6 | Strom
»Immer ruhig mit den jungen Pferden.«
Tja, wie das Leben so spielt. Willste Leuten aus dem Weg gehen, läufste dem nächsten Typen voll rein. Und das auch noch auf einer Treppe. Es hätte jetzt nur noch gefehlt, dass ...
Nee, kann von der Missing-Liste gestrichen werden. Dampfende braune Flüssigkeit rieselt zwischen uns hinab. Perplex starre ich diesen Schwall an, bis es nur noch einzelne Tropfen sind.
»Äh ... Ähm ... Ich ... Tut ... Ähm«, kommt aus mir heraus. Mega cool bin ich heute drauf, bemerke ich zynisch. Doch ich schiebe das mal auf die Nacht am Hafen und damit auch ganz weit weg.
Der Typ bleibt verdattert vor mir stehen und schaut so aus, als wüsste er auch nicht genau, was er sonst noch sagen soll. Sein Blick huscht zwischen fast leerem Plastik und mir hin und her. Das ist die Chance. Die ergreife ich doch und trete den Rückzug an. An ihm vorbei komme ich nicht, denn er hält sich am Geländer der Treppe fest, die zur Hafenpromenade hin- oder auch wegführt. Planänderung ist angesagt. Ich jumpe die Stufen also wieder hinunter.
»Ey. Du–« Er unterbricht sich selbst und mehr würde ich vermutlich auch nicht mehr hören durch das Stimmengewirr der Leute um mich herum. Ringsherum. Eine Masse, in die ich mich schnellstmöglich gemogelt habe. In den voller werdenden Strom an Menschen habe ich mich eingereiht. Ich werde förmlich mitgezogen und teilweise mitgerissen. Es scheint, als habe ich keine andere Möglichkeit mehr, als mitzulaufen. Umdrehen? Keine Option. Austreten? Nur an bestimmten Stellen. Nach einer halte ich Ausschau.
Der Kaffee-Typ schwirrt mir noch im Kopf herum. War das falsch von mir? Aber was hätte ich schon tun können? Es ist ja nicht so, dass es Absicht war. Seine Kleidung ist nicht beschmutzt, so weit ich das beurteilen kann. Okay, eine Entschuldigung ... Die wäre vielleicht noch drin gewesen. Aber ansonsten? Ich weiß es nicht. Und dennoch und schon wieder fühle ich mich so, als hätte ich versagt und der Tag hat erst begonnen.
Musik würde mich sicherlich aufheitern, doch ich weiß nicht, wann und wie ich mein Handy aufladen kann, daher habe ich es ausgeschaltet und dabei belasse ich es lieber erst einmal. Unerreichbar zu sein, hat auch etwas Gutes. Zumal ich momentan auf der Hut sein sollte und nicht mit irgendwelchen Behörden rumlabern will, die eh nur das eine von mir wollen. Dass ich zu ihnen komme, mich von ihnen irgendwo hinstecken lasse und so weiter und so fort. Ich bin keine zwölf mehr. Lasst mich leben! Hört mir zu! Schreien könnte ich – das alles heraus. Doch dann wäre hier die nächste Behörde im Anmarsch, weil die Umwelt denkt, dass ich verrückt wäre.
Bei der nächsten Gelegenheit schiebe ich mich durch die Masse, zwänge mich durch Arme, Beine, keine Ahnung, welche Körperteile noch alles und komme endlich irgendwann und irgendwie oben auf dem Pfad an.
Die Sonne hat heute schon früh an Kraft zugelegt, sodass ich erst einmal meinen Hoodie über den Kopf ziehen und mir den um die Hüften schwingen muss.
Ich schaue mich zu den Seiten um. Überall sind Menschen und doch bin ich allein. Ewig werde ich nicht mit dem ganzen Krempel durch die Gegend laufen können ... Eins nach dem anderen.
Das break'n'hut. An einem Mittwoch zu dieser Zeit wird dort sicherlich nicht viel abgehen. Das wäre perfekt für den Anfang zum Chillen am Tag. Zielstrebig laufe ich los.
Ich nähere mich dem break'n'hut von der anderen Seite als gestern; schaue, ob die Tür zum dazugehörigen Haus offen steht. Sie scheint geschlossen zu sein. Vielleicht macht der Jugendtreff auch erst später auf. Ich umrunde das Haus, bis ich bei der Rampe ankomme.
Wen sehe ich natürlich genau da stehen? Baggy.
Demonstrativ, weil es ja nicht besser kommen konnte, lasse ich meinen Seesack mit einem lauten Plumpsen fallen. Das erschreckt ihn natürlich. Meine leichter gewordenen Arme nehme ich an mich heran und kreuze sie vor der Brust. Unwillkürlich muss ich mit dem Kopf schütteln. Etwas löst dieser Kerl in mir aus. Nichts Gutes.
»Das ging ja schneller als gedacht«, kommentiert er mein Auftreten und grinst dabei süffisant, was auf jeden Fall ein Grund für mein Empfinden ihm gegenüber ist.
»Was machst du denn hier?«, frage ich verärgert. Obwohl es meinem Inneren entspricht, wollte ich eigentlich nicht so rüberkommen. Es überkommt mich ... leider. Außerdem hoffte ich, hier meine Ruhe zu haben.
»Äh Ferien?«, ist seine überaus intelligente Antwort. Aber ... Ach ja. Da war ja was, deswegen hab ich ja eine Gnadenfrist bekommen, bis ich mich entscheiden sollte, was ich machen wolle, weil eh bald Ferien seien. Sommerferien.
»Ja, ich weiß«, sag ich daher. »Aber was machst du hier?«, hake ich meine Verlegenheit überspielend nach, wobei ich meine Arme locker lasse und mit ihnen ausschweifend auf das Gelände zeige.
»Wonach sieht es denn aus?«, belustigt er sich.
»Kannst du auch normal antworten?«, frage ich gereizt zurück. Und ganz ehrlich? Ich habe keinen blassen Schimmer, was er treibt. Er hockt auf dem Boden und scheint nichts wirklich zu tun. Zählt er Kieselsteinchen?
»Kannst du weniger genervt sein?«, fragt er. Boah, was? In meinem Kopf kremple ich schon meine Ärmel hoch.
»Ich zeig dir–«
Ein völlig absurdes, fröhliches und so really deplatziertes »Hey!« wird zu uns herübergerufen.
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