Alice
»Schwesterchen!«
Überschwänglich setzte sie noch die letzten drei Schritte in den gemütlichen Raum hinein, um dann ihre Schwester dabei zu erwischen, wie sie schon wieder vor ihrem kleinen Spiegel saß. Kurz davor zu weinen. Schlagartig schwand das Lächeln auf Seylas Gesicht.
Sie könnte dieses dumme Miststück, mit der sich ihre Schwester angefangen hatte zu treffen, zusammenschlagen. Schon seit zwei Wochen ging es Alice jeden Tag schlechter ihretwegen. Und Seyla konnte es nicht ertragen, ihre Schwester so zu sehen und ihr nicht helfen zu können.
Chione, so hieß sie. Glaubte sie zumindest. Vor einigen Monaten war Alice das erste Mal mit ihr zusammen in den Park gegangen.
Eigentlich hätte sich Seyla sehr gefreut, wenn aus ihrer Beziehung etwas geworden wäre. Seitdem sich ihre Schwester geoutet hatte, war sie verunsichert gewesen. Doch Chione schien es wohl nicht darauf abgesehen zu haben etwas Ernstes mit Alice anzufangen.
An Stelle dessen hatte sie wohl die ganze Zeit falsche Signale gesetzt, aber nachdem Alice ihr ihre Gefühle gestanden hatte, hatte sie Chione ausgelacht und war mit einem hämischen Grinsen im Gesicht gegangen.
Das war zumindest die Version, die Seyla erzählt bekommen hatte.
»Hey,«
Mit einer jetzt viel sanfteren Stimme als zuvor legte Seyla Alice vorsichtig eine Hand auf die Schulter. Die letzten Jahre hatte sich ihre kleine Schwester immer sehr auf den Ball gefreut, aber im Moment war Seyla sich nicht sicher, ob und wie sie mit ihr reden sollte.
»Ich soll dir von Oma sagen, es gibt Essen. Willst du was oder soll ich ihr sagen, dass es dir nicht so gut geht?«
Mit rot unterlaufenen Augen guckte sie Alice an. Schluckend antwortete sie:
»Kannst du mir was von unten mitbringen?«
Seyla lächelte verstehend.
»Natürlich. Ich bin bald wieder da.«
In Gedanken versunken nahm sie die Treppe nun diesmal in die andere Richtung. Unten angekommen lächelte sie kurz ihre Großmutter Lilian an und setzte sich an den Tisch.
»Alice hat Bauchschmerzen.« murmelte sie als Entschuldigung und spürte sogleich den fragenden Blick von ihrer Oma auf sich.
»Verkauft mich ihr beide doch nicht für dumm! Schon seit vorletzter Woche läuft Alice immer mit Augenringen rum und starrt noch öfter als sonst immer ins Nirgendwo und seit gestern will sie nicht mehr mit mir reden. Ihr wisst doch hoffentlich, dass ihr mir alles erzählen könnt.«
Ja ja alles erzählen, wenn das bloß immer so einfach wäre. Natürlich wusste sie, dass ihre Großmutter Lilian immer nur das Beste für die beiden wollte. Aber sie hatte das Gefühl, ihre Schwester zu bevormunden, wenn sie einfach so von ihren Problemen erzählen würde.
In einem angedeuteten Lächeln entschied sich Seyla schließlich für eine Halbwahrheit. Klar war das auch nicht viel besser als eine Lüge, aber sie hoffte, sie würde es verstehen.
»Weißt du, Alice zerbricht sich gerade bloß immer öfter den Kopf. Auch die Klausuren, die bald kommen und so... «
»Bestimmt. Ganz bestimmt. Soll ich Himbeermuffins machen?«
Dankbar nickte Seyla und konnte sich ein klitzekleines Grinsen nicht verkneifen. Eigentlich konnte Essen ja nicht helfen, aber die Herzenswärme, mit der ihre Oma sie machte, konnte man einfach schmecken. Lilian bereitete sie immer zu, wenn es den beiden schlecht ging. Sie schwor auf ihr Geheimrezept.
~~~
Eine Woche später hatte sich die Stimmung von Alice noch nicht gebessert, aber immer hin hatte sie wieder gegessen. Seyla wusste nicht, was sie machen sollte.
Es war Montag, also ließ sie sich seufzend auf den angeranzten Sitz des Busses sinken. In zwei Haltestellen würde Navid dazu steigen. Das hieß 10 Minuten, in denen sie noch Zeit hatte, entweder ihr schönstes Lächeln herauszukramen und heile Welt zu spielen, oder sich wenigstens eine kleine Weile mit den Zeilen ihrer Lieblingsrapper zu betäuben. Sie entschied sich für letzteres.
Als Navid ihr vorsichtig auf die Schulter tippte, nachdem er zugestiegen war, zog sie etwas widerwillig die Kopfhörer von ihren Ohren und lächelte ihn leicht an. Wenige konnten ihr wahres Lächeln von einem gespielten unterscheiden, Navid war allerdings einer der wenigen und so lächelte er sie beruhigend nach ihrem zögerlichen »Hi« an. Sie war froh, dass er anscheinend bemerkt hatte, dass es ihr gerade nicht so blendend ging.
Navid war eben ein guter und langjähriger Freund. Jemand, auf den man sich immer verlassen konnte und der einem immer wieder aufbaute. Dieser beste Freund aus Büchern, den sich jedes Mädchen irgendwann und irgendwie wünscht.
Seyla war unendlich glücklich, ihn zu haben. Deswegen lächelte sie auf dieselbe Weise zurück, wie er sie anlächelt hatte. Was würde sie nur ohne Navid machen?
... Wahrscheinlich jeden Tag schlecht gelaunt aufstehen und den ganzen Tag mit einem Gesicht wie sieben Tage Regenwetter herumlaufen. Und sie würde wahrscheinlich auch alles und jeden mit genervten Blicken bestrafen. Ja, etwas wie er, das brauchte Seyla wirklich. Ein Glück hatte sie ihn also, sodass die Welt ein wenig vor ihren Misslaunen geschützt war.
Weniger glücklich war allerdings die Tatsache, dass heute auch noch die geliebte Schule anstand. Schließlich würde sie außerdem dazu gezwungen sein, erstens eine weitere Doppelstunde Physik mit Herrn Thobens und zweitens die menschenüberfüllten Gänge ihrer Schule ertragen zu müssen. Ach und Volleyballclub stand heute auch noch an. Bei 38 °C und einer viel zu hohen Luftfeuchtigkeit. Seyla hasste diese drückende Hitze.
Das würde ein langer Tag werden. Aber immerhin sah sie heute auch Jona und Ai wieder. Nachdem beide die letzten Wochen bei einem Schulaustauschprogramm in Arizona mitgemacht haben, war das nun wieder ihr erster Schultag in Maine.
Seyla konnte es kaum erwarten, Ai alles zu berichten, was in letzter Zeit so vorgekommen war. Zum Beispiel, dass anscheinend an einer nahegelegenen Uni ein Student spurlos verschwunden ist und dass es einen mysteriösen neuen Schüler namens Kibbe gab.
Er war zwar in den zwei Wochen, in denen er schon hier war nicht besonders oft in die Schule gekommen, aber das Gerücht, er sei ein Handlanger eines Drogenbosses hatte schnell die Runde gemacht. Wobei das wahrscheinlich alles Blödsinn war, schließlich musste ein dunkel gekleideter, wortkarger, rauchender und bisweilen ein wenig geheimnisvoller Schüler nicht gleich Drogen verticken. Leute brauchten nur immer ein Thema um sich das Maul darüber zu zerreißen und machten gerne ein Drama der extra Klasse aus allem und jedem... So war das eben in dieser ländlichen Gegend hier...
Außerdem passten schließlich 75% dieser Beschreibung auch auf Jona und er galt zwar als etwas besonderer Eigenbrötler, aber war er trotzdem eine der Besten der Schule. Er selbst machte sich nicht viel aus seinem Ruf, feierte große Partys und schrieb trotzdem am nächsten Tag eine 1 in der Klausur. So war er eben. Genoss das Leben auf seine Art und strahlte dabei unglaublich viel Selbstvertrauen aus und ließ sich nicht in den Kram reden.
Kein Wunder, dass Ai insgeheim ein wenig für ihn schwärmte. Oder auch mehr.
Schließlich war er genau die Art von Jungen, denen sie nicht widerstehen könnte. Bei allen anderen Jungen war sie im Ignorieren allerdings geradezu perfektioniert. (A/N: Natürliche kann man Menschen nicht in Typen unterteilen, aber lassen wir diesen Satz einfach einmal so stehen... Es ist schließlich auch nur eine Geschichte!)
Obwohl beide immer wieder betonten, dass sie beste Freunde sind, sah jeder Blinde mit 'nem Krückstock, dass beide die Anwesenheit des anderen mehr als nur genossen. Sie lachten nicht wie Freunde zusammen, sondern wie zwei Menschen, die sich lieben. Sie neckten sich nicht wie Freunde es tun, sondern wie es zwei Verliebte es tun. Aber sie würden wohl immer in diesem Zustand verweilen... Die wie-im-Buch-Romanze, die die beiden abgeben würden, würde wohl nie den entscheidenden Auslöser bekommen. Schade eigentlich...
Just in diesem Moment kam eine grinsende Ai im Schlepptau von Jona über den Pausenhof, den Seyla und Navid gerade erreicht hatten. Seyla grinste zurück und Ai verfiel die letzten paar Meter zwischen ihnen in Laufschritt und sprang förmlich in die stürmische Begrüßungsumarmung, die Seyla und sie nach 2 Monaten Trennung eindeutig brauchten.
Währenddessen war auch Jona, wenn auch weniger enthusiastisch, bei ihnen angekommen. Er gönnte sich allerdings nur einen brüderlichen Handschlag mit Navid als Begrüßung.
Ein Blick zwischen den beiden genügte um ihr heimliches Amüsement über Seyla und Ai auszudrücken. Das leise Glucksen, das beide bei diesem elangeladenen Wiedersehen nicht unterdrücken könnten, verstummte allerdings sogleich, als Seyla sie böse anstarrte.
»Was können wir denn dafür, dass wir im Gegensatz zu euch echte Freude empfinden können?«
Ihre Augen verengten sich kurz und man könnte die spielerische Freude darin geradezu blitzen sehen, ehe sie sich umdrehte und freudig anfing, Ai nach Arizona auszufragen. Obwohl Ai nie schüchtern oder so etwas in der Art war, hatte Seyla das Bedürfnis sie vor allem zu beschützen und sie vor allem fernzuhalten, was auch nur den geringsten Anschein von nicht-guttuend hatte. Und Ai ließ es in der Regel über sich ergehen, aber öfters ging ihr der Spaß zu weit, was sie dann echt zur Weißglut trieb.
Jona, der derweil Navid amüsiert zugeschaut hatte, wie er heimlich die Bewegungen Seylas beobachtete, musste schmunzeln.
Ein Grund war sein bester Freund, wie er so vorausschaubar handelte und sich anscheinend sich wieder den Kopf zerbrach (wie immer eben...). Und zweitens war die kindliche Freude der Freundschaft Seyla und Ais nun echt unterhaltsam.
»Süß, nicht wahr?« sagte er grinsend, um sich auch ganz sicher zu sein, wo der Aufmerksamkeitsschwerpunkt seines Freundes lag. Das Handeln Navids war zwar leicht vorauszuahnen, doch was er alles in seinem Kopf vorging war schwer zu erraten.
Doch leider gelang ihm die Fangfrage nicht und Navid antwortete (nur) mit einem: »Mhm absolut... die beiden sollten in einer Serie für beste beste Freundschaften mitmachen, sie würden gewinnen.« und lächelte dabei verschwörerisch. Anscheinend wieder ganz aus den Tiefen seiner Gedanken aufgetaucht.
Einträchtig, nahezu ehrfürchtig schauten beide Jungen Seyla und Ai hinterher.
»Können wir da ansatzweise mithalten?« fragte Navid scherzhaft.
»Nicht ansatzweise, aber komm, lass uns auch mal losgehen. Ich habe für heute eine besondere... Überraschung geplant.«
~~~
A/N: Leider musste ich diesen Teil ohne meine geschätzte Lektorin schreiben und ich war mir lange unsicher, ob ich diesen Teil so hochladen kann. Ich hoffe ihr habt trotzdem Spaß beim Lesen. Wenn ihr Anmerkungen oder Verbesserungsvorschläge habt, ich würde mich darüber freuen, sie zu hören. Denn ich bin nie so ganz zufrieden, mit dem, was ich schreibe 😅
Im Übrigen tut es mir auch leid, dass so lange nichts kam, doch ich bin gerade auf einem Schüleraustausch in Frankreich und die Tage sind echt lang.
Bis hoffentlich bald ❤
~Stern
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