Kapitel 13

Mit fahrig zitternden Händen reiche ich Zoey den Stoff, den diese geschickt um die Handgelenke des kleinen Jungen wickelt. Er ist immer noch bewusstlos. Die Elektroschocker haben nicht nur seinen Vater dazu gebracht, sein Leben zu opfern, sondern zudem durch die Elektrizität bewirkt, dass seine Knochen an den Handgelenken gebrochen sind. Hendrik, so heißt der Junge, hat dennoch Glück im Unglück gehabt, denn immerhin hat er sich durch den Schock nicht die Zunge abgebissen.

Ich schaue auf die geschlossenen Augen und die tiefen Augenringe. Wie ist Hendrik dazu gekommen, mit acht Jahren sich den Rebellen anzuschließen? Welche Beweggründe hat er? Was treibt ihn in einem Alter, in dem man noch die schöne Ahnungslosigkeit der Jugend erleben sollte?

Plötzlich öffnet sich die Tür und Jess kommt in den Raum gestürmt. Die umliegenden leisen Gespräche verstummen. Ich kann erkennen, dass Keno einen Schritt auf ihn zu macht, aber Jess bemerkt das nicht. Zuerst fällt Jess Blick auf die anderen beiden ehemaligen Gefangenen. »Billy, Oliver, ihr seid okay!«, stößt er erleichtert aus. In seinen Augen kann ich nicht das Verspielte, Humorvolle erkennen, was noch vor wenigen Stunden darin gefunkelt hatte. Jetzt sind sie von Sorge und Trauer erfüllt. Dann bemerkt er den Jungen, den wir auf einer Couch platziert haben und er beginnt an zu schluchzen. »Hendrik.«

Jess kniet sich neben ihn und umarmt den Schlafenden. »Wie werden wir ohne Vater leben?«, flüstert er ihm ins Ohr. Ich wende mich sanft ab und atme tief durch. Auch die Zoey schlingt die Arme bedrückt um den Oberkörper. Wahrscheinlich hatte niemand damit gerechnet, dass es so weit kommen würde. Hendriks Vater würde nie wissen, dass er umsonst gestorben ist und dass sein Sohn nicht in Gefangenschaft des Regimes gelandet ist. Wie? Wie kann man so etwas nur tun? Meine Wut auf das Regime wächst immer mehr. Und dabei ist das Schicksal von Jess und Hendrick nur eines von vielen. Was auch immer ich tun kann, um so etwas zu verhindern, ich werde es tun. Und ich werde nicht nur tatenlos in meinem Dorf bleiben. Lewis, Zoey und Quentine, wie lange sie uns schon helfen, denke ich mir, und wir hocken eigentlich nur zurückgezogen, feige, in Sicherheit in unserem Dorf. Mir wird klar, dass wir noch nie irgendetwas für sie gemacht haben. Wir sollten ihnen allen helfen. Wie auch immer wir das können.

Mein Blick wandert zu meinem Vater, der neben Quentine steht. Sie sind nicht die einzigen Älteren hier. Denn die Rebellion erstreckt sich von Jung bis Alt. Quentine hat Tränen in den Augen. Auch ihre Schultern zucken leicht. Mich würde es nicht wundern, wenn einige der Kinder hier auch für sie wie ihre eigenen Kinder sind. Wenn sie sich verbunden fühlt, wie man sich in einer großen Familie verbunden fühlt. Mein Vater legt ihr tröstend einen Arm um die Schulter und Quentine legt ihren Kopf an ihn, die Tränen laufen jetzt ungehindert. Was sie alles hat erleben müssen. Mein Herz wird schwer.

Später sitzen Zoey, Kerstin und ich in einem der engen Räume. Das anscheinend neue Versteck ist leider die Abwasserkanalisation, weshalb der Geruch ein äußerst unangenehmer ist, gleichzeitig bieten aber einige alte Gewölbe Schutz vor dem Regime. Andere Rebellen haben sich ein wenig weiter von uns entfernt auf einen Tisch gesetzt, darunter auch Lewis und Ben. Diese scheinen gerade über irgendetwas zu streiten. Leider reden sie so leise, dass ich kein Wort verstehe.

»Wie erkennt ihr euch eigentlich?«, fragt Kerstin an Zoey gewandt.

»Hier«, sagt Zoey und hebt ihre linke Hand hoch. Dann bewegt sie ihre Finger so, dass die Innenseite ihres kleinen Fingers frei ist. Ein kleines Symbol ist dort mit schwarzer Farbe abgebildet. Eine Taube in einem Kreis, die sich aus Flammen erhebt.

»Jeder von uns hat dieses Zeichen dort hin tätowiert. So erkennen wir einander. Gleichzeitig müssen wir aufpassen, dass niemand Unbeteiligtes von der Position dieses Zeichens weiß, denn sonst könnte man uns sehr leicht daran identifizieren.«

Fasziniert schaue ich das Zeichen an. Es ist eine Entscheidung. Für immer - wie das Tattoo. Man schließt sich nicht einfach zum Spaß hier an, wird mir klar. Man macht es zu seinem Leben, zu seinem Ziel. Das Feuer - das Regime. Die Zerstörung, die Einengung. Die Unfreiheit. Die Taube - der Frieden. Die Flügel, die sie Richtung Himmel tragen. Diese Feinheit, mit der das Zeichen gemacht wurde, beeindruckt mich.

»Wann bekommt man das Tattoo? Und wie?«, frage ich.

»Das ist immer verschieden und wird von Ben festgelegt. Alternativ zu dem Tattoo tragen einige, die von Ben noch nicht die Erlaubnis bekommen haben, auch kleine unauffällige Schmuckstücke mit dem Symbol. Siehst du Saph dahinten?« Sie deutet auf ein Mädchen mit pink gefärbten Haaren. »Sie macht die Tattoos in ihrem Laden. Wenn wir irgendwann mal Zeit haben und ich mit Ben geredet habe, werdet ihr sicher auch noch eines bekommen.«

Mit einem Mal setzt sich das Mädchen, welches Saph heißt, neben uns.

»Ihr redet über mich? Aber hoffentlich nur Gutes.«

»Also bis jetzt«, beginnt Kerstin und lächelt, »hat Zoey ausschließlich von dir geschwärmt. Ich bin Kerstin.« Sie streckt Saph die Hand hin. Diese ergreift sie freudig und reicht dann auch mir die Hand.

»Kommt, ihr Dorfis, wir sammeln uns drüben.«

Dorfis? Was soll das denn heißen? Werden wir so hinter vorgehaltener Hand genannt? Die Dummen aus dem Dorf? Nein, das hat Saph sicher nicht so gemeint, sondern eher als Spaß gesagt. Aber irgendwo her muss die Bezeichnung kommen, weshalb ich daraus schließe, dass es wahrscheinlich auch einige gibt, die dagegen sind, uns einzuweihen.

Im größeren Nebengewölbe - in dem es glücklicherweise nicht mehr so stinkt - sind alle um eine kleine Feuerstelle gesammelt. Der Abzug dafür ist direkt in der Mitte des Raumes. Fragend schaue ich Zoey an und sie erklärt mir, dass dieses Gewölbe direkt unter dem Haus einer des Widerstandes ist und somit der Abzug hier mit dem Abzug des Kamins dort verbunden ist.Wir setzen uns ebenfalls auf eine Matte, die auf dem kalten Steinboden des Gewölbes ausgebreitet wurde.

»Rebellinnen und Rebellen, Kämpferinnen und Kämpfer, Schwestern und Brüder«, beginnt Ben zu sprechen.

»Es tut mir vom Herzen leid, welches tragisches Ende dieser Abend genommen hat. Mein tiefstes Mitgefühl. Es ist schwer, wahrzuhaben, dass wir das nicht verhindern konnten. Aber leider kann man das Zukünftige weder sehen, noch ins Detail planen. Man kann nur das Hier und Jetzt gestalten und damit dem Glück der Zukunft eine höhere Wahrscheinlichkeit geben und genau das machen wir. Damit kommen natürlich auch Veränderungen hinzu.« Er deutet auf Kerstin und mich.

»Begrüßen wir die Neulinge Kerstin und Lavita. Hoffen wir, dass sie nicht Teil des Regimes sind. Doch weil sie außerhalb des Regimes aufgewachsen sind, ist die Wahrscheinlichkeit nicht so groß. Ich bin mir sicher, dass sie auch ihren Teil zur besseren Welt beitragen werden.« Er schaut mir direkt in die Augen. »Vielleicht sogar einen großen. Alles andere werden wir zu einem späteren Zeitpunkt besprechen.«

Eine feine Gänsehaut hat sich über meine Arme gezogen bei seinen Worten. Warum hat er mich so direkt angeschaut? Was meint er? Hat er sich schon etwas überlegt?

Ich lasse mein Blick über die anderen schweifen. Und tatsächlich finde ich einige Gesichter, die uns abwertende Blicke zuwerfen. Unsichere Blicke. Vielleicht sogar kritische Blicke. Wenn Ben mit seiner kurzen Ansprache Zweifel anderer ausräumen wollte, so ist ihm das nicht gelungen.

Ein Junge mit dunklem Teint beginnt leise eine Melodie auf einer Gitarre zu spielen, als Ben geendet hat. Währenddessen reichen die anderen Brot herum. »Ihr könnt euch einfach was nehmen«, flüstert Zoey uns zu. Ich nicke, nehme mir was und schließe die Augen.

Die Klänge der Gitarre sind melancholisch und wunderschön. Dann beginnt jemand zu singen. Ich öffne kurz die Augen und erkenne ein braungelocktes Mädchen. Allein in ihren Augen sehe ich die Leidenschaft, mit die sie den Text singt. Ich lehne mich an die kühle Mauer hinter mir und schließe wieder die Augen. Höre nur zu.

We are hurt and scared,
we've got scars and beared
Already to much
safety and freedom as such

No one listens
In the world we live in
But we get strong in its shadow
But we want it all to be home

Rise, rise
We'll never be silent
Rise, rise
You can't ignore the voices here
Screaming loud, wanting to be heard

We are the tears
People cried in fear
Growing to an unstoppable wave
Breaking out of this cage

We're spreading our wings to fly
You can't hold us here to die
We rise like a dove
fighting for better, fighting for love

Rise, rise
We'll never be silent
Rise, rise
You can't ignore the voices here
Screaming loud, wanting to be heard

Rise, rise
We'll never be silent
Rise, rise
You can't stop these beautiful flowers
That grow over ruins and gain power

Will someone listen?
Hear our ambition
Cause you're not in the position
To tell us how to live

You don't have our permission
Without participation
We're peoples opposition
Your violence we won't forgive

Rise, rise
We'll never be silent
Rise, rise
You can't ignore the voices here
Screaming loud, wanting to be heard

Rise, rise
We'll never be silent
Rise, rise
You can't stop these beautiful flowers
That grow over ruins and gain power

Ich bin in Gedanken versunken und lasse das Lied auf mich wirken, als eine Stimme hinter mir mich anspricht. »Lavita.« Ich drehe mich zu Ben um, der mich zu ihm winkt. Zoey zuckt auf meinen fragenden Blick nur die Schultern. Also folge ich ihm.

»Du musst besonders aufpassen«, sagt Ben, als wir uns im Nebenraum wiederfinden. Ich ziehe fragend die Augenbrauen hoch.

»Das Video mit dem Autofahrer ist nur das eine«, fährt er fort. »Das Video genügt, dass es hier auch schon welche gibt, die dir misstrauen und die es gefährlich finden, dass eine Verbindung zwischen uns besteht. Ich selbst bin auch noch nicht ganz sicher, wie ich dazu stehe.

Zu deinem Glück weiß das Regime noch nicht, wer das Mädchen auf dem Video ist und kann es auch nicht identifizieren, weil die Qualität miserabel ist, aber wenn du unvorsichtig bist und noch einmal irgendwo erkannt wirst, kann es sein, dass du schneller von der Bildfläche gezogen wirst, als du Gesundheitsstandmesser sagen kannst. Und das führt mich direkt zu meinem zweiten Punkt.«

Er schaut mich eindringlich an. »Warum warst du im geheimen Datenspeicher des Regimes?«

Ich schaue ihn immer noch fragend an. Was meint er?

»Und wie wusstest du, wo es sich befindet? Das weiß sogar nur ein kleiner Teil von uns. Warum also du?«

»Ich war in keinem Datenspeicher«, antworte ich. Was sollte ich mit Computer-Daten? Menschen zu daten wäre doch viel ansprechender ...

Menschen ... Mich durchzuckt ein Blitz. Fico. Der Raum - Aamina. Der Wachmann. War das der geheime Datenspeicher?

»Was genau meinst du?«, frage ich nochmal nach. »Welche Art von Daten?«

»Das ist mir unklar, andernfalls würde ich dich wohl kaum fragen.«

»Es war ein großer Lagerraum«, beginne ich. »Da waren aber nur Kisten drin-«

»Hast du denn einen Blick in die Kisten geworfen?«

»Nein.« Ich kaue überlegend auf der Unterlippe. »Ich wusste nicht, dass irgendwas davon relevant sein könnte. Außerdem hat mich dann ein Mitarbeiter gefunden-«

»Was? Du wurdest wirklich gesehen?« Kurz entgleitet ihm seine gleichgültige Fassung und ich kann erkennen, dass er nicht nur überrascht, sondern auch besorgt ist.

»Ja ... Fico - er wird übrigens Ficou und nicht Ficko ausgesprochen, lustig oder? - aber ich glaube, ich habe ihn überzeugt. Außerdem - irgendwie musst du ja auch Wind davon bekommen haben, dass ich da war. Es wird wohl kaum Luftmasse gewesen sein, die dir das gezwitschert hat.«

Aber wie ist Ben an die Information gelangt? Lewis. Vielleicht hat Lewis sich das zusammengereimt. »Hat Lewis ...?«

»Lewis ist der Grund, weshalb ihr überhaupt noch hier seid. Wäre er nicht so felsenfest davon überzeugt, dass ihr von Relevanz sein könntet, würdet ihr jetzt schon wieder bei euch Zuhause, salopp gesagt, Däumchen drehen«, sagt er statt einer richtigen Antwort auf meine Frage. Lewis hat sich also für uns eingesetzt? Eine leichte Welle aus Wärme überrollt mich und ich muss ein Lächeln unterdrücken.

»Wo genau hat sich der Raum befunden?«, fragt Ben weiter. »Warst du auch in anderen Räumen? Es gibt mehrere Teile.«

»Also erstens drehen wir bei uns alles um - vor allem Erde, aber wir drehen sicher keine Däumchen. Und zweitens ist mein Wille sowieso da, euch zu helfen, wie auch immer. Das ist auch der einzige Grund, weshalb ich dir deine Frage einfach so beantworte. Nein, ich bin dann nach draußen gegangen. Da war so eine große Eingangshalle.«

Ben zieht, sichtlich um die Fassung bemüht, die Luft durch die Nase ein. »Erstens, wenn wir auf diesem Niveau reden wollen, - ihr dreht fast nichts um, verglichen damit, dass wir Penthesilea auf den Kopf drehen wollen, zweitens freut mich dein Wille, aber Wille ist noch lange keine Tat. Und drittens ... Das ist alles, was du weißt? Warst du nicht neugierig? So wie ich dich einschätze, hast du keine Bedenken dabei, dich in andere Angelegenheiten einzumischen, die dich nichts angehen. Aber hast du dir wenigstens den Weg nach draußen gemerkt?«

Ich überlege kurz, ob ich ihm von meinem seltsamen Eintreten erzähle, lasse es dann aber. Wenn er es sich erlaubt, mein Dorf einfach so zu beleidigen, dann werde ich ihm jetzt ganz sicher nicht den Weg verraten. Wenn er kein Vertrauen in mich hat, habe ich kein Vertrauen in ihn. Außerdem weiß er wahrscheinlich sowieso, wie man dort reinkommt. »Ja, ich kann mich noch daran erinnern. Aber von außen kommt man nur mit einem Code rein.«

Er schaut mich genervt an und wartet. »Fallt dir selbst die Lücke in deiner Logik auf? Oder muss ich dich darauf ansprechen, dass du wohl kaum mit dem Code das Gebäude betreten haben kannst?«

Oh, das habe ich nicht mit in meine Überlegungen einbezogen. Wohl oder übel komme ich nicht an der Wahrheit vorbei.

»Es gibt da einen geheimen Weg ...«, beginne ich also.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top