Kapitel 7 (neu)
Papa ist ziemlich nervös. Ihm gefällt es gar nicht, dass ich mit Frau Fröhlich gesprochen habe und vor allem, dass so viele Handykameras mitgefilmt haben. Würde jemand kontrollieren, ob ich wirklich existiere? Aber gibt es denn einen Grund dafür? Ich hab mich ja nicht wirklich daneben benommen.
... Ich hab mich nur über Penthesilea lustig gemacht.
Na gut, das ist wahrscheinlich wirklich nicht so eine schlaue Idee gewesen. Aber vielleicht sind wir ja wieder aus der Stadt raus, bis die mein Gesicht gescannt haben. Falls sie das überhaupt machen. Ich meine, die haben bestimmt besseres zu tun. Leuten zum Beispiel erzählen, wie toll sie sind und das Penthesliea der einzige Weg für eine sichere Zukunft ist. Bei dem Gedanken daran, dass Frau Fröhlich sehr geschickt diesen Vorfall genommen hat, um Zweifel an der Diktatur auszuräumen, wird mir übel. Den Fakt, dass Mias Schwester verschwunden ist, hatte sie elegant mit ihrer Gnade abgelenkt. Ich habe richtig gespürt, wie die Umstehenden gleicher Meinung gewesen sind.
Wir haben jetzt auch endlich Wasser an einer Wasserausgabe bekommen und mit klarerem Kopf nehme ich die Stadt nicht mehr so überfordernd wahr. Der Lärm und das viele graue Leben ist zwar trotzdem sehr überwältigend, aber ich habe mich ein bisschen daran gewöhnt. Der einzige Fakt, der mir Bauchschmerzen bereitet sind die fehlenden Bäume. Dadurch fühlt sich alles so beengend an. So unfrei, wie die Menschen in diesem Regime eigentlich sind.
Neben mir merke ich, wie Kerstin gegensätzlich zu mir die Luft genüsslich einatmet. Sie scheint alle Details in sich aufzusaugen, weil sie auch weiß, dass dieser Aufenthalt nicht lang sein wird. Ich bin mir sicher, dass sie sich innerlich wünscht, er würde länger sein als nur heute. Sie sehnt sich nach einem volleren, spannenderem Leben. Ich verstehe es, doch gleichzeitig weiß ich, dass mich das alles hier nicht glücklich machen würde. Wieder nehme ich die gewaltige Höhe der Häuser links und rechts wahr.
Doch dann entdecke ich eine Grünfläche. Mein Herz macht einen Sprung, als ich merke, dass wir genau auf diese Lücke zwischen den Häusern zusteuern. Sie kommt mir beinahe ein bisschen unnatürlich vor, wie eine Zahnlücke in dem Mund eines riesigen Haifisches.
Als wir den Rand von dem Park erreicht haben, erklärt Papa uns endlich, was wir genau vorhaben.
»Quentine, unsere Verkäuferin, wartet auf einer Parkbank und wir setzen uns zu ihr wie Freunde von ihr. Wir reden normal, doch am Ende nimmt sie unseren Rucksack und wir ihren mit. Wir haben schon oft mit ihr getauscht, daher haben wir auch einen Rucksack, der genau gleich aussieht wie ihrer.«
Ich nicke, denn das klingt logisch. Täuschung, der wohl einzige Weg, um in Penthesilea unauffällig Gegenstände auszutauschen.
Wir betreten den breiten Kiesweg, der links und rechts von Pappeln gesäumt ist. Sie wirken lebendig und erfrischend mit ihren vielen Blättern und dem schützendem Schatten, aber der Stamm verrät ihren eigentlichen Zustand. Die Rinde ist beinahe vollständig abgeworfen - das eindeutige Zeichen von Wassermangel. Ich versuche dieses Detail zu ignorieren, was mir das Herz ganz schwer werden lässt. Nicht einmal dieses kleine Stückchen grün wird mit genügend Wasser versorgt. Als sei es unwichtig. Dabei ist es für mich der mit Abstand schönste Ort in der Stadt bis jetzt.
Und so denken bestimmt auch viele andere, denn es tummeln sich Menschen und Familien hier, einige auf Bänken, andere auf der Wiese, einige schlechter gekleidete mit ihrer Arbeit vor sich. Bei dem Gedanken daran, dass sie nicht genügend Freizeit haben, um einfach nur so in diesen Park zu kommen, fühle ich großes Mitleid mit ihnen. Sie haben sich dieses Leben schließlich nicht ausgesucht.
Der Park ist angenehm langerstreckt und so laufen wir ein paar Minuten, bis wir bei einer Parkbank anhalten und uns zu der jungen Frau dazusetzen. Sie schaut uns freundlich an und ihre Sommersprossen machen sie für mich gleich viel sympathischer.
»Wer von euch ist Lavita und wer Kerstin?«, fragt sie lachend und steht auf, um uns zu begrüßen. Wir stellen uns vor und sie nimmt uns sofort in den Arm. Zu ihr hätte der Name Fröhlich gut gepasst - und mich würde es nicht wundern, wenn sie Düster heißen würde. Tut sie aber nicht. Denn sie stellt sich mit Quentine Majer vor.
»Ich hab schon viel von euch gehört. Setzt euch doch und erzählt mir von euch. Ihr schaut also gerne alte Filme an?«, beginnt sie sofort ein Gespräch und ich bin ganz überfordert. Ich hatte mir alle hier in der Stadt anders vorgestellt. Irgendwie mehr wie Maschinen. Aber Quentine wirkt auf mich nicht wie eine Maschine. Höchstens wie eine mit der Programmierung »Freundlichkeit«.
Wir quatschen eine Weile, die Rucksäcke sind nah beieinander gestellt und wir erfahren, dass Quentine zwei Kinder hat, Lewis und Zoey, aber alleinerziehend ist. Der Vater hat den Antrag auf gemeinsames Wohnen nicht unterschrieben und damit offenbart, dass er die Kinder eigentlich nicht gewollt hatte. An der Stelle wird Quentines fröhliches Lächeln kurz durch ein trauriges ausgetauscht, bevor sie sich wieder sammelt und ein neues Thema anbricht.
Ich frage mich, wie die Kinder wohl sind? Auch so nervig wie Emil? Oder sind sie hier weniger wild? Vielleicht weil sie in der Stadt gar nicht die Möglichkeit haben, sich frei zu entfalten? Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, als Quentines Handy klingelt.
»Lewis, was ist los? Du weißt, dass du gerade nicht-«, beginnt sie, stockt dann aber. »Was?«
Jetzt schaut sie sich irritiert um und richtet dann ihren panischen Blick auf uns. Mein Herz beginnt schneller zu schlagen. Was ist denn los?
»Scheiße, das kann nicht sein! Ja, genau. Danke.«
Dann legt sie auf und nimmt sich ihren Rucksack.
»Planänderung. Wir müssen hier schnell verschwinden.« Sie erklärt nicht warum, sondern beginnt in Richtung Hauswand zu laufen. Ich wechsele einen verwirrten Blick mit Kerstin, doch als auch Papa uns bedeutet, schnell aufzustehen und Quentine zu folgen, wird mir klar, dass es irgendwas Ernstes sein muss.
Ich will fragen, warum wir nicht einfach zum Park hinauslaufen, sondern zu der Hauswand, doch ich halte die Klappe. Denn ich weiß sehr wohl, wann man schweigen sollte!
Die Hauswand ist, wie sich herausstellt, nicht unser Ziel gewesen, sondern der Gullydeckel dort. Bei dem Gedanken daran, dass sich darunter das Abwasser befindet, wird mir schlecht.
»Versucht euer Gesicht von anderen Besuchern wegzudrehen. Man darf nicht erkennen, wer wir sind«, erklärt uns Quentine, als sie den Deckel anhebt.
Zuerst scheucht sie Kerstin und mich in das Abwasser, danach folgen Papa und sie. Dann umschließt uns mattes Dämmerlicht, denn der Kanaldeckel lässt nicht viel Licht durch. Immerhin schützt er uns so vor den verwirrten Blicken einiger Besucher des Parks. Wahrscheinlich gehört es hier nicht zur Normalität, den gleichen Weg wie Scheiße durch die Stadt zu nehmen. Beruhigend.
Quentine beginnt uns durch die Gänge zu führen und ich wünschte ich hätte eine Wäscheklammer dabei. Für meine Nase.
»Es tut mir wahnsinnig leid«, setzt Quentine jetzt endlich zu einer Erklärung an. »Das war alles nicht geplant! Irgendwie muss unser Treffen zur Polizei durchgesickert sein. Aber ich verstehe einfach nicht, wie! Natürlich werden die Polizisten nicht direkt etwas von unserem Vorhaben gewusst haben, aber sie wussten, dass um diese Zeit etwas illegales im Park stattfinden soll. Sonst hätten sie nicht die beiden Ausgänge versperrt. Zum Glück beobachtet mein Sohn jedes Mal die Umgebung, sonst wären wir womöglich aufgeflogen ...«
Die Härchen auf meinen Armen stellen sich auf. Ihnen gefällt die Bedeutung von Quentines Worten wahrscheinlich genauso wenig wie mir.
»Heißt das, dass irgendwer uns verraten hat?«, frage ich.
»Nein. Nicht unbedingt. Aber vielleicht haben sie irgendein Gespräch abgehört. Ich kann es mir nicht anders erklären!«
Dann fällt mir etwas anderes ein. »Können die dich nicht hier unten einfach orten?«, frage ich.
Quentine biegt ab und bedeutet uns, ihr zu folgen, bevor sie antwortet.
»Die Ortungsfunktion ist aus Energiespaargründen nur an den wichtigen Orten von Penthesilea eingestellt. Damit niemand sich in Zentralen einfach so schleichen kann. Ob wir hier unten sind, stört da oben eigentlich niemanden.«
»Abgesehen davon«, wirft Papa ein, »müssen die Polizisten nicht einmal wissen, dass du, Quentine, in diese Sache verstrickt bist. Vielleicht haben sie nur die Randinformationen mitbekommen.«
»Oder die Polizisten sind wegen etwas ganz anderem da«, gibt Kerstin zu bedenken.
»So oder so. Ihr könnt die Stadt vorerst nicht verlassen, das wäre zu riskant. Wir müssen erstmal sicher gehen, dass die Polizei nur diesen Spielplatz im Visier hat und nicht noch mehr Straßenkontrollen in Randgebieten macht. Wenn sie euch abfangen, könnte das gefährlich für euch sein. Für euer ganzes Dorf.« Quentines Worte beschleunigen meinen Herzschlag. Wir würden länger in der Stadt bleiben? Zwischen diesen Häuser-Riesen? Mit diesen stinkenden Autos? Und den leckeren Gerüchen nach Essen, welches ich nie essen dürfte?
Kerstin neben mir greift nach meiner Hand und drückt sie. Ich blicke zu ihr und sie grinst mich an. »Abenteuer«, formen ihre Lippen. Ich kann nicht anders, als die Augen zu verdrehen.
»Verdammt!«, flucht Papa. »Ich hätte euch beide nicht mitnehmen dürfen. Ich bin schuld daran, dass ihr in Gefahr seid.«
Er rauft sich die Haare und bleibt dann stehen, was Kerstin und mir keine andere Wahl lässt, als auch anzuhalten. »Wenn wir wieder in Sicherheit sind im Dorf soll euch das eine Lehre sein! Man gerät nicht auf die negative Seite von Penthesilea, wir geraten auf gar keine Seiten! Wir existieren nicht und das soll verdammt nochmal so bleiben. Es bleibt uns nur zu hoffen, dass deine kleine Extrashow, Lavita, nicht im Internet kursieren wird. Mit jedem Tag hier wird das gefährlicher!«
Dann wird sein Blick sanfter. »Ich kann mir nicht vorstellen, was für eine Schuld auf mir lasten würde, wenn euch irgendwas passiert.«
Ich lege meine Arme um Papa. »Uns wird nichts passieren«, flüstere ich. Kerstin schließt sich der Umarmung an.
»Wir kommen nach dem Abenteuer in ganzen Stücken nach Hause.«
Das ist doch mal ein Machtwort. Wir lösen uns wieder voneinander und machen wir uns weiter auf den Weg durch die stinkenden Abwasserkanäle. Ich kann mir den Spruch nicht verkneifen.
»Tja, wir sind immer hin am richtigen Ort. Unser Tag endet wortwörtlich in großer Scheiße.«
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