5-2 | Ein anderer Mann


Galant hielt Daniel ihr einen Arm hin: »Ich würde heute gerne ein anderes Restaurant ausprobieren. Vertraust du mir, dass ich dich erneut in fremde Welten entführe?«

     Eigentlich hätte Mina dazu Nein sagen wollen, doch wenn sie die Oberhand behalten wollte, musste sie wohl in den sauren Apfel beißen: »Aber natürlich.«

     Sie hakte sich bei ihm unter, nachdem ein schneller Blick nach rechts und links ihr bestätigt hatte, dass niemand sie beobachten konnte, dann schritt sie neben ihm den Flur entlang. Sie betete, dass Margarete nicht genau jetzt irgendwo auftauchen würde, denn sie hätte es sehr schwer, ihr zu erklären, warum sie plötzlich so eng mit von Hohenstein war.

     Ungesehen kamen sie in der Tiefgarage des Bürogebäudes an, wo Daniel seinen eleganten Wagen abgestellt hatte. Noch immer in der Rolle des Gentlemans hielt er ihr die Tür auf, ehe er selbst auf der Fahrerseite einstieg.

     Eine halbe Stunde später waren sie außerhalb der Stadt an einem kleinen Wäldchen angekommen. Staunend blickte Mina aus dem Fenster. Sie standen vor einer riesigen Villa, während weit und breit kein anderes Haus zu sehen war. Misstrauisch stieg sie aus und fragte: »Wo sind wir?«

     Grinsend legte Daniel ihr einen Arm um die Schultern: »Ein persönliches Lieblingsrestaurant von mir. Ein Geheimtipp. Exzellente Küche, aber so weit ab vom pulsierenden Herz der Stadt, dass die ganzen Hipster ihren Weg nicht hierher finden. Man kann also ungestört die Gesellschaft gehobener Gäste genießen.«

      Ein Schauer lief Mina den Rücken hinunter, als er so arrogant über Menschen mit weniger Reichtum als er selbst sprach. Gleichzeitig löste sein Arm um ihre Schulter widersprüchliche Gefühle in ihr aus. Es war definitiv eine viel zu vertraute Geste, aber da sie ihr Spiel nicht aufgeben wollte, ließ sie zu, dass es sich angenehm anfühlte und beschloss, ihm diese vertrauliche Annäherung durchgehen zu lassen.

     »Geheimtipp, mh?«, sagte sie stattdessen: »Und was gibt es hier?«

     Sein Arm wanderte weiter hinunter, bis er schließlich auf ihrer Hüfte ganz knapp oberhalb ihres Hintern liegen blieb: »Essen, Mina. Was hast du erwartet?«

     Sie presste ihre Kiefer fest aufeinander, während sie sich von ihm in die Villa führen ließ. Seine Hand war jetzt definitiv in Regionen angekommen, die nicht mehr anständig waren, aber sie würde nicht nachgeben. Sollte er sich nur einbilden, dass seine Berührungen willkommen waren. Je schneller sie ihn um den Finger gewickelt hatte, umso eher konnte sie die Akte von Hohenstein schließen und seiner Gegenwart entfliehen.

     Nachdem sie sich von dem Personal an einen schönen Tisch in einer abgeschiedenen Ecke hatten führen lassen, nahm Daniel ihr mit einer eleganten, geübten Bewegung den Mantel ab, hängte ihn für sie auf und rückte ihr den Stuhl zurecht. Am liebsten hätte sie die Augen gerollt über diese antike Manieren, doch sie konnte sich nicht helfen, es fühlte sich trotzdem gut an, von einem Mann so behandelt zu werden.

     »Und nun erzähl mal«, begann er das Gespräch, nachdem er ihnen einen halbtrockenen Wein bestellt hatte: »Welche Laus ist dir über die Leber gelaufen heute?«

     »Was?«

     Sein heiterer Gesichtsausdruck machte ernster Sorge Platz: »Ich dachte, du würdest mich mit deinen Blicken erdolchen, als ich eben in dein Büro kam. Viel Arbeit?«

     Misstrauisch beobachtete Mina sein Mienenspiel. Wie konnte er nur so furchtbar überzeugend darin sein, ihr ernsthaftes Interesse vorzuspielen? Sie konnte keinerlei Unaufrichtigkeit entdecken, obwohl sie sich sicher war, dass es ihn in Wahrheit kein Stück interessierte, wie es ihr ging. Unwillig verzog sie den Mund. Schön, wenn er es unbedingt wissen wollte, konnte sie ihm ruhig eine Facette der Wahrheit erzählen: »Nicht unbedingt viel Arbeit. Aber gewisse Personen haben in der letzten Woche meine Arbeitskraft von meinen eigentlichen Aufgaben abgezogen und jetzt habe ich viel nachzuholen.«

     Überraschung schwappte über sein Gesicht: »Ich hätte gedacht, du liebst es, bis über beide Ohren in Arbeit zu stecken.«

     Tief seufzte sie: »Ja, ja, das Klischee der strebsamen Jura-Studentin, die im Kampf für ihre Wohltätigkeitsorganisation sogar auf Schlaf verzichten würde. Meinst du das?«

     Mina konnte sehen, dass sie genau ins Schwarze getroffen hatte: Daniel schaute ertappt auf seine Fingerspitzen. Wieder seufzte sie und fuhr sich durch ihre Lockenmähne: »Das Leben ist nicht so leicht. Ich liebe meine Arbeit, natürlich. Aber am Ende des Tages ist es eben Arbeit. Ich muss das Team koordinieren, ich muss Spender an Land ziehen, egal, ob ich gerade will oder nicht. Ich kenne genügend Menschen, die ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht haben, und die das später bereut haben, weil sie angefangen haben, ihre Leidenschaft zu hassen. So will ich nicht enden. Ich glaube fest daran, mit diesem Verein etwas Gutes zu tun, aber genau deswegen will ich nicht, dass er zu meinem einzigen Lebensinhalt wird und ich alles andere dafür aufgebe. Dann werde ich den Job nämlich früher oder später wirklich hassen.«

     Aufmerksam lag Daniels Blick auf ihr. Mina fragte sich plötzlich, ob er sie bisher wirklich immer nur als Streberin gesehen hat, die problemlos wie ein Rädchen im Getriebe funktionieren konnte, ohne jemals eine Auszeit oder gar ein Privatleben zu brauchen. Oder war ihm das Konzept, für seinen Lebensunterhalt arbeiten zu müssen, einfach fremd?

     In einer völlig unerwarteten Geste griff Daniel über den Tisch und legte seine Hand sanft auf ihre: »Und heute war so ein Tag, wo du deinen Job hasst?«

     Erschüttert von seiner Zärtlichkeit antwortete Mina ohne nachzudenken: »Heute ist einfach alles schräg. Alles.«

     »Geht es hier um René?«

     Scharf sog Mina die Luft ein. Daniel von Hohenstein war der letzte Mensch auf Erden, mit dem sie ihre Beziehungsprobleme besprechen wollte. Und doch. Seine warme Hand, sein aufmerksamer Blick, der in ihr das Gefühl weckte, als ob er wirklich zuhören wollte, ließen sie für einen Moment alles andere vergessen. Sie sackte in ihrem Stuhl zusammen: »Ja und nein. Wir haben eine Pause, das hab ich ja schon gesagt. Und ich glaube, das kriegen wir auch nicht wieder hin. Insbesondere, weil ich ... weil es da ... einen anderen Mann gibt.«

     Daniel konnte nicht glauben, was hier gerade geschah. Er hatte nur den guten Zuhörer spielen wollen, den Gentleman, der eine Frau trösten und anschließend in sein Bett holen konnte – nicht, dass er letzteres bei Mina wirklich vorgehabt hätte –, aber dass sie sich ihm so öffnete, hatte er nicht erwartet. Und was sollte dieser scheue Blick, den sie ihm zuwarf, als sie von einem anderen Mann sprach? Wieso diese beschämte Röte auf ihren Wangen? Instinktiv begann er, mit seinem Daumen über ihren Handrücken zu streichen. Er hatte sie an der Angel, wie einen Fisch, der zu dumm war, den Köder zu erkennen. Doch ihre Reaktion hatte echtes Interesse in ihm geweckt. War dieser andere Mann, von dem sie sprach, der, an den er dachte?

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