2-3 | Auf in den Kampf
»Guten Morgen, Schlafmütze!«
Ein extrem wacher Henrik Zimmer wuselte durch Minas Wohnung, gerade frisch geduscht und nur mit einem Handtuch um die Hüfte bekleidet. Sie selbst stand zwar bereits in der Küche und kochte Kaffee, aber von wach war sie weit entfernt. Es war nicht so, dass sie mit dem frühen Aufstehen ein Problem hatte. Aber vor ihrer ersten Tasse Kaffee am Morgen war sie doch eine eher gefährliche Frau. Ohne Henrik eines Blickes zu würdigen, schob sie zwei Scheiben in den Toaster und ging dann wieder dazu über, ungeduldig den langsam tröpfelnden Kaffee anzustarren.
»Schon Schlachtpläne für seine Exzellenz, den Herrn von Hohenstein, geschmiedet?«, erkundigte sich Henrik, der offenbar nicht bemerkte, wie schwierig die Laune seiner besten Freundin gerade war. Völlig unbeeindruckt stellte er sich mit tropfendem Haar und immer noch mehr nackt als bekleidet neben sie in die Küche, ganz lässig an die Arbeitsplatte gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt.
Aus den Augenwinkeln nahm Mina ihn wahr – und war schlagartig hellwach. Verdammt, wieso musste Henrik so früh am Morgen seine durchtrainierte Brust zur Schau stellen und dabei auch noch so selbstbewusst wirken? Es war offensichtlich, dass er in seiner Freizeit immer noch Fußball spielen ging. Sie schluckte, hielt ihren Blick starr auf den Kaffee gerichtet und kommentierte trocken: »Schlachtplan ist der richtige Begriff. Ich werde ihn vermutlich irgendwie austricksen müssen, um ihn rumzukriegen.«
In einer Geste, die vermutlich aufmunternd und freundschaftlich gemeint war, in Mina aber deutlich andere Gefühle auslöste, zog Henrik sie an seine Brust und streichelte ihr über den Kopf: »Das wird schon. Du bist nicht umsonst nach mir die klügste Studentin unseres Jahrgangs gewesen. Dir fällt schon was ein.«
Inzwischen hochrot im Gesicht starrte Mina mit offenem Mund zu ihrem besten Freund auf. Sie hatte Henrik seit der Uni so selten gesehen, dass ihr nie aufgefallen war, wie erwachsen er geworden war. Wie männlich. Schwer schluckte sie: »Du solltest dir etwas anziehen.«
Für einen Moment blickte Henrik sie nur fragend an, doch dann, für den Bruchteil einer Sekunde, fiel sein Blick auf ihre Lippen und plötzlich lief er ebenso rot an wie sie. Hastig ließ er sie los und trat von ihr weg: »Ja ... sorry. Bin gleich wieder da.«
Mit rasendem Herz blieb Mina alleine in der Kochnische zurück. Das war nicht gut. Das war ganz und gar nicht gut. Wenn sie alleine so reagiert hätte, wäre das alles ja irgendwie noch in Ordnung gewesen. Die Nähe eines halbnackten Mannes, der nicht schlecht aussah und Humor besaß, das konnte eine Frau schon mal aus dem Gleichgewicht bringen. Eine völlig normale Reaktion. Dass nun aber Henrik ganz offensichtlich auch zumindest für einen kurzen Moment alles andere als keusche Gedanken gezeigt hatte, öffnete dem Desaster Tür und Tor.
Ein lautes Klacken ließ Mina zusammenzucken – der Toast war fertig. Fluchend über ihre eigene Schreckhaftigkeit, über ihre unangebrachten Gefühle und überhaupt über die ganze Situation, angelte sie die beiden Scheiben raus, legte sie in den Brotkorb und schob zwei neue ein.
Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, Henrik bei sich Unterkunft zu gewähren. Vielleicht war die Tatsache, dass es mit René gerade nicht so gut lief, eine deutliche Warnung, dass sie keine anderen Männer in ihr Leben lassen sollte, ehe sie ihre Beziehung nicht wieder in geordnete Bahnen gelenkt hatte. Sie sollte unbedingt einmal wieder auf ein richtiges Date mit René gehen. Zeit mit ihm verbringen, nur mit ihm. Ihm zuhören, von sich erzählen, einfach mal wieder all das, was sie überhaupt erst zusammengeführt hatte, wieder aufflammen lassen.
***
Energisch marschierte Mina über den langgezogenen Weg zum Anwesen. Der Butler oder Pförtner oder was auch immer seine korrekte Bezeichnung war, hatte ihr ohne Umschweife das Tor geöffnet, beinahe so, als hätte er ihre Rückkehr erwartet. Sie wusste nicht, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Der kalte Dezemberwind zupfte an ihrem Mantel und ließ ihre Stimmung nur noch weiter sinken. Sie verstand einfach nicht, was Margarete dachte, was sie hier erreichen konnte. Daniel hatte sie so deutlich hinausgeworfen, wie es nur ging. Ihr erneuter Besuch würde seinen Hass auf sie nur verstärken.
An der Eingangstür angekommen, hatte Mina nicht einmal genug Zeit, um anzuklopfen. Beinahe augenblicklich wurde die Tür geöffnet, doch statt des älteren Herren stand eine edel gekleidete Dame vor ihr, die Mina sofort als Daniels Mutter, Natascha von Hohenstein, erkannte.
Aus dem Konzept gebracht, trat sie einen Schritt zurück: »Frau von Hohenstein, ich freue mich, Sie persönlich kennenlernen zu können.«
Ein warmherziges Lächeln, das so freundlich und offen wirkte, dass Mina sofort misstrauisch wurde, erschien auf den Lippen der älteren Dame: »Sie müssen Frau Richter sein. Mein Sohn hat mir von Ihrem Besuch erzählt. Kommen Sie rein.«
Skeptisch folgte Mina der Aufforderung. Wo Daniel voller Verachtung und Abweisung gewesen war, benahm sich seine Mutter mit ausgesuchter Höflichkeit, ja beinahe unterwürfig. Rasch legte sie ihren Mantel und Hut ab, schüttelte ihre platt gedrückten Locken auf und folgte Natascha von Hohenstein dann in einen kleinen Salon, der direkt von der Eingangshalle abging.
»Wollen Sie einen Tee? Ober bevorzugen Sie Kaffee?«
Mina konnte nicht verhindern, dass ihre Augen misstrauisch den Raum nach Daniel absuchten. Die ganze Situation behagte ihr nicht. Entsprechend verkrampft erwiderte sie: »Schwarzen Tee, wenn möglich, ohne Zucker oder Zitrone.«
Frau von Hohenstein zog an einer kleinen Schnur, woraufhin der Butler erschien und die Bestellung aufnahm. Unwillkürlich fühlte Mina sich an den Film »Eine unmoralische Ehefrau« erinnert. Ob die Dame von Hohenstein ebenso hysterisch reagieren würde, wenn auf ihr Klingelzeichen hin nicht sofort irgendein Bediensteter auftauchte? Und warum gab es solche uralten Einrichtungen in der heutigen Zeit überhaupt noch? Versuchten die von Hohensteins, den alten Landadel zu imitieren?
Genervt von sich selbst nahm Mina auf dem ihr angebotenen Sessel Platz. Sie war nicht hier, um irgendwelche Urteile über die reiche, adelige Familie zu treffen. Wenn sie sich ihre Verachtung für die Gepflogenheiten der Reichen und Schönen zu sehr anmerken ließ, wäre das ihrer Mission gewiss nicht zuträglich.
»Ich habe Ihre Mappe gelesen«, eröffnete Natascha von Hohenstein schließlich das Gespräch, »im Gegensatz zu meinem Sohn. Sie müssen sein temperamentvolles Verhalten entschuldigen, manchmal ist er eben doch noch ein kleiner Junge.«
Mina unterdrückte ein Lachen. Temperamentvoll war eine schöne Umschreibung für völlig übertrieben und unangemessen. Sie imitierte das freundliche Lächeln und entgegnete: »Unsere gemeinsame Geschichte macht es ihm nicht einfach, das verstehe ich. Umso dankbarer bin ich, dass Sie mich überhaupt ein weiteres Mal empfangen.«
Kurz wurden sie unterbrochen, als der Butler ein Tablett mit zwei Tassen und einer Kanne Tee brachte. Nachdem die Hausherrin beiden eingeschenkt hatte, erklärte sie: »Im Gegenteil, wir müssen Ihnen danken, dass Sie überhaupt erneut Kontakt zu uns gesucht haben. Ihre Einschätzung unserer derzeitigen Lage ist vollkommen richtig. Ein Angebot wie Ihres kommt leider nicht jeden Tag, wir können positive Presse sehr gut gebrauchen.«
Beinahe hätte Mina sich an ihrem heißen Tee verschluckt. Mit einem so offenen Geständnis hätte sie nicht gerechnet. Doch bevor sie zu einer Antwort kam, fuhr die blonde Frau bereits fort: »Umso wichtiger ist es mir, dass Daniel selbst sich um diese Angelegenheit kümmert. Er muss lernen, als erwachsener Mensch zu agieren, als Chef eines Unternehmens. Ich hoffe, es ist Ihnen nicht zu unangenehm, die geschäftlichen Details mit ihm zu besprechen?«
Trotz des Tees breitete sich Kälte in Minas Magen aus. So undurchschaubar Daniels Mutter auch auf sie wirkte, zumindest schien sie zu rationalem Denken fähig. Sie hatte gerade angefangen, sich darauf zu freuen, die Details der Geldspende und der damit verbundenen Öffentlichkeitsauftritte mit ihr zu besprechen, da wurden all ihre Hoffnungen wieder zunichte gemacht. Verzweifelt klammerte sie sich an ihr freundliches Lächeln: »Das ist überhaupt kein Problem. Wir sind ja alle erwachsene, professionelle Menschen hier.«
Das fröhliche Lachen, das die Hausherrin daraufhin von sich gab, ging Mina durch Mark und Bein. Sie hatte das Gefühl, Opfer irgendeines Scherzes geworden zu sein, den sie nicht verstand. Entschlossen, sich davon nicht aus dem Konzept bringen zu lassen, setzte sie eine entspannte Miene auf und nippte an ihrem Tee. Wenn Daniel oder seine Mutter dachten, dass sie ihnen gerade unter dem Deckmantel professioneller Verhandlungen einen Freifahrtsschein zum Beleidigen gegeben hatte, irrten sie sich gewaltig. Ganz egal, was ihre Chefin sagte, wenn professionelle Grenzen überschritten wurden, war sie jederzeit bereit, die Verhandlungen abzubrechen.
»Daniel sollte in einigen Minuten zu uns stoßen, er hatte heute Morgen einen wichtigen Termin.«
Nur mühsam konnte Mina ein Augenrollen unterdrücken. Einen wichtigen Termin, gewiss. Vermutlich hatte er mit seiner Mutter dieses Theater durchgeplant: erst weichkochen, dann Todesstoß versetzen. Statt der eigentlichen Antwort, die ihr auf der Zunge brannte, kommentierte Mina: »Es ist schön zu sehen, dass er ein so beschäftigter Mann ist. Nicht alle Söhne reicher Familien sind sich ihrer Verantwortung so bewusst.«
»Er muss noch viel lernen, aber zumindest ist er dazu bereit, ja«, stimmte Natascha von Hohenstein ihr zu.
Schweigend trank Mina ihren Tee. Je mehr sie über die wenigen Worte, die sie mit der Frau ausgetauscht hatte, nachdachte, umso mehr bekam sie das Gefühl, in irgendein Spielchen der gelangweilten reichen Leute verwickelt worden zu sein. Sie wollte doch nur Geld für ihre Wohltätigkeitsorganisation bekommen. Doch wenn sie sich dazu auf Spielchen einlassen musste, würde sie in den sauren Apfel beißen. Sie war vielleicht nicht so geübt darin, aber zumindest war sie keine naive Jugendliche mehr, die jedes gesprochene Wort für bare Münze nahm.
Wie von seiner Mutter versprochen, erschien Daniel tatsächlich einige Minuten später selbst in dem kleinen Salon: »Ah, Mina, ich hatte mich schon gefragt, wann du zu mir zurückkehrst!«
Sie konnte sich nicht dagegen wehren, dass ihr Mund einfach nur aufklappte und sie dümmlich zu ihm hochstarrte. Woher kam diese plötzliche Freundlichkeit, dieser übertrieben vertraute Umgang? Während sie beobachtete, wie Daniel seiner Mutter einen Kuss auf die Wange drückte, ehe diese sich von ihnen beiden verabschiedete, rief Mina sich zur Ordnung. Sie musste auf der Hut sein und alles hinterfragen, was er zu ihr sagte.
»Ich freue mich, dass du endlich Manieren gelernt hast«, begrüßte sie Daniel, als er neben ihr Platz genommen hatte: »Warum nicht gleich so?«
Ein schuldbewusstes Grinsen erschien auf seinen Lippen: »Alte Gewohnheiten. Es tut mir wirklich leid, dass ich dir die kalte Schulter gezeigt habe. Kannst du mir verzeihen, Mina?«
Wie um seiner vertraulichen Anrede noch mehr Bedeutung zu verleihen, beugte er sich zu ihr hinüber, um sie auf Augenhöhe direkt anzuschauen. Mina schluckte. Sie erinnerte sich erneut an seine Flirtversuche zu Unizeiten, doch so plötzlich wieder damit konfrontiert zu werden, das brachte sie gegen ihren Willen völlig aus dem Gleichgewicht.
»Ich ...«, setzte sie an, doch sie musste sich unterbrechen, da ihr plötzlich unheimlich trockener Mund ihr die Dienste versagte.
»Warum lässt du dich nicht von mir zum Mittagessen einladen?«, schlug Daniel vor, als wäre es das Natürlichste der Welt: »Als Entschuldigung? Dabei können wir in Ruhe über alle Details unserer künftigen Beziehung sprechen.«
Wieder klappte ihr Mund auf, ohne dass ihr eine Erwiderung einfiel. Was ging hier vor sich? Was hatten die von Hohensteins ausgeheckt, dass sie derart schwere Geschütze auffuhren? Wollte Daniel sich ernsthaft mit ihr zusammen in der Öffentlichkeit zeigen? Misstrauisch klappte sie den Mund zu und kniff die Augen zusammen. Man wollte sie an der Nase herumführen und ablenken, so viel stand fest. Doch so leicht würde sie nicht aufgeben.
»Das klingt wundervoll«, erwiderte sie fröhlich und erwiderte sein Lächeln. Entschlossen blickte sie ihm in die Augen, wartete nur darauf, dass er sein aufgesetztes Verhalten fallen ließ, doch er schaute ebenso breit lächelnd zurück, hielt den Blickkontakt und wirkte tatsächlich begeistert. Krampfhaft zwang sie sich, nicht rot zu werden oder zu Boden zu schauen.
Schließlich lachte er leise und richtete sich wieder auf: »Schön. Lass uns unsere Mäntel holen. Ich kenne ein sehr gutes Restaurant in der Innenstadt.«
Misstrauisch folgte sie ihm in die Eingangshalle. Vielleicht hätte sie ihm den charmanten Verführer abgenommen, wenn er nicht bei ihrem ersten Versuch so offensichtlich abgeneigt gewesen wäre. So jedoch wusste sie einfach, dass er irgendetwas im Schilde führte. Sie verstand noch nicht genau, warum er der Meinung war, seine Verführungsversuche wären plötzlich die richtige Nummer, doch sie beschloss, abzuwarten und zu beobachten. Ihr war es egal, ob man sie in der Öffentlichkeit mit Daniel von Hohenstein sah. Henrik wusste über ihre Arbeit Bescheid, René konnte sie ebenso leicht die Wahrheit erzählen, und die Meinung aller anderen interessierte sie nicht. Sie hatte bei diesem Mittagessen nichts zu verlieren.
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