1 | Raus
»Raus!«
Ein Wort. Es ist nur ein verdammtes Wort und doch so viel. »Raus!«, echoe ich in meinem Kopf. »Raus!« Es ist nicht das erste Mal, dass ich es gehört habe. »Raus!« Und sicherlich nicht das letzte Mal.
Ich schaue nicht zurück, sammle stattdessen meine Schuhe, Jacke, Cappy und Rucksack aus dem Vorgarten auf und straffe dann, so gut es geht, meinen Oberkörper. So erhoben, wie ich es nur schaffe, verlasse ich das Grundstück der Eltern von Dana, einer guten Freundin. Vielleicht auch ehemals Freundin.
Ablehnung, es begegnet einem Menschen wie mir überall. »Wie konntest du sie mit hierherbringen? Sie ist ein Heimkind!« Empörung. »Raus!« Raus und weg aus unserem Leben, soll es doch heißen. Wir wollen dich nicht – weder sehen noch das Übel, was dahintersteckt. Dann gibt es so was auch gar nicht. Unverständnis. Nicht nur kein Mitgefühl, sondern wirklich kein Verständnis und vor allem keine Ahnung, wie es ist. Sie verdienen das Mitgefühl, weil sie wenig vom Leben außerhalb ihres Dunstkreises begreifen. Verlassen. Das werde ich immer wieder. Mühsam.
Dass ich nun aber ernsthaft Probleme haben könnte, scheint sie weniger zu interessieren. Aus den Augen, aus dem Sinn, he?
Was mache ich denn jetzt? Fucking mega Shit. Ich habe mich darauf verlassen, was Dana meinte. Dass ich bei ihr pennen könnte. So habe ich es auch der Wohngruppe verkauft und die haben mein Wort bekommen. Mein Betreuer denkt, ich komme erst morgen früh zum Frühstück zurück. Ich darf mir nicht noch mehr leisten. Mein Fauxpas-Konto ist hart an der Grenze. Es hat sich wohl einiges summiert ... Nichts Wildes, wenn ich gefragt werden würde, was ich zwar werde, aber für meinen Geschmack wird meine Meinung nicht so ernst genommen, wie ich es gerne hätte. Und die sehen es halt ständig anders ...
Wenn ich jetzt bei der WG angetrottet komme, denken die doch sicher, es war eine Lüge. Wenn ich jedoch unterwegs bleibe ... Ja, eben, so eine Kacke! Wohin dann? Fuck! Ich fahre mir durch meine Haare. Meine Haare!, fällt mir auf. Wie ich es nicht abkann, wenn sie offen herum wedeln. Dana wollte sich meine Pracht nur mal anschauen ... Lästig. So empfinde ich sie. Eilig zupfe ich das schwarze Gummiband vom Handgelenk, rupfe von diesem ein paar meiner hellbraunen gesplissten Borsten ab und mache mir einen Zopf. Besser. Cappy drüber. Viel besser.
Ein paar Meter weiter pflanze ich mich auf die nächste freie und halbwegs saubere Bank. Meinen Rucksack stelle ich neben mich darauf ab, die Jacke lege ich darüber, damit bloß kein anderer auf die Idee kommt, sich noch daneben zu setzen. Während ich mir meine Schuhe mal ordentlich zuschnüre, spüre ich mein Handy in meiner Hip Bag vibrieren. Es hört ja gar nicht auf. Mensch ey, darf ich noch nicht mal in Ruhe meine Schuhe binden und viel wichtiger: im Frust ankommen?
Die Schnürsenkel des linken Sneakers lasse ich wieder hängen, ziehe stattdessen den Reißverschluss meiner Tasche auf und ziehe das vibrierende Teil raus. Auf dem Startbildschirm sehe ich schon, wer es ist. Mit einem Gemisch aus Neugierde und auch Wut öffne ich den Chatverlauf.
—
›Es tut mir leid!‹
›Damit habe ich nicht gerechnet ...‹
›Redest du jetzt nicht mehr mit mir?‹
›Sorry ...‹
›Was machst du jetzt?‹
›Mo?‹
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Sechs Nachrichten von der gleichen Person. Dana. Was soll ich darauf antworten? Dass es ja auch noch schöner gewesen wäre, wenn sie damit gerechnet hätte? Oder mir ihre Entschuldigungen auch nichts bringen? Vielleicht aber auch, dass ich auch keinen Plan habe, was ich jetzt verdammt noch mal machen soll? Nein, nichts davon. Dana meint es gut, denke ich mir zumindest mal. Ich atme durch. Und bevor noch die nächsten Nachrichten reinflattern – es wird gerade angezeigt, dass sie schreibt –, tippe ich schnell was ein und schicke es ab. ›Passt schon. Mach dir keinen Kopf‹, ist meine glorreiche Antwort.
›Meld dich, wenn etwas ist‹, antwortet sie und ich reagiere lediglich mit dem Daumen hoch Emoji.
Mein Handy kommt wieder an seinen Platz und ich widme mich erneut dem Schuh. Das Vibrieren bleibt aus. Ich sollte mich darüber freuen, immerhin war das mein Wunsch und das Ziel habe ich erreicht. Doch entgegen freudiger Luftsprünge – die ich eh nicht machen würde – drängen sich wieder andere Gedanken in den Vordergrund, die mir meine innere Stimme an den Kopf knallt.
Du wirst verlassen. Früher oder später. Von allen. Du bist unerwünscht. Raus!
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