Kapitel 9 (neu)
Panik erfüllt mich, als wir nach und nach die Feuerleiter ganz langsam nach unten steigen. Ein sehr unangenehmes Schwindelgefühl erfasst mich, aber ich halte mich fest und konzentriere mich allein auf den Gedanken, die Sprossen zu umklammern und langsam hinabzusteigen. Mit schwitzigen Händen und verkrampfter Haltung arbeite ich mich Stufe für Stufe nach unten. Trotzdem sehe ich vor meinem inneren Augen in dem Nachthimmel die Rauchschwaden und die schwarzen Wolken, auch wenn ich den Rücken zum Himmel gewandt habe. Ein Windstoß bringt mich zum Schwanken und den beißenden Geruch des Qualms kann ich trotz der Schutzmaske gut riechen. Dann bin ich endlich unten in der Menschenmenge angelangt. Nicht alle Einwohner des Hauses haben die Feuerleiter genommen, besonders die aus den unteren Stockwerken sind direkt durch das Treppenhaus nach draußen geflüchtet.
Eine graue Masse mit gelben Entenschnäbeln umschließt mich und schnell bin ich durch die sich panisch herumschubsenden Menschen auf der anderen Straßenseite gelandet. Mein Herz schlägt schnell und mein Atem geht flach, was durch den Filter der Maske noch verstärkt wird.
Ich höre die Leute um mich herum rufen und nervös reden, aber ich bekomme nur Fetzen mit, weil ich zwischendurch das Gefühl habe, immer noch einer Leiter zu hängen. Dieses gewaltige Gefühl der Machtlosigkeit gemischt mit der Vorstellung, dass die Entfernung zu dem Boden groß genug ist, um aus mir bei einem Sturz Menschenbrei zu machen, lässt den Zucchini-Brei wieder in meinem Magen hochsteigen.
»... es ist ein so großes Feuer!«, ruft jemand. Und ein anderer: »... ungewöhnlich ... was ist passiert?«
Und ein anderer wieder: »... brennt ... die alte Fabrik!«
Ab und zu kann ich Babys weinen und Kinder nach ihren Eltern rufen hören.
Um mich herum scheint sich alles zu drehen und ich höre wieder Zoeys Stimme: »Der Rauch darf nicht in die Wohnung, eine Rauchvergiftung ist sehr gefährlich. Wir müssen hier aber raus, weil wir hier drinnen gefangen sein könnten, wenn der Brand sich ausbreitet ... sich ausbreitet ... sich ausbreitet ...«
Mein Blick huscht zu den schwarzen Rauchwolken, die von unten rötlich angeleuchtet sind. Das Feuer ist nicht weit von mir entfernt, die Flammen greifen gierig nach den Wänden und dem bisschen Holz, was sie finden können.
Weg vom Feuer, das ist der einzige Gedanke, den ich klar fassen kann. Also laufe ich los, werde aber links und rechts von grauen Gestalten angerempelt. Einmal stolpere ich über den Bordstein und wäre beinahe hingefallen, kann mich aber noch davor bewahren. Würde die Menge meinen Sturz überhaupt bemerken?
Lavita, reiß dich zusammen!
Mein Herz stolpert immer noch, aber ich laufe aufrechter und angepasst an den Strom der Masse. Hinter mir knistert und kracht es, als ein Teil eines Baugerüst aus Holz hundert Meter entfernt einstürzt.
Sofort schießen meine Gedanken zu Kerstin und Papa. Wo sind sie? Doch in dem dämmrigen Licht und der gleichen grauen Kleidung kann ich sie nicht erkennen.
Eine Sirene lässt mich zusammenzucken. Das Löschfahrzeug bahnt sich einen Weg durch die Mitte und ein Mann mit Megafon brüllt der Masse Befehle zu.
»Weg vom Feuer! Tempo! Nicht rumstehen! Nicht auf eure Freunde warten, sondern laufen! Wenn ihr stehen bleibt, riskiert ihr sogar womöglich euer Freunde Leben!«
Also gebe ich es auf, die anderen zu suchen, sondern schwimme weiter mit der Masse weg vom Feuer. Hinter mir ertönt erschrecktes Aufschreien und zischen vom Feuer. Mein Kopf schießt herum, und ich erkenne gerade noch durch die anderen Köpfe hinweg, wie der Rauch sich explosionsartig entzündet und dann das Baugerüst vollständig zu Boden reist.
Die Sirenen werden lauter, Feuerwehrkräfte tun ihr Bestes. Von hinten werde ich wieder angerempelt, was meine Beine wieder dazu bringt, einen Schritt vor den anderen zu setzen. Kühlen Kopf bewahren. Die Menge verteilt sich mehr und mehr und endlich habe ich das Gefühl, nicht zwischen Menschen eingequetscht zu sein.
»Lavita!«, ruft eine Stimme hinter mir. Lewis kommt auf mich zu, seine Schutzmaske hält er in der Hand.
»Alles gut?«, fragt er besorgt und als ich halb betäubt von dem Trubel Keine Antwort hervorbekomme, zieht er mich mit sich. Er bleibt erst stehen, als um uns herum nur noch wenig Menschen sind und das Feuer außer Sichtweite. Dann nimmt er meinen Entenschnabel ab. Dabei berührt er sanft meine Haut und die Berührung hinterlässt ein Prickeln auf meiner Haut.
»Jetzt besser?«
Frische Luft dringt in meine Lungen und ich fühle mich gleich viel besser. »Nur ... ein bisschen schwindelig.«
Er nickt. »Kein Wunder, du bist das alles als Dorfkind nicht gewohnt.«
»Kannst du das lassen?«, frage ich genervt.
»Was?«
»Dieses ganze Ihr seid Dorfkinder und deswegen blöder als ich Getue. Es nervt. Mir ging es deswegen nicht gut, weil ich gegen Höhe empfindlich bin. Das liegt nicht am Dorf.«
Lewis rümpft die Nase, sagt aber nichts.
»Man, mir war nur schwindelig, du musst da doch keine große Sache draus machen!«
»Wer macht gerade eine große Sache draus?«, kontert Lewis. Fassungslos fällt mir meine Kinnlade runter.
»Aber gut, die Stadt und besonders meine unglaubliche Präsenz können bei manchen eben Schwindelgefühle auslösen«, sagt er und zwinkert mir zu.
Was- Versucht er gerade mit mir zu flirten?
»Ganz schön überzeugt von sich selbst, ne?«, erwidere ich. »Dagegen habe ich ja prinzipiell auch nichts. Nur ... manche Leute sollten sich ihres Niveaus bewusster sein.«
Jetzt lächelt Lewis. »Hinter dem Dorfkind steckt ja eine richtige Kratzbürste, ich bin beeindruckt.«
»Nehm ich als Kompliment.« Ich nicke zufrieden.
»Schön zu sehen, dass du wieder vollständig anwesend bist. Wir treffen uns gleich mit den anderen an unserem geheimen Treffpunkt.« Als ich mich nicht bewege, sagt er: »Dafür musst du schon laufen.«
»Ha ha. Warum soll ich einem fremden Stadtidiot hinterherrennen?«
»Weil ich weiß, wo deine und meine Familie hingehen und du nicht.«
Widerwillig folge ich ihm und grummele vor mich hin: »So ein Scheiß. Jetzt muss ich auch noch mit dem Blödmann rumlaufen. Ich könnte mir keinen dooferen Abgang für den Tag vorstellen.«
Lewis bleibt stehen, weil er - wie erhofft - meine Worte gehört hat, und dreht sich zu mir um. Er lehnt sich verschwörerisch vor und flüstert: »Ich glaube du ... schwindelst.«
Ich brauche einen Moment, um den Witz zu verstehen, verdrehe dann aber die Augen.
»Egal, wir sollten uns geschwind-elt aufmachen, um zu den anderen zu kommen.« Was er kann, kann ich schon lange.
Die Straßen sind dunkel und damit meine ich kein Straßenlaternendunkel sondern ein Nachtslichtausdunkel. Doch nicht nur, um Geld und Strom zu sparen sind die Laternen nicht an, sondern auch, damit die Straßen nachts für die Bewohner Kaltenbruchs nicht attraktiv sind. Damit nachts alle ihren Schlafrhythmus verfolgen können, damit kein Licht durch die Fenster nach innen dringt. Das soll die Gesundheit der Menschen fördern. Aber heute sind noch viele auf den Straßen, trotz der Dunkelheit. Der Brand hat so einige graue Menschen nach draußen befördert. Ich find es ziemlich gruselig, dass im Dunklen ab und zu an Gestalten an uns vorbeilaufen, aber das Licht von Lewis' Taschenlampe macht es besser.
Nach einer Weile werden andere Passanten immer seltener und ich frage Lewis: »Wohin gehen wir eigentlich?«
»Zu einem Widerstandsversteck, sind gleich da. Gesetzlich sieht Penthesilea es vor, dass sich bei einem Brand alle sammeln, aber wir können nicht riskieren, dass sie euch dabei kontrollieren. Deswegen vermeiden wir jegliche Konfrontation mit Polizisten.«
»Klingt einleuchtend.«
Plötzlich erlischt Lewis Taschenlampe, während er abrupt stehen bleibt und ich gegen ihn knalle. Verwirrt reibe ich mir den Kopf und will mich beschweren, aber er legt mir die Hand auf den Mund. Unwillkürlich werde ich mir seiner Nähe bewusst, versuche mich aber auf die Umgebung zu konzentrieren.
Ein heller Lichtstrahl gleitet über Hauseingänge der anderen Straßenseite. Jetzt höre ich auch Stimmen.
»Die Widerstandsratten werden doch nicht so blöde sein, hier irgendwo herumzukriechen. Du hast bestimmt nichts gehört.«
»Wir hätten auch einen schönen Pokerabend mit den artgenössischen Freunden haben können«, meldet sich ein zweiter.
»Ein Jammer, dass die HJ nicht wieder eingeführt wurde. Sie könnte so ein Gemeinschaftsgefühl verbreiten«, mischt sich ein dritter ein.
»Vielleicht würde das auch den Ratten zeigen, wie richtig das dritte Reich ist«, stimmt der zweite ihm zu.
»Pass auf mit deiner Ausdrucksweise«, fällt der erste ihm ins Wort. »Man könnte beinahe meinen, dass du nicht hinter Penthesilea stehst, sondern Hitler hinterherträumst.«
Das finden anscheinend alle drei Nazis witzig, weshalb lautes Lachen durch die sonst vollkommen stille Straße fegt. Vor Ekel hätte ich am liebsten gekotzt, wenn nicht Lewis' Hand über meinem Mund liegen würde.
»Sie haben ja immerhin die Grenzen abgeriegelt, damit kein Ausländergeziefer hier her krabbeln kann«, führt der zweite die Konversation fort und ich würde ihm am liebsten eine scheuern.
»Das Ungeziefer hier drin haben sie leider nicht rausgefegt.«
»Ich finde die Ausländer okay«, sagt der erste, während sich ihre Schritte entfernen. »Es sind ja unsere deutschen Ausländer. Und solang sie ihre Arbeit machen-«
Plötzlich werden wir von hellem Licht geblendet.
»Scheiße«, flucht Lewis und schiebt genauso schnell hinterher: »Renn!«
Wir sprinten los und ein paar Sekunden später vermehren sich unsere Schritte. Anscheinend haben die Vollidiot-Nazis auch realisiert, dass sie nicht nur auf Widerstandsratten, sondern auch auf Ausländergeziefer gestoßen sind. Auch wenn ich die blonden Haare von meiner Mama geerbt habe, bin ich mir nur zu gut meinem dunkleren Teint bewusst, den ich meinen spanisch-brasilianischen Wurzeln zu verdanken habe.
Und plötzlich wird mir klar, dass die Polizisten nicht nur irgendwas gesucht haben müssen. Sie müssen jemanden Bestimmten suchen. Nicht nur Widerstandsleute, sondern jemand, der womöglich dumm genug gewesen ist, um bei einer von Handykameras gefilmten Situation ein Gespräch mit Frau Fröhlich anzufangen.
Jemanden, der auch schon im Park gewesen ist, den sie von beiden Seiten abgeriegelt haben.
Jemanden, der hier eigentlich nicht sein sollte.
Jemanden wie mich.
Mein Adrenalinspiegel steigt auf einen viel zu hohen Wert, während die Erkenntnisse nur so auf mich einschlagen, die wie Äste um mich herum wachsen und mir im Weg sind, durch die ich aber trotzdem in viel zu schnellen Tempo renne.
Könnte es wirklich sein, dass sie mich suchen? Oder bilde ich mir das nur ein?
Aber was, wenn Penthesilea den Brand als Chance genommen hat, um alle Menschen, die sich nicht ordnungsgetreu sammeln, abzugreifen und sie als Widerstand zu identifizieren? Was, wenn sie nach mir suchen wegen des Videos?
»Wir müssen uns aufteilen. Das Licht ist nicht gut. Du bleibst im Hauseingang stehen, ich renn weiter. Dann, wenn sie weg sind, rennst du in eine andere Richtung«, zischt mir Lewis keuchend zu. Ich kriege gerade so ein geschnauftes Okay heraus, dann tauche ich nach links, während Lewis weitersprintet. Der Lichtstrahl und die Polizisten folgen ihm, und weil das Licht ebenfalls wackelt, ist nicht genau zu erkennen, ob Lewis allein ist oder nicht. Eine schlaue Idee, nur dass sie ein paar Lücken hat.
Erstes Problem: Was wenn sie Lewis einholen? Was wird dann mit ihm passieren?
Zweites Problem: Was, wenn sie mich doch bemerken, auch wenn sie schon an mir vorbeigerannt sind?
Drittes Problem: Wie finde ich mich in dieser riesigen, dunklen Stadt alleine zurecht?
Aber wahrscheinlich hatte Lewis nicht die Zeit, diese Gedanken abzuwägen, bevor er sie mit mir geteilt hat. Ich warte ein paar Sekunden ab, bis die Schritte verklungen sind, während meine Augen sich immer mehr an die Dunkelheit gewöhnen. Ohne Taschenlampen fällt es mir sogar leichter, zumal es nicht komplett dunkel ist.
Ich atme tief durch und gehe dann ein paar Schritte in Richtung des nächsten Hauseingangs, welcher mir Schutz bietet. Immer noch habe ich Angst, dass gleich irgendein Polizist auftauchen könnte.
Doch bestimmt bin ich nicht mehr weit weg vom Versteck des Widerstands. Vielleicht könnte ich es ja auch so finden? Mit dieser Hoffnung überwinde ich die Angst und mache mich daran, geschickt von Hauseingang zu Hauseingang zu huschen.
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