerne. Ich werde dir schon zeigen, dass ich mehr als ein wandelnder Gesetzestext bin!«
Inzwischen war auch ihr Essen gekommen und Daniel war dankbar für die Ablenkung. Obwohl Mina positiv auf seinen Vorschlag reagiert hatte, hatte er doch das Gefühl, dass sie wieder eine Mauer um sich herum aufgebaut hatte. Als wäre der kurze, intime Moment schon wieder verflogen. Vielleicht war das auch gut so. Emotionale Frauen überforderten ihn meistens, weil er keine Geduld hatte, ihre Tränen zu trocknen. Stattdessen nutzte er die beiden Gerichte, um in eine belanglose Plauderei über ihre Lieblingsspeisen überzugehen.
Erschöpft schloss Mina die Tür zu ihrer Wohnung auf. Das Abendessen mit Daniel war insgesamt positiv verlaufen, sie hatten tatsächlich zivilisierte Konversation betrieben, ohne sich ständig gegenseitig zu attackieren. Trotzdem wäre es ihr lieber gewesen, die kleine Episode zu Anfang auszulassen. Was hatte sie nur geritten, so offen über ihr Gefühlsleben zu sprechen? Nicht, dass sie irgendetwas wirklich gesagt hatte, doch der wissende Blick von Daniel, sein Erstaunen, das sich langsam in Überheblichkeit umwandelte, hatte ihr deutlich gezeigt, dass er ganz genau wusste, wer der neue Mann in ihrem Leben war. Sie betete, dass er diese Information nicht irgendwie gegen sie nutzte. Sie brauchte wirklich keine Öffentlichkeit in ihrem Privatleben, solange sie ihre Gefühle für René und Henrik noch auseinander sortierte.
Außerdem war inzwischen offensichtlich, dass er ein Spielchen mit ihr spielte. Er war innerhalb einer Woche von beleidigend und abweisend übergegangen zu Gerede von positiven Seiten und näher kennenlernen. Obwohl sie sich darauf eingelassen hatte, war ihr nur zu bewusst, dass er niedere Motive für seinen plötzlichen Sinneswandel hatte. Umso gefährlicher war es, ihr Seelenleben vor ihm auszubreiten.
Fahrig öffnete sie die Knöpfe ihres Mantels, wickelte den Schal ab und stellte ihre Aktentasche wie immer auf das Sofa.
»Wie schön, dass du auch wieder nach Hause findest.«
Erschrocken blickte Mina zu ihrer Badezimmertür. Dort stand Henrik, mal wieder nur mit einem Handtuch bekleidet, die Arme vor der nackten Brust verschränkt, und starrte sie finster an.
»Hey«, sagte sie unsicher. Nach der gemeinsamen Nacht war sie immer noch nicht sicher, wo genau sie standen, und das letzte Gespräch, bevor sie sich am Morgen auf den Weg zur Arbeit gemacht hatten, war auch nicht hilfreich gewesen.
»Hey?«, kam es ungläubig von Henrik: »Mehr hast du nicht zu sagen? Wo warst du?«
Sie stöhnte. Wollte er wirklich diesen Weg einschlagen, jetzt schon, noch ehe sie richtig zusammen waren. Frustriert trat sie auf ihn zu und legte ihm beruhigend eine Hand auf die Wange: »Ich hatte noch Arbeit. Manchmal bin ich abends länger weg.«
Ungeduldig umfasste er ihr Handgelenk mit einer starken Hand: »Arbeit? Ich hatte dich zum Feierabend abholen wollen, aber deine Kollegin hat mich informiert, dass du heute früher nach Hause gegangen bist.«
Wütend wollte Mina ihre Hand wegziehen, doch Henrik hielt sie unerbittlich fest, sein finsterer Blick schien sie förmlich zu durchbohren. Unwirsch erklärte sie: »Ich bin früher gegangen, weil eine Person, die als Spender in Frage kommt, überraschend vorbeikam, um mich zum Abendessen einzuladen. Ich sah eine günstige Möglichkeit, außerhalb meiner Tätigkeit beim FFF dieser Person näher zu kommen. Networken gehört zu meinem Job.«
Der Griff von Henriks Hand wurde fester: »Näher an ihn heranzukommen? Wer ist er?«
»Henrik Zimmer!«, sagte Mina schrill, die langsam wirklich ihre Geduld verlor: »Willst du mir jetzt ernsthaft eine Eifersuchtsszene machen?«
Ehe sie wusste, wie ihr geschah, hatte Henrik sie herumgewirbelt und gegen den Rahmen der Badezimmertür gepresst. Wütend wollte sie ihn von sich wegstoßen, doch er fing auch ihre zweite Hand mühelos ein. Heißes Feuer loderte in seinen Augen: »Wenn du dich von Anfang an so verhältst, wird es niemals was mit uns, Mina.«
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