3. Liam
Sorry, Leute. Ich habe mich selbst noch nicht daran gewöhnt, dass ich dienstags updaten wollte.
Der Anruf erreichte ihn etwa eine halbe Stunde, nachdem Charlie gegangen war. Liam war immer noch dabei, über ihr Gespräch nachzudenken und sich gegen die nagenden Zweifel zu wehren, als sein Handy klingelte. Er hätte es beinahe verpasst, weil seit einer Woche vier- bis fünfmal täglich fremde Nummern anriefen und ihn um ein Gespräch baten. Diesen einen Anruf wollte er ebenso wegdrücken wie die letzten drei – dann fiel ihm Adams Name auf dem Display auf.Im Nachhinein konnte er sich nicht genau erinnern, wie er so schnell aus der Wohnung gekommen war. Irgendwie hatte er es geschafft, innerhalb von fünf Minuten zu duschen, ein frisches Shirt aus seiner Reisetasche zu fischen, Schlüssel und Geldbeutel in seine Tasche zu stopfen, zur Bushaltestelle zu sprinten und zwischen die sich schließenden Türen zu springen. Erst als er sich schwer atmend auf einen der Sitze sinken ließ, stellte er fest, dass er sogar seinen Zauberstab mitgenommen hatte.
Nicht, dass ich ihn benutzen könnte oder wöllte, dachte er zynisch. Ein Teil von ihm identifizierte sich offensichtlich genug als Hexer, um genauso abhängig an diesem Stück Holz zu kleben wie 13-Jährige an ihren Handys.
Als er aufsah, wandte eine Handvoll Fahrgäste hastig den Blick ab. Ein paar andere starrten ihn weiter an, so lange, bis sie bemerkten, dass sie aufgeflogen waren. Liam zog sich seufzend seine Kapuze über den Kopf und ließ sich tiefer in den Sitz sinken. Einen kurzen Augenblick hatte er es geschafft zu vergessen, dass ihn mittlerweile ganz Edinburgh, wenn nicht sogar die halbe Welt kannte. Jetzt hatte es auch keinen Sinn mehr, den Zauberstab verstecken zu wollen. Sie wussten ohnehin alle, dass er Magie beherrschte. Offiziell zumindest.
Die Fahrt bis ins Royal Infirmary dauerte vierzig Minuten. In jeder einzelnen betete Liam, dass niemand auf die Idee kam, ihn anzusprechen. Die neu zusteigenden Fahrgäste fühlten sich von seiner ablehnenden Haltung und der Kapuze offenbar abgeschreckt genug, um nicht näher hinzusehen und ihn zu erkennen. Von den anderen warf ihm immer wieder jemand einen Blick zu. Das Tuscheln aus den Reihen hinter ihm war mühelos zu verstehen, doch Liam sah keinen Sinn darin, sich umzudrehen und zu fragen, wie lange sie denn noch über sein Privatleben spekulieren wollten. Vielleicht, dachte er insgeheim, vielleicht verlieren sie irgendwann das Interesse, wenn sie feststellen, dass ich ein ganz normaler, langweiliger Kerl bin.
Den Bus schließlich zu verlassen, jagte ihm ebenso viel Angst ein, wie es ihn erleichterte. Keine Gefahr mehr, von den anderen Passagieren in eine Ecke gedrängt und mit Fragen gelöchert zu werden. Dafür musste er sich wohl oder übel noch mehr Leuten stellen. Liam ging die letzten Meter von der Haltestelle bis zum Haupteingang des Krankenhauses mit schnellen Schritten, den Blick fest auf den Boden gerichtet und darauf bedacht, den anderen Menschen auszuweichen. Kurz war ihm der Gedanke gekommen, dass Adam sich womöglich einen Scherz erlaubte und ihn nur dazu bringen wollte, endlich die Wohnung zu verlassen und sich nach draußen zu wagen. Aber so weit würde nicht einmal er gehen.
Es war lange her, dass er zuletzt in einem Krankenhaus gewesen war. Zehn Jahre etwa, als er sich beim Spielen das Handgelenk gebrochen hatte. Als er sich nun an wartenden Menschen in der Eingangshalle vorbeischob, beschlich ihn Unbehagen. Die meisten hier schienen Verwandte oder Freunde zu besuchen, nur Wenigen sah man eigene Krankheiten oder Verletzungen an. Eine leise Stimme in ihm bemerkte, dass er vermutlich vielen von ihnen helfen könnte, wenn er seine Magie besser beherrschen würde. Hexen konnten nicht alles heilen, aber sie konnten zumindest die Heilung unterstützen. Und Charlie behauptete felsenfest, dass er mit seiner Zauberstabwahl dafür prädestiniert war.
„Entschuldigung?"
Die Frau am Empfang hob einen Zeigefinger, rollte mit ihrem Stuhl zwei Meter nach rechts und tippte dort etwas in einen anderen Computer. Liam sah zurück zu den anderen Besuchern und sah hastig wieder weg, als er dem Blick eines anderen Mannes begegnete.
„Entschuldigung", wiederholte er, „ich bin auf der Suche nach einem Freund. Er ist vor ungefähr zwei Stunden hier eingeliefert worden."
Die Frau rollte zurück, sah ihn jedoch noch immer nicht an. „Ich kann nicht zaubern, Schätzchen. Geben Sie mir noch eine Minute, dann sehe ich, was ich für Sie tun kann."
Liam gab sich Mühe, sein Zusammenzucken zu überspielen. Er mochte keine Frauen, die fremde Leute Schätzchen oder Herzchen nannten – sie erinnerten ihn immer eine Lehrerin aus der ersten Klasse, die dachte, er wäre nicht der Hellste, weil er so wenig sagte. Die Bemerkung mit dem Zaubern war nur so dahingesagt, dennoch fühlte er sich nicht wohl dabei.
„So", sagte sie einen Moment später. „Wie heißt denn Ihr -?"
Als sie verstummte, löste Liam seinen Blick von dem Kratzer im Tresen. Sie hatte die Augen aufgerissen, den Mund noch halb geöffnet. Dann fing sie sich, sah kurz weg und setzte ein unsicheres Lächeln auf. „Ich kenne Sie. Sie sind doch -"
„Mein Freund", fiel Liam ihr ins Wort. „Bitte. Sein Name ist Adam Bassey. Ich muss wirklich dringend zu ihm."
Sie nickte mechanisch und wandte sich ihrem Computer zu. Liam drehte sich zur Seite, weg vom Eingang und konzentrierte sich auf die Wegweiser zu den einzelnen Stationen. Die Frau musterte ihn verstohlen. Er konnte nur beten, dass sie seine Anwesenheit für sich behielt und nicht jedem in verschwörerischem Tonfall von ihrer Begegnung berichtete. Oder gar die Presse anrief, die ihn bisher nicht aufspüren konnte.
Er bedankte sich für die Zimmernummer und Wegbeschreibung. Als er durch die grell beleuchteten Gänge ging, überlegte er noch immer, ob er mit oder ohne Kapuze mehr auffiel. Vor Adams Zimmer lief er geradewegs dessen Eltern in die Arme. Marsha und Joe Bassey wirkten beide erschüttert, aber gefasst. Als sie ihn erkannten, blieben sie stehen, offensichtlich unschlüssig.
„Liam", sagte Adams Mutter. „Das ... ist ja eine Überraschung. Schön, dich zu sehen."
„Finde ich auch." Er zwang ein Lächeln auf seine Lippen. „Ich bin so schnell gekommen wie ich konnte."
Joe fixierte den Zauberstab in Liams Hand. „Was soll das werden?"
„Ich ... nichts Bestimmtes. Ich wollte nur nach Adam sehen."
„Du bist einer von denen", grollte Adams Vater. „Du und deinesgleichen seid dafür verantwortlich, was passiert ist."
„Liebling. Nicht." Seine Frau legte ihm eine Hand auf den Arm, doch er schüttelte ihn ab.„Es ist mir egal, ob du ihr nächster König oder ein Laufbursche bist, Junge. Zauberei, Hexen sind unnatürlich. Es ist allein eure Schuld, dass Adam jetzt in diesem Bett liegt!" Er trat so nah an Liam heran, dass er bis zur Wand zurückweichen musste. „Ich habe keine Angst vor dir", knurrte er. „Halt dich gefälligst von meinem Sohn fern!"
Liam war wie erstarrt. Mit so etwas hatte er nicht gerechnet. Nicht von Leuten, die er kannte, die zu den tolerantesten Menschen gehörten, denen er je begegnet war. Seine Hand begann zu zittern. Nicht zaubern, ermahnte er sich panisch. Bloß nicht versehentlich zaubern.
„Ich glaube, diese Entscheidung liegt bei Adam, Sir", antwortete er steif. „Der mich im Übrigen selbst gebeten hat, herzukommen. Und ich habe ihn schon viel zu lange warten lassen."
Er hob den Zauberstab an – nicht in der Absicht, in zu benutzen, aber es genügte, um Joe ein Stück zurückweichen zu lassen. Weit genug, um Liam die Gelegenheit zu geben, an ihm vorbei durch die Tür zu schlüpfen.
***
Adam war mit seinem Handy beschäftigt, als Liam das Zimmer betrat. Das zweite Bett war nicht belegt und Liam schämte sich beinahe für seine Erleichterung darüber. Er war sich nicht sicher, ob er mit weiteren abschätzigen Blicken oder offenen Anfeindungen klarkommen würde.
„Du hast dir ganz schön Zeit gelassen, Mann", sagte Adam. „Noch etwas länger und ich hätte mich zu Tode gelangweilt."
„Sorry. Ich wurde aufgehalten." Er zögerte kurz, ehe er sich auf dem Stuhl neben dem Bett seines Freundes niederließ. Es fiel ihm schwer, Adam nicht anzustarren und zu überlegen, wie knapp er tatsächlich dem Tod entronnen sein mochte. Abgesehen von einem Verband am Kopf und einigen Schrammen an den Armen konnte er keine Verletzungen entdecken. Aber was hieß das schon? „Wie gehts dir?"
„War schon besser. Die Platzwunde muss übel ausgesehen haben und mein Arm ist angeknackst. Ich könnte trotzdem schon gehen, aber die Ärzte wollen mich noch eine Nacht hierbehalten."
„Macht Sinn", antwortete Liam automatisch. „Wahrscheinlich hast du eine Gehirnerschütterung. Das kann übel ausgehen. Es wäre auch besser, wenn du das Handy erstmal nicht benutzt."
Adam hob eine Augenbraue. „Wenn du mir medizinische Vorschriften machen willst, hättest du das Studium nicht abbrechen dürfen."
Er grinste, und verzog dann das Gesicht, als hätte diese Bewegung ihm Schmerzen bereitet. Dann warf er sein Handy auf das leere Bett. „Danke, dass du gekommen bist. Ich weiß, dass das nicht leicht für dich ist."
Liam dachte an die neugierigen Blicke auf der Straße und an Adams Vater. Alles in ihm drängte darauf, diese Begegnung mit jemandem zu teilen, um nicht länger mit seinen Ängsten allein zu sein. Aber das konnte er Adam nicht antun. Jedenfalls nicht jetzt. „Es war nicht so schlimm wie erwartet. Ich muss mich wohl einfach daran gewöhnen, plötzlich eine Berühmtheit zu sein." Er drehte seinen Zauberstab in der Hand und dachte nach. „Ich könnte versuchen, dich zu heilen. Zumindest den angebrochenen Knochen."
Schweigen. Als Liam aufsah, lag Adams Blick auf dem Zauberstab. Unsicherheit flackerte über seine Miene. „So verlockend die Vorstellung auch ist ... Mit sowas würde ich lieber noch warten, bis du mehr Übung hast. Nichts für ungut."
„Klar, das verstehe ich." Liam versuchte, den Stich der Enttäuschung zu ignorieren. Nicht einmal er traute seinen Fähigkeiten weit genug, um sich selbst zu heilen. Erst recht deshalb, weil er es seit Tagen vermied, zu zaubern. Mehr Übung würde er nur bekommen, wenn er sich dabei helfen ließ – und darin lag das Problem.
Adam schien seine Gedanken zu erraten. „Charlie war bei dir."
„Sie besteht darauf, meine Hilfe zu brauchen."
„Und was ist daran so falsch?"
„Ich kann mir einfach nicht vorstellen, in diese Rolle zu schlüpfen", antwortete er. „Das ist zu groß für mich. Sie erwarten nicht nur einen König, der die Hexen vereint und mit den Menschen verhandelt, sondern auch noch jemanden mit großer Macht und der Fähigkeit, sie zu beherrschen und einzusetzen."
„Ah", murmelte Adam, „und du glaubst, dass du das nicht kannst. Und weil du niemanden enttäuschen willst, probierst du es lieber gar nicht erst."
So einfach ist das nicht, dachte Liam. „Es spielt keine Rolle. Wenn sie einen König brauchen, sollen sie meinen Onkel nehmen – der hat darin Erfahrung und kennt sich genug mit alldem aus."
„Der Sinn eines Aufstands gegen einen König besteht nicht darin, ihn danach wieder einzusetzen. Sie brauchen einen neuen, und der bist nun mal du. Es gibt genug Leute, die daran glauben, dass du für diesen Job geeignet bist."
„Nur ich selbst nicht." Liam stand auf und ging durch den Raum, auf der Suche nach etwas, auf das er das Thema stattdessen lenken konnte. Als er Adams Tasche in der Ecke stehen sah, runzelte er die Stirn. „Was ist überhaupt genau passiert? Bist du in der Uni die Treppe heruntergefallen?"
„Ich habe die letzte Vorlesung geschwänzt. Auf dem Weg nach Hause bin ich eine Abkürzung gegangen und dann ..." Er hielt inne. „Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, was passiert ist. Irgendetwas hat mich gerammt und ich dachte noch, dass ich unmöglich ein Auto übersehen haben kann. Jedenfalls lag ich auf dem Boden. Die Mülltonnen neben mir waren umgeworfen und verbeult, aber es war nichts zu sehen, das das verursacht haben könnte. Was auch immer das war, Liam, es war nichts Natürliches."
Ein Schauer rann über Liams Rücken. Er musste wieder daran denken, was Adams Vater zu ihm gesagt hatte. „Du meinst, eine Hexe hat dich angegriffen?"
Adam schüttelte leicht den Kopf. „Wenn es ein Angriff gewesen wäre, wäre ich nicht so glimpflich davongekommen. Außerdem habe ich niemanden gesehen. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, das war eine von diesen Magieblasen, von denen du erzählt hast."
„Das ist ..." Nicht unmöglich, ermahnte er sich selbst. Mit diesem Begriff war er sehr vorsichtig geworden. „Nicht gut. Wenn das wirklich eine Magieblase war, wird es nicht die Letzte gewesen sein. Auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, woher sie so plötzlich kommen sollten."
„Ich mir schon." Adam nickte in Richtung seiner Tasche. „Da drin ist ein Notizbuch. Gibst du mir das mal?" Er wartete, bis Liam ihm das Heft brachte, und blätterte darin herum. „Ich habe in letzter Zeit viel über diese ganze Magie-Sache nachgedacht. Überwiegend darüber, was diese Freundin von Charlie gesagt hat. Darüber, dass Blasen durch eine Störung im Fluss der Magie entstehen."
Er drehte das Buch so, dass Liam die Notizen darin lesen konnte. Die Hälfte der Seite war von bunten Farbspritzern bedeckt.
„Sie hat gesagt", fuhr Adam fort, „dass es in Edinburgh relativ wenig Magie gibt, weil die meisten Hexen in Tir na nOg gelebt haben. Aber jetzt sind sie hier. Auch wenn wir nicht viel davon bemerken, wette ich, dass sie die ganze Zeit Magie nutzen. Die verteilt sich, so wie wenn man mit Farbe herumspritzt. Am Anfang bemerkt man es kaum, aber je mehr es wird, desto größere Farbkleckse bilden sich irgendwann. Für die Verhältnisse hier werden das ungewohnt hohe Magiemengen, und die entladen sich dann in den Magieblasen."
„Ich bin nicht sicher, ob das brillant oder verrückt ist", sagte Liam. „Hast du jemandem davon erzählt?"
„Wem denn?" Adam schnaubte. „Meine Kontakte zu den Hexen beschränken sich auf dich. Eventuell noch Charlie und ihre anderen Freunde, aber ich bezweifle, dass die sich von einem Menschen anhören werden, wie Magie funktioniert."
„Aber wenn du recht hast, wird das noch schlimmer werden. Womöglich ohne dass sie sich bewusst sind, dass sie selbst dafür verantwortlich sind. Es wird noch mehr unkontrollierte Magieausbrüche geben. Die Menschen werden noch mehr Angst vor den Hexen bekommen und sich noch mehr gegen ihre Anwesenheit auflehnen. Es könnte auf einen Krieg hinauslaufen."
Adam erwiderte nichts. Er sah ihn einfach nur an. Liam weigerte sich, die Antwort in seinem Blick anzuerkennen.
„Wir können es Lindsay sagen", schlug er vor. „Sein Wort hat Gewicht. Und er ist intelligent genug, um das nicht als Hirngespinst abzutun."
„Du weiß, dass das nicht funktionieren wird."
„Sie haben genügend eigene Wissenschaftler. Wenn sie einen Denkanstoß bekommen, wird ihnen selbst klar werden, was geschehen wird."
„Das wird nicht reichen", antwortete Adam. „Egal was sie zu wissen glauben, sie verstehen unsere Sichtweise nicht. Auf die wenigen, die es tun könnten, wird niemand hören. Du musst das tun."
Liam wollte erneut widersprechen, doch ihm gingen die Argumente aus. Tief im Inneren wusste er, dass Adam recht hatte. Genau wie Charlie. Er hatte noch immer die Wahl. Wenn er das wirklich wollte, konnte er sich dafür entscheiden, seine Herkunft zu leugnen und sich aus allem herauszuhalten. Aber wenn sich das alles so weiterentwickelte wie bisher, wenn sie am Ende auf einen gewaltsamen Konflikt zwischen Menschen und Hexen zusteuerten, würde er immer mit der Frage aufwachen, ob er etwas daran hätte ändern können.
„Eine Bedingung", sagte er leise. „Ich schaffe das nicht allein. Wenn ich das tue, werde ich darauf bestehen, dich so oft wie möglich einzubeziehen."
Adams Mundwinkel zuckte. „Das wird niemand gut finden."
„Deshalb werde ich ja auch König, oder nicht?"
***
Liam wusste, dass sein Mut ihn ebenso schnell wieder verlassen würde, wie er gekommen war. Sobald er sich etwas Zeit ließ, würden die Zweifel kommen. Die Frage, was er da überhaupt tat, wie verrückt das alles war und wie er ernsthaft glauben konnte, dem gewachsen zu sein. Das war der erste Grund, weshalb er Charlie noch im Krankenhaus anrief. Er wollte verhindern, dass er sich am Ende wieder selbst im Weg stand, wenn er den Stein nicht rechtzeitig ins Rollen brachte.
Der zweite Grund war wesentlich banaler. Im Moment war er zwar entschlossen, so gut wie möglich das zu tun, was alle von ihm erwarteten, aber er hatte keinen Schimmer, wie er dabei vorgehen sollte. Einfach in eine Ratsversammlung der Hexen platzen und verkünden, dass er sein Erbe antreten wollte? Zu melodramatisch. Abgesehen davon, dass er ohnehin nicht so weit kommen würde.
Charlie hatte überrascht geklungen, aber sie hatte weder gefragt, was zu diesem Umschwung geführt hatte, noch ob er sich wirklich sicher war. Neben der Freude hatte noch etwas in ihrer Stimme gelegen, das Liam nicht deuten konnte. Irgendetwas beschäftigte sie und er hatte das starke Gefühl, dass das unweigerlich auch ihn betreffen würde.Auf dem Weg zurück in die Old Town schrieb er seiner Mum eine Nachricht. Er bezweifelte, dass sie inzwischen öfter auf ihr Handy sah, aber ohne ihren genauen Aufenthaltsort zu kennen, wusste er auch keine andere Möglichkeit, sie zu kontaktieren. Magische Anrufe über Zauberstäbe hatte ihm noch niemand beigebracht und zuhause lauerten vermutlich noch immer Reporter darauf, dass er auftauchte. Mit etwas Glück war sie sowieso bei den anderen Hexen.
Charlie wartete an dem vereinbarten Treffpunkt. Sie hatte die Hände tief in die Taschen ihrer zu großen Jacke vergraben und lehnte am Häuschchen der Bushaltestelle. Obwohl ihr Zauberstab nicht zu sehen war, hielten die Leute um sie herum einen deutlichen Abstand. Liam musste daran denken, dass sie ebenso wie er selbst auf diesen Videos zu sehen war, und verfluchte sich im Stillen für seine Gedankenlosigkeit. Er war nicht der Einzige, den die Menschen plötzlich anstarrten.
„Ich hätte nicht gedacht, so schnell wieder von dir zu hören", begrüßte sie ihn.
Liam gab sich einen Ruck. Dann setzte er seine Kapuze ab. „Adam liegt im Krankenhaus. Offenbar hat ihn eine Magieblase erwischt."
Bildete er es sich ein oder wurde sie eine Spur blasser? „Das tut mir leid. Wir geht es ihm?"
„Es ist nochmal gut gegangen", erwiderte er. „Du siehst nicht überrascht aus. Wusstet ihr, dass hier Magieblasen auftauchen?"
Sie gingen nebeneinander über die Waverly Bridge. Links von ihnen tauchte das Scott-Monument auf, das schimmerende Grau des Portals darin wie eine stumme Erinnerung. Charlie bog in die entgegengesetzte Richtung ab, zögerte, und kehrte wieder um. Liam fragte nicht, warum sie sich doch für das Monument entschieden hatte.
„Jack und ich sind heute in eine hineingelaufen", antwortete sie. „Nachdem ich bei dir war. Wir haben dem Rat davon erzählt und sie hörten offensichtlich zum ersten Mal davon. Falls es schon vorher welche gab, hat niemand darüber berichtet."
„Es wird nicht bei diesen beiden bleiben, oder? Es wird schlimmer werden, wie in Tir na nOg."
„Ja", sagte sie, „und nein. In Tir na nOg kannten wir die Ursache für die Störungen. Der Portalzauber war so mächtig, dass er alles durcheinander gebracht hat. Es ist noch unklar, was die Ursache hier war. Möglich, dass das tatsächlich Ausnahmen waren."
Liam musterte sie aus den Augenwinkeln. Je länger sie durch die belebten Straßen gingen, desto besser gelang es ihm, die Aufmerksamkeit der anderen Menschen auszublenden – vorausgesetzt er konzentrierte sich ausschließlich auf ihr Gespräch. Charlie dagegen beobachtete beständig die Umgebung, als würde sie hinter jeder Ecke eine Gefahr vermuten. „Was sagt der Rat dazu?"
„Keine Ahnung."
„Was?"
„Sie haben keinen Grund, mich über solche Dinge zu informieren. Jetzt, wo die Gefahr gebannt zu sein scheint, bin ich wieder eine Anwärterin zur Custorin. Nicht mehr und nicht weniger." Bitterkeit hatte sich in ihre Stimme geschlichen. Charlie lachte kurz, als hätte sie es selbst bemerkt. „Für den Rat zählt nicht, was ich oder Jack oder sonst wer während des Widerstands geleistet hat. Sie glauben nicht, dass wir einen sinnvollen Beitrag leisten können, der über das Ausführen von Aufgaben hinausgeht."
Oder sie wollen niemanden dabeihaben, der eine unbequeme Meinung vertreten könnte, überlegte Liam. In dem Fall würde es schwieriger als gedacht werden, sein Vorhaben umzusetzen. „Das heißt, du weißt gar nichts? Was mit meinem Onkel und Fulton ist, oder wohin dieses Portal nun führt?"
Charlie seufzte. „Ich weiß, dass die meisten Hexen in dem provisorischen Lager auf dem Calton Hill leben und dem Rat ein Flügel im St Andrew's House zugestanden wurde. Der größte Teil von uns wartet ruhig die nächsten Schritte ab, aber einige werden bereits ungeduldig. Es herrscht große Unsicherheit, was tatsächlich am 12. Juli geschehen ist, was wir nun tun werden und wie die Menschen zu uns stehen. Das ist das, was dir jeder von uns sagen kann, der genau hinhört. Was den Rest angeht, werden nur Wenige eingeweiht. Und die hüten sich, etwas auszuplaudern."
Als sie auf die Princes Street abbogen, hatte sich eine kleine Menschenmenge vor dem Scott-Monument versammelt. Liam erkannte mit Schrecken, dass sie Plakate hochhielten. Wir haben ein Recht auf die Wahrheit, stand da, und Was passiert mit unserem Zuhause? Er verlangsamte unwillkürlich seine Schritte, in der Hoffnung, verstehen zu können, was sie riefen.
Charlie wechselte auf seine andere Seite, sodass sie zwischen ihm und den Demonstranten ging. Als sie den Zauberstab zog, fuhr Liam zusammen. Er griff nach ihrer Hand und schob sie zurück unter ihre Jacke, ohne darüber nachzudenken.
„Was soll das?", zischte er. „Das sind friedliche Demonstranten!"
„Ich habe nicht vor, sie anzugreifen", erwiderte sie ruhig. „Aber wenn sie sich dazu entschließen, werde ich auch nicht zögern, uns zu verteidigen."
„Das weiß hier niemand. Wenn jemand für Unruhe sorgen will, wird er nach einem Grund dafür suchen – und den lieferst du ihm, indem du eine Waffe ziehst, Charlie!"
Das ist keine Waffe, schien sie sagen zu wollen, überlegte es sich dann aber offensichtlich anders. Sie waren inzwischen genau auf Höhe der Demonstranten. Einer von ihnen sah sie an, löste sich aus der Gruppe und kam auf sie zu. Liam blieb stehen und spürte, wie Charlie sich versteifte. Als er sie losließ, verschränkte sie die Arme, den Zauberstab darunter verborgen.Der Demonstrant blieb eine Armeslänge von ihnen entfernt stehen. Sein Blick glitt über Charlie, die sich schräg vor Liam geschoben hatte, und blieb dann bei ihm hängen. „Verzeihung, aber Sie sind doch Liam Balfour, richtig? Wir haben Sie in den Nachrichten gesehen."
„Ja." Liam holte tief Luft. Er hatte sich immer noch nicht an den Namen seines Vaters gewöhnt – doch es war auch zu spät, um darauf hinzuweisen, dass er eigentlich Gowdie hieß. Er erinnerte sich daran, warum er hier war. Solche Situationen würden an der Tagesordnung sein, wenn er nicht wieder einen Rückzieher machte. Zeit, sich zumindest daran zu gewöhnen. „Kann ich etwas für Sie tun?"
„Sie sind wirklich ein Hexer? Und deren zukünftiger König?"
Er nahm am Rand wahr, dass weitere Passanten stehen blieben. „Sieht ganz danach aus."
Der andere Mann erwiderte sein Lächeln zögernd. „Vielleicht ... könnten Sie uns ein paar Fragen beantworten. Seit einer Woche ist dieses Portal mitten unter uns und von der Regierung kam nicht mehr als eine vage Stellungnahme."
„Liam", raunte Charlie, „wir sollten wirklich gehen."
Er überging ihre Bemerkung. Jetzt zu verschwinden, brachte er nicht über sich. Dafür erinnerte er sich zu gut daran, wie verwirrt er gewesen war, als Charlie ihm von der Magie erzählt hatte. Es war frustrierend, wenn einem niemand auf all die Fragen antwortete, die einem im Kopf herumschwirrten. „Ich kann es versuchen. Sie müssen verstehen, dass im Augenblick noch alles etwas ... chaotisch ist. Es ist nicht einfach, wenn zwei so unterschiedliche Welten plötzlich gezwungen sind, miteinander zurechtzukommen."
„Wohin führt das Portal?", fragte der Mann. „Warum halten Sie jeden fern, der sich ihm nähert?"
Charlie wurde zunehmend unruhiger. Die anderen Menschen hatten inzwischen einen Kreis um sie geschlossen, und Liam hatte selbst Mühe, diese Tatsache nicht als Bedrohung wahrzunehmen. Noch hielten sie gute drei Meter Abstand – das würde reichen müssen.Liam räusperte sich. „Wir wissen selbst nicht genau, was auf der anderen Seite des Portals ist. Es wurde mit der Absicht geschaffen, Zugang zu einer neuen Heimat für die Hexen zu sein, aber etwas Derartiges gab es noch nie in unserer Geschichte. Wir müssen erst sichergehen, dass es ungefährlich ist, das Portal zu benutzen. Deshalb ist es umso wichtiger, dass niemand vorher hindurchgeht."
„Wenn du so weiter machst, kannst du nicht mehr zurück", flüsterte Charlie.
„Ich weiß", antwortete Liam ebenso leise. „Deshalb tue ich es."
Ihm war klar geworden, dass der Rat ihn nicht so einfach akzeptieren würde, wie gehofft. In Tir na nOg hatten sie schon deutlich gemacht, nur dann mit ihm zusammenzuarbeiten, wenn er sich nicht in ihre Regierungsgeschäfte einmischte. Wenn er etwas erreichen wollte, durfte er ihnen nicht die Wahl lassen, ob sie ihn einbezogen oder nicht.
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