Kapitel 10

»Kerstin, Zoey«, unterbreche ich die beiden und halte an.

»Was ist?«, fragt mich Zoey verwirrt. Dann folgt sie meinem Blick. Kerstin genauso.

»Warte mal, ist das etwa...«

»Kommt.« Ich gehe mit schnellen Schritten Angelina und einem uns unbekannten Typen hinterher. Angelina redet eindringlich und vertraulich auf den Typen ein. Leider kann ich nicht hören, was sie sagen, weil sie viel zu weit weg sind.

»Wer ist das?«, fragt Zoey verwirrt, erhebt aber keinen Widerspruch. Kerstin erklärt ihr, dass das eine aus unserem Dorf ist, von der eigentlich niemand weiß, dass sie manchmal in die Stadt geht. Was sie aber offensichtlich tut. Wir verlangsamen unseren Schritt und bleiben stehen, als auch die beiden vor uns stehen bleiben. Den Typen kenne ich definitiv nicht, als wir jetzt auch sein Seitenprofil sehen können. Aber er sieht gut aus in seinem schicken Anzug. Während wir eigentlich aus Neugierde den beiden hinterherlaufen, regt sich in mir die Schadenfreude.

Ein heimlicher Liebhaber in der Stadt - das dunkle Geheimnis, mit dem ich mir weitere fiese Kommentare vom Leibe halten könnte. In meinem Kopf höre ich ein fieses Imperator-Palpatine-Lachen und ich ziehe mein Handy heraus. Einen fragenden Blick von Kerstin ignoriere ich und mache stattdessen ein paar Fotos davon, wie nah die beiden aneinander stehen und dass Angelina ihn umarmt.

»Was...?«, fragt Kerstin, ihren verwirrten Blick auf Angelina gerichtet. Ich versuche deren Gesicht zu lesen. Sie sieht erleichtert aus und wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Worüber haben die wohl geredet? Vielleicht plant Angelina in die Stadt zu ziehen? Könnte sie damit das ganze Dorf gefährden? Oder geht es um was anderes?

Wir gehen ein bisschen weiter als auch die beiden weiter gehen, bleiben aber an der Kreuzung, die zu Quentines Wohnung führt, stehen. Im Moment sind wir noch in den Straßen unterwegs gewesen, in denen keine Überwachungskameras angebracht sind, aber die Straße, zu der sich die beiden bewegen, ist voll mit denen.

»Warum geht Angelina denn genau in das Rampenlicht?«, frage ich eher mich selbst als Zoey und Kerstin. Meine Frage beantwortet sich von selbst, als die Beiden in einem unscheinbaren Eingang verschwinden, anstatt die große Hauptstraße zu betreten. Wir folgen den beiden nicht weiter, sondern schlendern in die kühle Seitenstraße.

»Müssten die Überwachungskameras...«, fange ich an, aber Zoey unterbricht mich. Mit einem Blick bedeutet sie mir zu schweigen. Nicht hier.

»Ich müsste sowieso auf Toilette«, sage ich, als wir vor dem Haus ankommen. Zoey und Kerstin wollen noch ein wenig reden, weshalb ich einfach schon mal vorgehe, und die beiden später dazu stoßen.

Als das »Wer ist da?« durch die Lautsprechanlage tönt, macht mein Herz einen kleinen Sprung. Lewis. Ich sage: »Hey, äh, hier ist ne coole Socke« und das Surren der Anlage ertönt. Tatsächlich war das Codewort etwas anderes mit Socken, aber ich hatte es gerade bei dem Satz, den Lewis gesagt hat, vergessen.

Die ganzen Stufen nach oben versuche ich über alles Mögliche nachzudenken, aber nicht über Lewis. Was natürlich richtig gut klappt. Treppengeländer, Lewis, Stufen, Lewis, Klingelschilder, Lewis. Da fällt mir auf, dass ich ja vielleicht etwas zu ihm sagen muss und dann denke ich darüber nach, was ich denn sagen könnte – sonst denkt er noch, ich hätte pausenlos an ihn gedacht. Durchatmen Lavita, alles gut. Stelle dir einfach vor, es sei Zoey. Warum sollte er denn auch denken, dass ich pausenlos an ihn gedacht habe? Weil es ja nicht mal stimmt, ich habe fast pausenlos an ihn gedacht, das ist was anderes. Dann bin ich schon in dem Stockwerk angelangt und trete durch die offene Tür.

»Hallo«, rufe ich mehr oder weniger an niemanden Bestimmtes gerichtet und schließe die Tür hinter mir. Keine Reaktion, weshalb ich erstmal meine Schuhe ausziehe und dann ganz schnell aufs Klo verschwinde. In meinem Kopf ertönt Michael Jackson „Im Bad, im Bad, im really really Bad". Eben in der Badezimmer-Special-Edition.

Aus irgendeinem Grund habe ich, als ich mir die Hände danach wasche, das Bedürfnis, im Spiegel zu schauen, wie ich aussehe und meine Haare ein bisschen zu ordnen. Und das passiert ungefähr einmal im Jahr. Also, dass ich im Spiegel nachschaue, ob ich gut aussehe. Denn ich weiß ja eigentlich, dass ich gute Gene habe. Als ich zufrieden bin, trete ich endlich aus dem Bad und entdecke Lewis, der an der Kücheninsel an einem Laptop sitzt. Ich räuspere mich und er dreht sich um.

»Hi«, sagt er und ich schmelze wie Eis in der Sonne. Um mir aber nichts anmerken zu lassen, antworte ich ganz schnell: »Fisch.«

Als er mich ein bisschen verwirrt anschaut, ergänze ich: »Also. Haifisch. Hai.«

Er grinst und meint dann: »Die Begrüßung merke ich mir.«

»Gerne gerne, Fische sind schon toll, oder? Ach und wie nennen Haie das Meer? Haimat. Und was sagen zwei Fische, wenn sie sich im Wasser begegnen? ›Hi‹ und der andere: ›wo?‹ und...« Ich unterbreche mich. Durchatmen! Also lächele ich, als hätte ich nicht gerade irgendwas vor mich hingelabert.

»Was machst du gerade?«, frage ich stattdessen und deute mit dem Kopf auf den Laptop und komme anschließend ein bisschen näher, weil ich immer noch vor der Badtür stehe.

»Ach. Das ist nur für die Schule. Aber bin gerade fertig geworden. Was hat dich nach drinnen verschlagen? Wolltest du Zoey loswerden?«, fragt er und senkt dann seine Stimme und wackelt mit den Augenbrauen: »Oder wolltest du mich sehen?« Mir schießt Hitze in die Wangen, während ich gleichzeitig lachen muss.

»Bilde dir bloß nichts ein! Der einzige Grund, weshalb ich hier bin, ist aufgrund des Klos.«

»Hast du etwa einen Klos im Hals?«, fragt er. Ich schaue ihn mit hochgezogener Augenbraue an. »Ha ha. Was für ein Klosartiger Witz.«

Dann schaue ich mich fragend um. »Quentine und mein Vater...?«

»Die sind noch die Materialien kaufen, denen ich es zu verdanken habe, mit deiner Anwesenheit beehrt zu werden.«

Ich nicke.

»Ich wollte jetzt sowieso wieder auf die Dachterrasse, willst du mitkommen?«, fragt er, gleichzeitig als ich sage: »Du solltest eine Dankeshymne an Schrauben schreiben.«

»Sorry, was?«, fragt er und ich lache. »Nicht wichtig, aber zu Dachterrasse sage ich nicht nein.«

Nachdem mir Lewis ein paar Kissen nach oben gereicht hat, sitzen wir, oder besser gesagt liegen wir, nebeneinander in der warmen, aber nicht zu warmen Sonne. Die Helligkeit, die ich trotz der geschlossenen Augen wahrnehme, beruhigt mich und spendet gleichzeitig ein warmes Gefühl. Das warme Gefühl hat natürlich rein gar nichts damit zu tun, dass Lewis neben mir liegt.

»Hast du eigentlich bei euch auch einen Lieblingsplatz?«, fragt Lewis mich und unterbricht damit die angenehme Stille.

»Keine Ahnung«, antworte ich nach einer kurzen Weile Überlegen. »Ich mag die eine Bank unter dem Apfelbaum.«

»Stelle ich mir friedlich vor.«

»Ist es irgendwie und irgendwie auch nicht. Meine Oma mochte die Bank sehr. Es war ihre Lieblingsbank.« Ich lächele leicht bei dem Gedanken an sie.

»Was ist passiert?«, fragt Lewis.

»Das Leben.« Ich atme langsam ein und aus. »Sie ist gestorben, vor drei Jahren. Und deswegen mag ich die Bank besonders. Sie erinnert mich an sie. Genauso friedlich und genauso inspirierend.« Ich mache eine kleine Pause und fahre dann fort: »Wenn ich Ruhe brauche, setze ich mich oft dahin. Man kann von dort in den Wald sehen, die grünen Blätter, die Äste, die leichten Sonnenstrahlen. Und man kann die Vögel zwitschern hören.«

»Ich habe noch nie einen Vogel in echt zwitschern hören.« Lewis Stimme ist leise und irgendwie höre ich Trauer heraus. »Und ich habe auch nie meine Großmutter kennengelernt.«

»Ist sie gestorben?«, frage ich.

»Nein.«

Ich warte, ob Lewis fortfährt, aber als er nichts sagt, öffne ich meine Augen, blinzele gegen die Sonne und drehe mich zu ihm. »Was ist dann passiert?«

Er hat die Augen immer noch geschlossen und in Richtung Sonne gerichtet. Mit leiser Stimme sagt er: »Familien werden getrennt. Das ist so üblich, damit keine Familien aus Zusammenhalt Aufstände organisieren. Denn Familien halten zusammen. Also...«, seine Stimme ist jetzt ein Flüstern, »... hat man uns getrennt. Sobald Mama mich mit siebzehn Jahren bekommen hat, musste sie ausziehen, alles hinter sich lassen, was sie je besessen hat, weg aus ihrer Heimatstadt, weg von Großmutter. Ich habe sie nie kennengelernt, ich weiß nur ihren Namen. Und dabei war Mama noch so jung. Und... und mein Vater wollte nichts mit ihr zu tun haben. Verständlich.« Lewis' Stimme ist belegt. »Und er muss ja auch keine Sorge für das Kind tragen, weil sie nicht verheiratet waren. Sie hatten ja nicht einmal eine Beziehung. Nur waren sie zusammen auf einer Party...«

»Es tut mir leid«, sage ich und genau so meine ich es auch. Ich stelle es mir schrecklich vor, einfach so aus seinem Leben gerissen zu werden, weil man ein Kind bekommt. Und als Kind weder seinen Vater noch die Großmutter kennengelernt zu haben? Also rutsche ich ein bisschen näher an Lewis heran und lege einen Arm an seinen.

Nach einigen Minuten ruhiger Stille spüre ich, wie Lewis mit seiner Hand gegen meine stupst, als hätte er jetzt erst sich aus seinen Erinnerungen gelöst.

»Sorry, dass ich dich damit beladen habe«, sagt er leise lachend.

»Ich höre gerne zu«, sage ich.

»Ich habe noch niemanden von meiner Großmutter erzählt.«

»Du bist auch der Erste, der von dem Apfelbaum-Lieblingsplatz erfahren hat.«

Wieder hüllen wir uns in ein angenehmes Schweigen. Wie eine warme Decke. Bei manchen Menschen kann so ein Schweigen echt unangenehm sein, aber mit Lewis ist es das nicht. Ich finde es einfach beruhigend in seiner Nähe zu sein. Oh Mann. Warum denke ich jetzt schon wieder darüber nach, wie nah wir uns gerade sind?

»Danke«, sagt Lewis leise und seine Stimme klingt heiser. Aus irgendeinem mir nicht erklärbaren Grund bildet sich eine Gänsehaut auf meinen Armen.

»Ist dir etwa kalt?«, fragt Lewis erstaunt. Anscheinend hat der es gemerkt, immerhin berühren sich unsere Arme.

»Nein«, sage ich mit kratzender Stimme und räuspere mich dann. Die Trockenheit liegt sicher an der Wärme. Ich setze mich ein wenig auf und schaue Lewis an. Dabei mustere ich ihn genauer. Sein Gesicht mit dem spitzen Kinn und den schönen Wangenknochen und den vollen Lippen ist mir sowieso die ganze Woche, die wir uns nicht gesehen haben, nicht aus dem Kopf gegangen, aber jetzt fallen mir die kleinen Sommersprossen auf seiner Nase auf, die ihm fast etwas Kindliches geben. Der Kontrast zu seiner tiefen Stimme, die aber teilweise noch Anflüge der Pubertät zeigt, wird dadurch noch deutlicher. Er hat die Augen geschlossen. Aber durch den Schatten, den ich werfe, merkt er, dass ich sitze. Mein Herz schlägt laut gegen meine Rippen, als er die Augen öffnet. In dem tiefen Blau kann ich immer noch die kleinen hellen Sprenkel sehen. Wie sanfte Wellen eines blauen Ozeans. Er hält meinen Blick einfach nur stand, während ich ihn ausführlicher mustere. Wie bei allen in meinem Alter haben auch bei Lewis Pickel zugeschlagen, auch wenn er ziemlich verschont ist, im Vergleich zu Kerstin zum Beispiel. Ich finde Pickel aber nicht schlimm. Sie sind ein Teil von jeder Person, genauso wie Leberflecken oder Sommersprossen.

Mein Blick bleibt an seinen Lippen hängen. Er muss bemerken, dass meine Atmung unkontrolliert schnell geht, dabei ist er einfach nur da. Aber ein leichtes Lächeln umspielt seine Lippen. Mein Blick wandert zu einer kleinen Narbe auf seiner linken Wange. Ich habe plötzlich das dringende Bedürfnis meine Hand zu heben. Langsam fahre ich die Narbe nach. Man spürt sie kaum. Aber seine Haut ist weich. Unter meiner Berührung schließt Lewis die Augen. Ein leichtes Lächeln huscht über mein Gesicht. Dann nehme ich meine Hand zurück, was ihn dazu animiert, die Augen wieder zu öffnen. Ein leichtes Blitzen kann ich darin erkennen. Anstatt wie gerade eben meinen Blick wieder aufzufangen, zucken seine Augen zu meinem Mund. Doch er macht nichts. Was passiert jetzt? Was soll ich tun? Da ist diese greifbare Spannung zwischen uns, die mit jeder Sekunde stärker zu werden scheint.

»Woher hast du die Narbe?«, frage ich, einfach, um ihm den Ball zuzuwerfen. Er setzt sich auch ein wenig auf, sodass wir auf Augenhöhe sind.

»Das ist länger her«, murmelt er und ich kann Bedauern in seinen Augen feststellen. »Dumme Schlägerei auf dem Schulhof. Und...« Er bricht ab und legt den Kopf schief. »Ist nicht so wichtig.«

Dann bleibt sein Blick an meinem Mund hängen. Er kommt mir wieder ein bisschen näher, aber schaut mich dann wieder fragend an, als würde er auf irgendein Zeichen warten. Ich ziehe eine Augenbraue nach oben.

»Brauche ich ein großes Schild auf meiner Stirn, auf dem steht: „Lewis, küsse mich", oder was?«, frage ich belustigt, als er immer noch nichts macht. Neben meiner Belustigung ist da aber auch mein Herz, dass mir bis zum Hals schlägt. Er lächelt, aber ich kann ein bisschen Schüchternheit daraus lesen. Und plötzlich beginne ich mich zu fragen, ob das mit den schmutzigen Geheimnissen überhaupt der Wahrheit entspricht.

»Vielleicht«, murmelt Lewis mit leiser und rauer Stimme und ich halte es nicht mehr aus. Die Spannung wird mir einfach zu viel, weshalb ich diesen quälenden Abstand von höchstens zwei Zentimetern überbrücke und meine Lippen auf seine drücke.

Seine Lippen sind noch weicher, als ich es mir vorgestellt habe. Ich bin überrascht, überrumpelt von mir selbst, da ich noch niemanden geküsst habe. Ich weiß nicht genau, was jetzt kommt, aber als hätte Lewis darauf gewartet, dass ich den Schritt mache, schlingt er einen Arm um mich. Deswegen bleibt mir nichts anderes übrig, als mich ganz aufzusetzen. Was er in dem gleichen Moment macht wie ich. Irgendwie ist unsere Position nicht wirklich stabil, weshalb ich auf ihn rauffalle. Ich unterbreche den Kuss und pruste laut los. Lewis fällt ein, aber dann beuge ich mich wieder zu ihm runter.

Anfangs scheint er noch zu warten, was ich mache, doch dann kommt er mir auf halben Wege entgegen und es gibt keinen Halt mehr. Auch wenn er gerade eben noch zurückhaltend und abwartend gewesen ist, so ist davon jetzt nichts mehr übrig. Meine Haut kribbelt, mein Herz tanzt unregelmäßig einen Jungle Drum und meine Atmung hat auch schon mal weniger Ähnlichkeiten mit der einer hundert-Meter-Sprintläuferin gehabt.

Gerade als er auf meinem Rücken kleine Kreise zärtlich zieht, beginnt Blondie Call me zu singen. Mit anderen Worten - Lewis' Handy klingelt. Ich rolle mich von ihm runter und er kramt ein Handy aus der Tasche.

Als er rangeht, sehe ich in seinem Blick sehe ich erst, dass er genervt ist, doch dann schlägt das ganz schnell in Ernsthaftigkeit um.

»Scheiße«, flucht er laut. »Gelbe Papaya und rote Tomate.«

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