Kapitel 4

꧁ Kapitel 4꧂



Ich summe gerade eine Melodie, die mir durch den Kopf geht, als die Tür geöffnet wird. Vor Schreck hätte ich meinen Finger beinahe zu Essen verarbeitet. Natürlich nur für Aasfresser. Mit anderen Worten: Ich hätte mir fast in den Finger geschnitten. Wir, Zoey und ich, machen nämlich jetzt Essen, während Mama und Quentine draußen Einkäufe erledigen. Zoey hat sich gerade auf die Toilette verpisst - hoffentlich dort nicht - und ich bin richtig in meinem Element, dem Schnippeln der Sellerie, gewesen.

Nur jetzt werde ich aus diesem Element gerissen, weil jemand die Tür geöffnet hat. Ein Jemand, den ich nicht kenne. Ein... äußerst gutaussehender Jemand. Ein Jemand, der aus irgendeinem Grund in Slow-Motion den Raum betritt und...

Nope, eigentlich läuft der Typ ganz normal... Aber... Aus irgendeinem Grund muss ich schlucken.

Um nicht weiter in den Bann gezogen zu werden, halte ich mich mit der einen Hand an dem Gemüsemesser fest und mit der anderen zerquetsche ich die Sellerie. Der Typ scheint die Augen direkt auf mich gerichtet zu haben und die Musik beginnt im Hintergrund zu spielen und...

Nope, eigentlich schaut er mich verwundert an, weil ich die Einzige im Raum bin, und die Musik, die ich höre, ist die, die ich summe... Ganz schnell höre ich damit auf und laufe ziemlich rot an.

Und so gut sieht er eigentlich gar nicht aus. Er ist nicht das perfekte Model, was einem in Kaufhäusern entgegen blickt mit dem Blick von „Die Kleidung steht mir am besten, du brauchst sie gar nicht kaufen, weil sie bei dir sowieso nur schlechter aussieht", sondern eher wie... So ein normaler Typ eben. Bei ihm würde wahrscheinlich drunter stehen als Werbung: „Keine Sorge, bei Ihnen sieht die Kleidung besser aus!" Mein Griff entspannt sich und die zermatschte Sellerie atmet erleichtert auf. Zumindest bilde ich mir ein, das zu hören.

»Was machst du denn hier?« Damit ist die magische Stimmung zerstört.

Magische Stimmung? Wovon rede ich? Da ist ein stinknormaler Typ durch die Tür gelaufen. Und ich beginne schon von Magie zu reden. Der Gesundheitsstandmesser hat mir eindeutig nicht gutgetan.

»Was?« Das ist meine intelligente Antwort darauf. Er zieht sich die Schuhe aus und stellt sich vor den Küchentresen, wobei mir auffällt, dass er blonde, strubbelige Haare hat. Sehen blonde Haare immer so gut aus? Bei Emil auf jeden Fall nicht. Außerdem kann ich, als er sich auf den Tresen stützt, seinen sich andeutenden Bizeps ausmachen, was bei mir auf jeden Fall die Vernunft ausstellt, denn ich schaue ein bisschen zu lange da hin.

»Was machst du hier?«

Ich reiße mich aus meinen umwerfenden Studien über „normale" Bizeps - keine Film-Model-Bizeps und antworte: »Ich bin vom Geheimdienst und gekommen, um einen geheimen USB-Stick zu stehlen und Männern zu drohen, dass ich sie zu Brei, den ich mir gerne in der Bratpfanne röste, schlage oder in meinem Fall«, ich deute auf das Messer, »auf eine andere Art und Weise massakriere, wenn sie sich auf irgendwie doof benehmen«, erwidere ich und setze eine ausdruckslose Miene auf.

»Und was hat das Gemüseschneiden mit USB-Sticks zu tun?«, fragt er.

»Das ist Tarnung.«

»Und die zerdrückte Sellerie? Gibt es da noch irgendeinen Trick hinter? Ist das so ein Code, dass alle Mitglieder eine Sellerie zerquetschen müssen?«

»Hm klar. Mit dieser Sellerie kann man wunderbar Typen abwerfen, damit ihnen die Sicht verdeckt ist.«

»Aber wenn du allen direkt erzählst, dass du vom Geheimdienst bist, warum dann die Tarnung?«

»Egal. So oder so - her mit allen Geheimnissen, oder ich lasse die Bomben, die ich schon verteilt habe, hochgehen.«

»Frau von und zu Geheimagentin, du musst dich in der Tür geirrt haben, ich habe keine Geheimnisse, die jemand anderem etwas bringen könnten«, erwidert er mit erhobenen Händen, aber in seinem Gesicht kann ich ein unterdrücktes Grinsen erkennen.

»Auch keine kleinen schmutzigen Geheimnisse, von denen ich wissen sollte?«, frage ich und zu meiner eigenen Überraschung habe ich einen flirtenden Unterton in der Stimme. Dabei bin ich eine absolute Niete im Flirten.

»Dafür müsstest du mir mit mehr drohen, als damit, Bomben hochgehen zu lassen.«

»Ach so? Mit was denn? Dein schmutziges Geheimnis zu werden?« Kaum hatte ich das gesagt, gebe ich mir innerlich eine Ohrfeige. Was für eine billige Anmache - aber was kann man sich als Dorfkind auch anderes leisten? Eindeutig der Gesundheitsstandmesser.

Ich kann ein Blitzen in seinen Augen erkennen, was mir einen Schauer über den Rücken jagt. Er beugt sich ein bisschen nach vorne und sagt dann: »Das muss ich mir erst einmal durch den Kopf gehen lassen, ob ich dich gegen mein anderes schmutziges Geheimnis tausche.«

Autsch. Anscheinend hat er eine Freundin. Bevor mir Bilder davon, dass in seinem Gehirn gerade seine Freundin umherwandert, mir wiederum im Kopf erscheint, entscheide ich, dass mir das gleichgültig ist.

»Lavita«, sagte ich also und strecke ihm meine saubere Hand hin. Die Überreste der zermatschten Sellerie liegen - zusammen mit dem Messer - jetzt auf dem Tisch und der Rest klebt an meiner Hose.

»Lewis, dann bist du die Tochter von Sonja und David?«, fragt er und schüttelt meine Hand. Kurz, aber lang genug, dass mir sein kräftiger Handdruck auffällt und mir bei der Berührung ein kleines Kribbeln durch den Arm fährt, mit Gebimmel an meinem Herzen stehen bleibt und die Wärme auslädt. Bei dem Wort „Gebimmel" muss ich grinsen.

»Di-«, ich kann mich noch davor bewahren, einen schlechten Reim rauszuhauen: Die Bahn fährt mit Gebimmel und fährt dem Schaffner über den Pi.... Fuß. Aus irgendeinem Grund finde ich das ziemlich komisch, weshalb ich mein Lachen nicht unterdrücken kann.

»Was ist?«, fragt er.

»Ähm egal, schön, dich kennen zu lernen«, erwidere ich und runzele die Stirn.

Er schaut mich verwirrt an, mit einem leichten Lächeln um die Lippen, dann geht er an mir vorbei und verschwindet in dem Zimmer, was neben der Toilette ist. Dort bleibt mein Blick hängen, bis sich die Tür zu der Toilette öffnet.

Zoey hat ein fettes Grinsen auf dem Gesicht und lässt sich neben mich an die Theke auf einen Hocker fallen.

»Was ist so lustig?«, frage ich sie.

»Später«, erwidert sie kopfschüttelnd und schnippelt mit mir weiter.

Wie ich von Zoey herausbekommen habe, ist Lewis Zoeys Bruder. Dieser ist übrigens der Grund dafür, dass ich mir durchgängig eine nicht beladene Gabel in den Mund schiebe. Was meinem Magen übrigens gar nicht gefällt. Aufgrund der überaus sportlichen Aktivität grummelt der nämlich protestierend herum. Aber mein Blick huscht die ganze Zeit, natürlich sehr unauffällig, sodass auf gar keinen Fall jemand das mitbekommt, zu Lewis, der übrigens dunkelblaue Augen hat.

Wahrscheinlich habe ich zu auffällig unauffällig getan, denn meine Mutter zischt mir ins Ohr: »Lavita, schaue den Leuten in die Augen, wenn du mit ihnen redest!«

Mit „Leuten" ist dann wohl Lewis gemeint, denn in die Augen von Zoey schaue ich. Also schaue ich Lewis in die Augen, während er in die Diskussion über Essen einwirft: »Aber muss man nicht Zucchinis von so Bäumen ernten?«

Dann blickt er zu mir. Warum ich drei Sekunden brauche, um zu erkennen, dass wir uns erstens gerade anstarrten und zweitens Zucchini nicht an Bäumen hängen, weiß ich nicht ganz.

»Zucchini? An Bäumen? In welcher Welt lebst du denn?«, frage ich spöttisch, während die Diskussion zu meiner Rechten sich weiter um die Inhalte von Fast Food dreht.

»Anscheinend in einer anderen als du«, erwidert er grinsend.

»Aber man weiß doch, dass Zucchini wie Kürbisse in so kleinen Sträuchern wachsen!«

»Ich nicht. Eigentlich weiß das fast niemand, außer Freaks und Bauern. Ich zähle euch mal zu Freaks«, sagte er.

»Hey! Wir sind keine Freaks«, rief ich und funkelte ihn böse an. »Wir leben bloß nicht einfach inmitten dieser Welt.«

»Lavita!«, zischte mir meine Mutter zu. »Nicht so laut darüber reden. Wir wissen nicht, welche Geräte zuhören.«

»Keine Sorge«, mischte sich Quentine ein, »dieses Wohnzimmer ist überwachungsfrei, dafür haben wir gesorgt.«

Das war Lewis' und meine sehr interessante Unterhaltung. Danach habe ich leider keinen Grund mehr, ihm in die Augen zu schauen, auch wenn ich die ganze Zeit nach Gesprächsthemen suche. „Was machst du so in deiner Freizeit?" Langweilig. Dann würde so etwas wie „Verbringe Zeit mit meinem schmutzigen Geheimnis" kommen. Oder „Hast du irgendwelche Leidenschaften?" Ganz schlecht. Die perfekte Vorlage für „schmutzige Geheimnisse". Alle meiner genialen großartigen göttlichen Gedankengänge führen zu schmutzigen Geheimnissen. Trauriges Leben.

Mein Blick wandert wie von alleine zu ihm und ich bin fast enttäuscht, dass er mich nicht anschaut. Trotzdem habe ich so ein warmes Gefühl, während mein Magen böse grummelt, denn meine Gabeln sind weiterhin unbeladen.

Lewis' Augen haben ein tiefes Blau. Ein Ozean-Blau. Wenn ich eine Insel wäre, würde ich auf jeden Fall in seinem Ozean sein. Bei der Vorstellung, dass ich in sein Auge passe, muss ich grinsen. Man sollte definitiv nicht meine Gedankengänge mithören können, sonst würde ich womöglich in der Klapse landen. Dort würde ich dann ein VIP in der Psychiatrie sein.

Aufgrund meines kurzen Schnaubens bleibt sein Blick bei mir hängen.

Mein Unterleib ist in Flammen und brennt, während wir uns einen Starrkampf liefern. Will er etwa die lebendigste Insel abbrennen? Aber wenn ich dann immerhin die heißeste wäre, hätte ich nichts dagegen. Vielleicht würde ich auch gegen seine schmutzigen Geheimnisse ankommen, denn ich wäre dann sicher noch schmutziger, voller Asche übersät. Kleine Wellen spülen an mich - die Insel. Es ist das Gefühl, das ich auch gespürt habe, als sich in einem Buch meiner Mutter Hannah und Park zum ersten Mal geküsst haben. Aus irgendeinem Grund wandert mir jetzt der Gedanke von Lewis und mir küssend durch den Kopf. Während also das Gefühl seinen Spaziergang durch meinen Kopf macht und dabei alle lebenden Gehirnzellen in Brand setzt, wird das Gefühl unten immer intensiver, je länger wir uns anstarren.

Ein Tritt gegen das Schienbein von Zoey rettet meinen Unterleib vom Verbrennen und das Bild von Lewis und mir küssend verpufft augenblicklich aus meinen Gedanken.

»Schmeckt dir das Essen, Lavita?«, fragt Quentine jetzt zum zweiten Mal. Ich räuspere mich kurz und sage: »Ja, echt gut.«

»Aber warum hast du denn dann so wenig gegessen? Geht es dir nicht gut?«, fragt meine Mutter besorgt.

»Nein nein, es sind so viele Eindrücke, dass ich davon gerade ein bisschen umgeworfen bin, aber mir geht's gut!«, sage ich schnell.

»Ich glaube, ich weiß da einen besseren Grund«, höre ich Lewis leise murmeln, aber als Quentine ihn fragend anschaut, schüttelt er nur den Kopf, während Zoey ihn genervt anschaut.

»Könnten Lavita und ich draußen weiter essen? So die Abendruhe genießen?«, fragt diese und wartet keine Antwort ab. Ich kann mir nur noch schnell meinen Teller samt Besteck nehmen, dann zieht sie mich schon mit sich auf den Balkon.

»Das klingt nach einer guten Idee, ich komme mal mit«, höre ich Lewis von hinter uns reden und aus dem Augenwinkel kann ich erkennen, dass Zoey die Augen verdreht.

»Dieser Idiot«, murmelt sie leise.

Die kühle Luft von draußen ist angenehm und auch wenn es immer noch sehr warm ist, kann ich doch besser atmen als da drinnen. Man kann zwar nur das Hochhaus sehen, das gegenüber liegt, aber über dem Hochhaus kann man einen wunderschönen Sternenhimmel erahnen.

Anstatt sich einfach auf die Stühle zu setzen, um die Stille zu genießen, nimmt Zoey mir meinen Teller aus der Hand und klettert mit ihm eine Leiter neben der Tür nach oben. Jetzt kann ich sehen, dass auch Lewis den Balkon betreten hat und ich löse mich aus meinem Starren in den Himmel, weshalb mein Blick direkt bei Lewis landet. Ein schöner Landeplatz. Naja... Vielleicht.

Ich stelle fest, dass Lewis irgendetwas gesagt hat, ich ihn aber nicht verstanden habe.

»Hm?«

»Schön, oder?«, fragt er noch einmal. Die Hauswand? Dann fällt mir ein, dass er wahrscheinlich meinen Blick zu den Sternen gesehen hat.

»Hm. Wirklich schön. Wenn man nicht in der Stadt ist, ist der Blick noch besser.«

»Wie ist es? Außerhalb? Ich weiß zwar nicht genau, warum ihr unsere Hilfe und so weiter braucht, aber ihr wohnt nicht in der Stadt?«, fragt Lewis.

»Ja. Es ist unberührt und... irgendwie freier. Ich fühle mich hier fast ein bisschen eingeengt. Auch wenn dieser Blick wirklich schön ist.«

Ich wende mich ab und steige langsam die Leiter nach oben, während ich Lewis Blick hinter mir spüre. Hätte ich ihn besser vorsteigen lassen, jetzt hat er einen perfekten Blick auf mein Hinterteil. Hoffentlich ist er genauso aufs Klettern fokussiert, sodass er nicht nach oben schauen kann.

Die Leiter kommt mir extrem lang vor und ich habe den Blick steif auf die Stufen gerichtet. Bloß nicht nach unten schauen, nicht zur Seite schauen, einfach nur zu den Sprossen. Sonst werden mir noch Bilder von Unfällen aus dem Unterbewusstsein gesprossen sein und das stufe ich als nicht lustig ein.

»Und? Genießt du die Aussicht?«, höre ich Zoey fragen. Ich richte meinen Blick ein bisschen nach oben und stelle fest, dass ich fast oben angelangt bin. Ich reiche ihr mein Besteck und umklammere die Stange ganz fest.

Hinter mir antwortet Lewis: »Ja, sehr!«

Oh Gott, das hat er gerade nicht wirklich gesagt.

»Das war nicht an dich gerichtet, du Sexist!«, ruft Zoey genervt von oben.

Ich klettere schnell die letzten Sprossen und halte mich am Geländer der Dachterrasse fest. Gut, dass ich nicht zur Seite geschaut habe, die Aussicht, die sich uns bietet, ist atemberaubend.

»Wow«, bringe ich raus. Eine Mischung aus Bewunderung und Staunen, aber auch Schwindel erfasst mich. Vor mir sehe ich die Stadt, die Hochhäuser, ihre vereinzelten Lichter, aber vor allen Dingen den großen Sternenhimmel, den man von hier noch besser erkennen kann.

»Warum sind denn kaum Straßenlaternen an?«, frage ich verwundert.

»Wegen der Lichtverschmutzung und dem Sparen von Strom, das ist doch bei euch auch so«, erklärt Zoey und dann stutzt diese. »Ach nein. Ihr kommt ja irgendwie von wo anders her.«

»Ich hatte irgendwie immer andere Bilder im Kopf von der Stadt«, sagte ich. Im gleichen Moment erfasst mich ein leichter Windstoß, weshalb ich mich noch krampfhafter am Geländer festhalte.

Vor mir scheint alles zu schwanken, selbst das Geländer kommt mir unsicher vor. Was, wenn es wegbricht? Den Sturz würde man sicher nicht überleben. Bei dem Gedanken, wie hoch das Haus ist, überkommt mich ein kalter Schauer und ich schwanke leicht.

»Hast du Höhenangst?«, höre ich Lewis fragen, der jetzt auch auf der Dachterrasse ist.

»Hm«, bringe ich raus und weiche dann zurück an den Schornstein, gegen den ich mich sinken lasse. Von dort lasse ich meinen Blick noch einmal in den mit Sternen überzogenen Himmel schweifen.

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