2-1 | Auf in den Kampf

Angespannt spielte Mina mit dem Strohhalm, der in ihrem Latte Macchiato steckte. René schwieg jetzt schon für eine lange Zeit, länger, als er es normalerweise aushielt, und sie sah deutlich, wie sich eine steile Falte zwischen seinen Augenbrauen bildete. Sie hatte mit dieser Reaktion gerechnet.

     »Warum willst du mit Henri zusammenleben, aber nicht mit mir?«, fragte er schließlich, ohne ihr in die Augen zu schauen.

     Mina seufzte. Sie wusste aus ihrer gemeinsamen Zeit an der Uni, wie unsicher René sich war, ob sie nicht doch Henrik bevorzugte. Sie hatte ihn überhaupt erst über Henrik kennengelernt, und die Tatsache, dass sie beide dasselbe studierten, während René, wie er es ausdrückte, nur eine Ausbildung machte, schien ihn immer belastet zu haben. Wie sollte sie ihm nur deutlich machen, dass nie irgendetwas auf der Ebene zwischen ihr und Henrik gelaufen war? Sie ließ ihren Kaffee los und reichte eine Hand über den Tisch zu René hinüber: »Hier geht es nicht um meinen Willen. Henri braucht ein Dach über dem Kopf, bis er eine eigene Wohnung gefunden hat. Soll ich ihn etwa im Stich lassen?«

     René ergriff ihre Hand nicht, sondern ließ sich in seinen Stuhl zurücksinken, die Arme vor der Brust verschränkt: »Er könnte auch bei mir wohnen.«

     Enttäuscht zog Mina ihre Hand zurück und fuhr sich durch ihr Haar: »Sicher. Aber du bist zufällig der große Bruder seiner Ex-Freundin. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie dich besucht, während er bei dir wohnt, ist ziemlich hoch. Und das wäre für euch alle sehr unangenehm, denkst du nicht?«

     Endlich schaute er sie direkt an, doch sein Ausdruck war noch immer finster: »Du hast immer die besseren Argumente, ist dir das mal aufgefallen? Das ist echt anstrengend.«

     »Was?«, entfuhr es Mina ungläubig: »Wie kannst du mir daraus einen Vorwurf machen?«

     Statt einer Antwort wandte René seinen Blick ab und sah aus dem Fenster. Genervt schüttelte Mina den Kopf. Es war manchmal so schwer für sie, mit Renés Unsicherheiten klarzukommen. Sie konnte verstehen, dass es als jüngster Bruder von vielen schwer war, sich als eigenständiger Mann hervorzutun, und die Freundschaft zu Henrik, der immerhin schon des Öfteren in der Zeitung gestanden hatte, hatte nicht geholfen. Aber es wurde wirklich Zeit, dass er erkannte, dass sie mit ihm zusammen war und nicht mit Henrik, und zwar aus freier Entscheidung.

     »Es tut mir leid«, kam es leise von René. Aufmerksam blickte Mina ihn an, während er sich langsam entspannte und wieder ihr zuwandte. Unsicher fuhr er fort: »Ich wünsche mir einfach nur ... ich will mein Leben mit dir verbringen, Mina. Ich wollte das schon immer. Und ... ich weiß, du willst deine Freiheit und brauchst Raum für dich. Ich verstehe das, wirklich. Aber manchmal ist es einfach so ... schwer. Und dann nimmst du plötzlich Henrik bei dir auf und ich weiß doch, wie gut ihr euch immer schon verstanden habt. Und ich weiß, wie Kerle ticken.«

     Ein mitfühlendes Lächeln trat auf Minas Gesicht und erneut streckte sie ihre Hand nach ihm aus. Diesmal ergriff er sie, um mit seinem Daumen ihren Handrücken zu massieren. So warm wie möglich erwiderte sie: »Ich weiß, René. Und ich bin dir wirklich dankbar, dass du so geduldig mit mir bist. Aber wirklich, vertrau Henri ein bisschen mehr. Er ist dein bester Freund, er würde niemals irgendetwas tun, das dich verletzen könnte. Und ich erst recht nicht. Ich will ihm nur helfen, die Trennung von Giselle ein bisschen besser zu verdauen.«

     Mühsam erwiderte René ihr Lächeln. Mina schloss die Augen und genoss das Gefühl seiner Finger auf ihrer Hand. Es war einer dieser seltenen Momente der Ruhe und Stille, die sie so sehr genoss in ihrem Zusammensein mit René. Und sie klammerte sich mit allem, was sie hatte, daran, dass dies für ihre gemeinsame Zukunft genug war.

***


Unzufrieden blätterte Mina durch die Akte der von Hohensteins. Wie erwartet hatte Margarete sie nicht einfach so gehen lassen. Sie hatte darauf bestanden, dass Mina weiterhin an der Familie dranblieb und versuchte, ihren Fehler beim Anfangsgespräch gutzumachen. Ihren Fehler. Unwillig fuhr sie sich durch ihre braunen Locken. Sie hatte keinerlei Fehler gemacht, es war Daniel gewesen, der ohne Grund wütend geworden war. Er hatte ein hitziges Temperament, das er zwar normalerweise hinter einer kühlen, überheblichen Fassade zu verbergen wusste, doch in Gesprächen mit ihr, oder noch schlimmer mit Henrik, kam es immer wieder zum Vorschein. Er reagierte auf ihren besten Freund wie Wasser auf Feuer: zischend und fauchend. Ihr eigenes größtes Verbrechen war es, dass sie mit Henrik befreundet war und während des Studiums im gemeinsamen Seminar stets bessere Noten erhalten hatte. Aber natürlich war das misslungene Gespräch ihre Schuld. Überhaupt schien Daniel immer schon in ihr oder Henrik die Ursache für seine eigenen Probleme gesehen zu haben.


»Verfluchter Henrik Zimmer!«

     Das war das erste, was Mina beim Eintreten in den Seminarraum hörte. Überrascht blickte sie zu Daniel hinüber, der sich gerade lautstark seinen Freunden gegenüber beschwerte – und zwar über ihren besten Freund. Sie hatte eine gute Vorstellung davon, was wohl sein Problem sein mochte, doch sie setzte eine unschuldige Miene auf und erkundigte sich beim Näherkommen: »Was ist denn passiert?«

     Daniels Augen blitzten, als er zu ihr aufsah: »Ach, du kennst doch bestimmt unsere Campus-Berühmtheit, Henrik Zimmer. Dieser Streber, der in Jura angeblich so ein Überflieger ist. Die regionalen Zeitungen scheinen ja nichts lieber zu tun, als über ihn zu berichten.«

     Mina biss sich auf die Lippen, um ein lautes Lachen zu unterdrücken: »Oh, stiehlt der Gute dir etwa das Scheinwerferlicht? Hättest du lieber Storys über dich selbst in den Zeitungen?"

     Zu ihrer Überraschung verbargen Daniels Freunde offensichtlich ein Lachen hinter ihren Händen als Reaktion auf ihre Worte. Das war interessant. Der Angesprochene selbst rollte nur mit den Augen: »Ich stehe oft genug in der Presse, da kann ich schon damit leben, wenn die mal über ihn berichten.«

     Mina bezweifelte das. Es war kein Geheimnis, dass Daniel als der Erbe der von Hohensteins regelmäßig in der Zeitung gewesen war für diese oder jene herausragende Aktion. Meistens waren es Klatschgeschichten, doch seit Henrik die ersten Semester Jura absolviert hatte und das mit erstaunlich vielen Bestnoten, hatte die regionale Presse einen neuen Liebling gefunden. Die Geschichte des armen Henrik Zimmers, der nur über ein Stipendium überhaupt an die Uni kommen konnte, und der jetzt selbst seine Professoren in Erstaunen versetzte, war einfach so viel interessanter als die immer gleichen Geschichten über reiche, verzogene Söhne, denen alles in den Schoß fiel.

     Trotzdem ließ Mina die Aussage unangefochten stehen und hakte stattdessen nach: »Was hat er denn dann getan?«

     Daniel stützte sein Kinn auf einer Hand auf und zog eine Grimasse: »Er ist Starter in unserer Fußballmannschaft.«

     Diesmal misslang es Mina, ein Grinsen zu unterdrücken. Sie hatte am Vortag von Henrik selbst erfahren, dass die Listen für die nächsten Turniere draußen waren, und er hatte sich so erleichtert und überlegen gezeigt, dass er dabei war und Daniel nicht. Lächelnd fragte sie: »Und du nicht?«

     »Nein!«, fauchte Daniel: »Ich nicht. Verdammte Weltverbesserer. Der blöde Zimmer kriegt alles in Arsch geschoben, weil die Presse ihn liebt. Klar, dass es dem Coach gut gefällt, so einen als Starter zu haben. Prestige und so. Aber beim Fußball geht's auch ums Gewinnen und da sollte Können alleine zählen und nicht irgendwelches Ansehen. Zum Kotzen.«

     Kichernd erinnerte Mina sich an die Unterhaltung mit René und Henrik. Genau so war die auch verlaufen, nur dass mit demselben Argument Daniel auf die Ersatzbank geschoben wurde. Versöhnlich legte sie ihm eine Hand auf den Arm: »Wird das Lineup nicht jedes Semester neu bestimmt? Wenn du dran bleibst, bist du bestimmt nächstes Mal dabei.«

     »Das ist es ja«, gab Daniel frustriert zurück: »Wir spielen auf derselben Position, das heißt, solange er da ist und der Coach lieber Promis als gute Spieler hat, komme ich nie zum Einsatz. Kann der nicht irgendetwas anderes machen? Ich dachte, Jura ist so anstrengend und alle Studenten müssen rund um die Uhr lernen, um überhaupt was zu reißen.«

     Mina wiegte den Kopf hin und her. Generell war es richtig, dass man für Jura mehr lernen musste als für viele andere Studiengänge. Aber wenn man halbwegs intelligent war, so wusste sie aus eigener Erfahrung, und konzentriert lernen konnte, blieb am Ende des Tages durchaus noch genügend Freizeit übrig. Und Henrik war auch einfach nicht der durchschnittliche Student. Er hatte ein so festes Ziel vor Augen und war so unendlich diszipliniert in seinem Erfolgsstreben, dass selbst ihr manchmal schwindelig wurde. Er war ein Überflieger, wie er im Buche stand.

     »Aber solltest du dann nicht wütend auf euren Coach sein? Es war ja immerhin seine Entscheidung.«

     Hasserfüllt schüttelte Daniel den Kopf: »Ach, ich kann's ihm doch nicht mal wirklich verübeln. Ich verstehe ja selbst, wie das Spiel funktioniert. Glaub mir, ich weiß, wie wichtig Image und ein guter Ruf sind. Zimmer ist das Problem. Er soll sich einfach auf sein scheiß Jura konzentrieren und den Rest von uns in Ruhe lassen. Es besteht keine Not, überall allen unter die Nase zu reiben, wie geil er ist.«

     Etwas beschämt, weil sie zuließ, dass Daniel ihren besten Freund so beschimpfte, erklärte sie: »Ich weiß nicht. Ich studiere auch Jura und kenne ihn. Er ist halt einfach gut.«

     »Wie schön für uns alle!«, zischte Daniel.

     Mina war dankbar, dass in diesem Moment ihr Dozent reinkam und sie nicht mit Daniel darüber streiten musste, ob Henrik seinen Platz in der Fußballmannschaft verdient hatte oder nicht. Sie hätte nie gedacht, dass ausgerechnet der für sein kühles Desinteresse berühmte Daniel von Hohenstein so hitzig werden konnte. Es machte ihn nicht sympathischer.

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