17 | Hier

Ist das nicht die gleiche Frage wie vorher? Wort für Wort?! Darauf komme ich nicht klar. Wenn ich es zuvor nicht gecheckt habe, wie sollte ich es dann jetzt? Nun komme ich mir absolut dämlich vor.

Dazu hänge ich aber auch irgendwie noch immer in seinen Augen fest. Also ... Nicht wirklich. Na ja ... Doch, ja.

Sein Schmunzeln verrät mir, dass er es offensichtlich mitbekommen hat. O je ... Unfähig und peinlich. Welche Adjektive kann ich noch auf die Liste setzen?

Ich schließe die Augen und zähle. Eins, zwei, drei ... Dabei atme ich tief durch.

Als ich meine Augen wieder öffne und zu ihm schaue, lehnt er ebenso wieder an der Häuserwand wie ich und starrt nach vorne. Gibt er mir Zeit? Oder hat er es aufgegeben?

Wieso ist er hier? Schwupsdiewups kommt mir die Aussage von Balou wieder in den Sinn. Jeder hat eben seine Geschichte. Auch er wird seine haben. Wie wir alle wahrscheinlich. Noch einmal atme ich tief durch, versuche, von überall meinen Mut zusammen zu kratzen, stoße mich etwas von der Wand ab und setze mich in den Schneidersitz. Seine Augen ruhen erneut auf mir – das macht es nicht leichter, aber einen Rückzieher mache ich dieses Mal nicht.

»Was ist deine Geschichte?«, frage ich ihn. Mit zitternder Stimme, aber ich habe mich getraut.

»Nicht sehr schön.« Er fährt sich mit den Händen durchs Gesicht, wobei seine Kringellocken an manchen Fingern hängen bleiben. Er trägt heute – oder vielmehr diese Nacht – keine Cap. Ich sehe nicht nur, wie er mit sich ringt, ich kann es auch spüren. Eine Welle an Unbehagen schwappt zu mir rüber.

Wir kennen uns doch gar nicht und ich stelle so eine intime Frage. Wie würde ich reagieren? Flucht, auf jeden Fall. Wie konnte ich nur?

»Ich weiß nicht, ob und wenn was du schon weißt oder gehört hast. Manches könnte stimmen ...«, gibt er leicht grinsend – süß, aber vielleicht kaschiert es seine Unsicherheit? – von sich. Ich schüttele nur mit dem Kopf.

Aber dann schiebe ich schnell ein »Doch« hinterher. Ziemlich laut. »Sorry. Balou meinte, dass du nicht so viel Zeit wie die anderen hast, obwohl ihr Ferien habt. Aber sonst nichts.«

»Sozialstunden«, lässt er mich auf eine irgendwie Easy-Art wissen, als wäre es nichts. In meinem Kopf geht jedoch einiges ab. Immerhin sitze ich mit ihm hier alleine mitten in der Nacht. »Das ist der Grund, weswegen ich nicht so viel Zeit wie die anderen habe, trotz Ferien.«

»Und ... ähm ...«, stammele ich vor mich hin.

»Du meinst, warum?« Ich nicke und er fährt fort. »Eine dumme Geschichte. Eine Zeit lang bin ich immer wütend herumgelaufen. Ich hab mich schon selbst angekotzt, konnte es aber nicht ändern. Ich habe da einfach keinen Abzweig gefunden. Vielleicht kennst du ja so was. Es hat nur hier geklappt. Aber auch nicht immer.« Er unterbricht sich, schaut erst mich an und blickt dann zunächst um uns herum, um dann doch wieder hoch in den Himmel zu schauen.

»Mein kleiner Bruder ... Vor etwas mehr als zwei Jahren ... Er ist ... Vor ...«, setzt er immer wieder neu an. Seine Stimmfarbe lässt mich bereits grauenvoll erahnen, in welche Richtung es gehen wird. Mich fröstelt es immer mehr, aber nicht aufgrund der Kälte.

»Er lebt nicht mehr«, spricht er hastig aus und hält dann inne. Geschockt lasse ich ihm den Moment. »Er war erst sieben Jahre alt. Und er liebte seinen Ball ... Er war gerne mit mir hier. Saß dort auf der Stelle und spielte mit seinem Ball«, erzählt Gabe mir mit Freude und Trauer in der Stimme und zeigt auf den Fleck, wo ich ihn nun schon zweimal aufgefunden habe. Tränen bilden sich unmittelbar. Bei mir. Vor Scham, vor Wut, vor allem Möglichen. Vor allem, weil ich mich schäme aufgrund meiner Gedanken, die ich hatte. Mit Mühe kann ich sie verbergen. Schmerz flutet mich jedoch genauso – kann ich das überhaupt derart empfinden? –, weil er seinen Bruder verloren hat.

»Ich ging rein und wollte nur auf Toilette und uns was zu trinken holen. So wie sonst auch. Dann kam ich wieder raus. Er saß nicht mehr. Er lag ...«

Leise Tränen rinnen nun doch an meinen Wangen hinunter. Unbeholfen stottere ich ein »Tut mir leid« in seine Richtung und weiß gar nicht, was ich sonst noch sagen soll.

»Ich war so unfassbar wütend und frustriert. Auf alles und jeden. Aber ... vor allem auf mich. Zweimal wurde ich von der Polizei nach Hause gebracht. Zweimal blieb es ohne ernsthafte Folgen ... Beim dritten Mal kam es zu einem Verfahren. Das war letztes Jahr.«

»Und wegen was?«, frage ich flüsternd nach.

»Sachbeschädigung. Das Dumme ist ja, ich hätte hier an der offiziellen Graffitiwand sprühen können und nicht einfach irgendwo. Ich war benebelt. Nicht von den Dosen. Von meiner Wut, von der Trauer, von allem.«

»Und, jetzt ist es besser?«

»Schon. Ja. Meine Strafe besteht aus Sozialstunden, einer Entschuldigung und Trauerbewältigung. Vorrangig vom Gericht wurden die Entschuldigung und die Trauerbewältigung angewiesen. Zuerst war ich total angepisst, aber es ist gut so«, erklärt er und es scheint, als würde er sich daran zurückerinnern.

»Die Trauerbewältigung tat mir gut. Ich gehe weiterhin zu einer Therapeutin, aber nur noch bei Bedarf. Die Entschuldigung habe ich gleich hinter mich gebracht.« Er räuspert sich. »Und habe ich noch einmal wiederholt, als ich sie ernst meinte«, ergänzt er, wobei er auflacht, was mich auch leicht zum Grinsen bringt.

»Na ja, und nun sind die Sozialstunden dran. Bisher habe ich nur sehr wenig davon abarbeiten können. Von mir aus will ich sie nun in den Ferien ableisten, damit ich mich danach auf das Abschlussjahr in der Schule konzentrieren kann.« Obwohl er sehr reif darüber spricht, spüre ich auch die Trauer in seinem Ausdruck, die noch immer mitschwingt. Kein Wunder – er hat seinen Bruder verloren. Aber da ist auch mehr. Es ist nicht nur noch Trauer herauszuhören.

»Also ja. Es war ein langer Weg, sehr schwer und ist es teilweise noch immer. Heute zum Beispiel ist keine gute Nacht«, sagt er. »Deswegen bin ich hier.«

»Wow.« Das ist so bewundernswert. Mehr als ›wow‹ bekomme ich nicht raus, obwohl ich das Gefühl habe, so viel mehr sagen zu müssen. Ich bin berührt. Er hat dieses tragische Schicksal erleiden müssen. »Ja, du bist immer noch hier«, rollen die Worte aus mir heraus.

»So wie du.«

»Ich meinte, du bist immer noch da. Nicht hier hier«, erkläre ich.

»Das meinte ich auch.«

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