1. Liam
Liam starrte das Portal so lange an, bis seine Augen tränten – und selbst dann konnte er den Blick nicht von der grauen Spiegelfläche lösen. Dutzende leuchtende Punkte bewegten sich vor und hinter seinem Spiegelbild hin und her. Hexen, die mit erhobenem Zauberstab nach bekannten Gesichtern suchten oder sich ehrfürchtig dem Portal näherten. Die zugehörigen Geräusche schienen ihn erst Sekunden später zu erreichen. Einen Moment lang fragte er sich, ob der Zauber schief gegangen war; ob er selbst irgendwie auf der anderen Seite des Portals gelandet war, während in Edinburgh alle nach ihm suchten.
Dann stolperte jemand über sein ausgestrecktes Bein, stützte sich an seiner Schulter ab und murmelte eine Entschuldigung. Liam sah ihm stirnrunzelnd nach. Der Gedanke, dass er im Gegensatz zu den meisten anderen Hexen noch immer auf dem Boden saß, sickerte langsam in sein Bewusstsein. Er konnte sich nicht erinnern, wie er dorthin gekommen war. Eben noch hatte er wie gelähmt zugesehen, wie Lindsay Charlie von dem Scott-Monument weggezerrt hatte, und dann ... ein heller Blitz und eine Druckwelle, die ihn von den Füßen geschleudert hatte. Er erinnerte sich, beim Anblick des Portals wieder aufgestanden zu sein. Von irgendwoher war Jack aufgetaucht, sein merkwürdiges, geflügeltes Kätzchen auf dem Arm, und sie waren gemeinsam zu Lindsay und Charlie gelaufen. Wie er es geschafft hatte, von da aus wieder auf dem Boden zu landen, war ihm ein Rätsel.
Sein rechtes Bein brannte, als er sich mühsam aufrichtete. Gefolgt von einem dumpfen Schmerz, der sich von seiner Schulter über die Hälfte seiner Brust und den gesamten Rücken zog. Die Finger seiner linken Hand waren so fest um seinen Zauberstab verkrampft, dass er es nicht schaffte, diesen Griff zu lösen.
„Liam." Eine Berührung an seinem Arm.
Als er sich umdrehte, ließ Charlie die erhobene Hand sinken. Das weiße Licht ihres Zauberstabs verlieh ihr eine geisterhafte Blässe, ihre Haare und Kleidung waren voller Dreck und Gras, zerzaust und zerrissen. Kratzer zogen sich über ihren Hals und ihre Arme, ihre Hände und Knie waren aufgeschürft. Aber das war es nicht, was Liam beunruhigte. Das war noch immer Charlie, die Kriegerin, die ihr Leben dafür gegeben hätte, ihre Welt zu retten. Die Charlie, die allein losgezogen war, um ihn aufzuspüren und dazu zu bringen, ihr zu helfen, ungeachtet aller Gefahren, denen sie sich damit ausgesetzt hatte. Die Charlie, die ihm geholfen hatte, seine Magie kennenzulernen und einzusetzen. Die Charlie, an deren Seite er mehrmals auf der Schwelle des Todes balanciert war, weil sie es sich in den Kopf gesetzt hatte, alles und jeden zu schützen. Die Charlie, die ihn inmitten einer solchen Situation geküsst hatte.
Als sie ihn jetzt ansah, spiegelte sich pure Verzweiflung in ihrem Blick. Zwei, drei Atemzüge lang ließ sie zu, dass Liam sah, wie es ihr tatsächlich ging. Dann wandte sie den Blick ab, atmete tief ein und setzte eine unergründliche Miene auf. Dieser kurze Moment hatte gereicht, um ernsthafte Sorge in Liam zu wecken. Die verzweifelte Charlie kannte er noch nicht, jedenfalls nicht in diesem Ausmaß. Das war kein gutes Zeichen.
„Ich habe versagt", sagte sie tonlos. „Es war alles umsonst. Ich habe es nicht geschafft, sie aufzuhalten. Und jetzt ist vermutlich nicht nur meine Welt so gut wie zerstört, sondern deine auch auf dem besten Weg dorthin."
Liam räusperte sich. Etwas in ihm drängte darauf, Charlie so fest an sich zu drücken, dass sie beide nicht mehr wussten, wo der eine aufhörte und der andere begann. Aber er hatte das starke Gefühl, dass sie ihm das übel nehmen würde. Nicht, weil ihr die Umarmung selbst unangenehm wäre, sondern weil sie dann die Fassade von Stärke nicht mehr aufrecht erhalten könnte.
„Wir", korrigierte er mit rauer Stimme. „Nicht du hast versagt. Wir. Du, ich, Jack, Lindsay, die anderen Custoren, sogar Adam. Wir haben es alle zusammen nicht geschafft, den Zauber aufzuhalten. Das ist nicht deine Schuld, Charlie."
Sie schüttelte den Kopf. „Wenn ich schneller reagiert oder Fulton bei der ersten Gelegenheit ausgeschaltet hätte ... Vielleicht hätte auch das nicht gereicht, um den Zauber abzubrechen. Aber vielleicht wäre er dann in Tír na nÓg geblieben, anstatt in Edinburgh zu landen."
Liam öffnete den Mund, um ihr zu widersprechen, doch er fand nicht die richtigen Worte. Objektiv betrachtet, wusste Charlie ebenso gut wie er, dass niemand von ihnen allein die Schuld an diesem ganzen Chaos traf. Abgesehen vielleicht von seinem Onkel, der den verfluchten Zauber überhaupt erst in Gang gesetzt hatte. Aber Charlie hatte es zu ihrer persönlichen Mission gemacht, Tír na nÓg zu retten. Egal, wer noch daran beteiligt war, sie würde sich immer die Schuld dafür geben, daran gescheitert zu sein.
„Was tun wir jetzt?", fragte er stattdessen.
„Ich weiß es nicht", antwortete sie hilflos. „So weit habe ich nie gedacht. In meinen Überlegungen war nie Platz für ... diesen Fall."
„In meinen dafür schon", sagte Lindsay hinter ihnen. „Obwohl es mir auch lieber wäre, wenn das diejenigen tun würden, die für solche Dinge zuständig sind."
Liam ahnte, dass seine Miene die Erleichterung in Charlies Augen spiegelte. Sie hatten genug getan. Den Rest konnten sie getrost den vollwertigen, erfahrenen Custoren überlassen. Zumindest den schwierigen Teil, den, der mit Entscheidungen und Verantwortung verbunden war. Wenn Lindsay ihnen dennoch einen Auftrag geben wollte, konnte er damit leben. Doch als er sich vollends zu dem älteren Mann umdrehte, beschlich ihn ein ungutes Gefühl.
„Fürs erste sollten wir uns dem dringendsten Problem zuwenden." Lindsay musterte Liam mit einem durchdringenden Blick. „Sie kommen mit. Sofort."
Er drehte auf dem Absatz um, ohne seine Aufforderung zu begründen oder näher auf das Problem einzugehen. Liam folgte ihm unschlüssig. „Wozu?"
Als er keine Antwort erhielt, wechselte er einen Blick mit Charlie. Sie hielt sich dicht hinter ihm, zuckte jedoch nur mit den Schultern. Falls sie ahnte, warum Lindsay explizit Liam und nicht sie beide angesprochen hatte, sagte sie nichts dazu. Sie war es vermutlich gewöhnt, dass ihr Mentor unergründliche Sachen tat und erwartete, dass man ihm einfach vertraute. Aber Liam war nicht Charlie, und es gefiel ihm überhaupt nicht, dass sie geradewegs auf die Straße vor dem Monument zugingen.
Er blieb stehen. „Ich bin nicht einer Ihrer Schüler. Und ehrlich gesagt hatte der Tag schon zu viele unangenehme Überraschungen, um noch eine von Ihnen hinzuzufügen."
Lindsay hielt inne. Er fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht und murmelte irgendetwas, das Liam nicht verstand. Dann wandte er sich ihnen vollständig zu. „Hören Sie, Gowdie, ich bin zu müde, um mit Ihnen zu diskutieren. Sehen Sie die Gruppe Menschen dort vorne? Sie haben eben mitangesehen, wie mitten in ihrer Stadt ein mehrere Meter hohes magisches Portal entstanden ist, nachdem vier Dutzend Hexen gegeneinander gekämpft haben. Der Zauber hat mindestens den Strom, vielleicht sogar alle elektronischen Geräte der gesamten Stadt lahmgelegt. Keiner dieser Menschen ist je zuvor mit echter Magie in Kontakt gekommen. Sie sind verängstigt, verwirrt und haben keine Ahnung, was sie von alldem halten sollen. Als wäre das nicht schon schlimm genug, werden in den nächsten Minuten immer mehr von ihnen eintreffen, um zu sehen, was hier los ist. Irgendjemand muss jetzt vor sie treten und ihnen eine Erklärung geben."
„Und das soll ausgerechnet ich tun?"
„Im Gegensatz zu uns anderen sind Sie hier aufgewachsen. Sie wissen, was die Menschen hier bewegt und wie man sie erreichen kann. Und Sie hatten schon das Vergnügen, als Unwissender von Weir mit der Existenz von Magie überfallen zu werden. Sie kennen beide Welten. Es gibt niemanden, der besser für diese Aufgabe geeignet ist als Sie."
Liam trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Schuldgefühle wallten in ihm auf, weil er genau wusste, dass Lindsay mit jeder seiner Aussagen ins Schwarze traf. Ja, er hatte sein ganzes Leben in Edinburgh verbracht und ja, bevor Charlie ihm eröffnet hatte, dass er ein Hexer war, kannte er Magie nur aus Büchern und Filmen. Aber das ... war zu viel. „Ich kann das nicht", antwortete er. „Ich bin kein guter Redner. Und selbst wenn ich es wäre, wüsste ich nicht, wie ich jemandem erklären soll, was in den letzten Stunden hier passiert ist. Ich weiß ja nicht einmal, ob es klug wäre, die Existenz der Hexen aufzudecken."
„Ich glaube nicht, dass sich das jetzt noch verheimlichen lässt", sagte Charlie leise. „Sie werden sich zusammenreimen können, dass das nichts war, was sie als natürlich bezeichnen würden. Aber alles, was wir jetzt tun, wird einen Einfluss darauf haben, als was sie uns wahrnehmen: Als potenzielle Freunde oder als Feinde, denen man den Krieg erklären sollte."
„Ich verlange ja nicht, dass Sie ihnen Rede und Antwort zu allen Fragen stehen, die sie haben", fügte Lindsay hinzu. „Erklären Sie ihnen einfach in so wenigen Worten wie möglich, was geschehen ist, damit sie sich keine eigenen Geschichten ausdenken. Wenn Sie nicht weiterkommen, übernehme ich. Aber versuchen Sie es wenigstens."
Liam sah wieder zu den Menschen hinüber. Viele von ihnen hatten die Taschenlampen ihrer Handys eingeschaltet und sich zu engen Gruppen zusammengefunden. Irgendwo dort musste Adam noch herumlaufen und versuchen, sie davon abzuhalten, etwas Dummes zu tun. Sein Freund hatte die Nachricht über die Existenz von Magie und Hexen erstaunlich gefasst aufgenommen, aber bei ihm hatte Liam auch mehr Zeit für eine ausführliche Erklärung gehabt. Und es war mit Sicherheit leichter, das jemandem zu glauben, den man seit sechs Jahren als besten Freund bezeichnete. Bei dem Gedanken, das Ganze einer wildfremden Menschenmenge zu vermitteln, begannen seine Hände zu zittern. Er sollte Nein sagen. Wenn sein Verantwortungsbewusstsein nicht schon längst entschieden hätte, dass Lindsay recht hatte.
„Okay", sagte er widerstrebend. „Aber Sie werden mich nicht allein dort stehen lassen."
Lindsay nickte und übernahm erneut die Führung. Mit jedem weiteren Schritt verblassten das Portal und die Hexen hinter ihnen in Liams Wahrnehmung stärker, bis er nur noch die wild diskutierende Menschenmenge vor sich sah und hörte. Lindsay hatte eine Kugel aus Licht erzeugt, die unmittelbar über ihnen schwebte und nach und nach die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich zog. Je mehr von ihnen sie bemerkten, desto ruhiger wurde es – bis sie schließlich nur noch wenige Meter von ihnen entfernt waren und angespanntes Schweigen über der Straße lag.
Als Liam stehen blieb, positionierten sich Charlie und Lindsay rechts und links hinter ihm. Ein junges Mädchen in der ersten Reihe zückte ihr Handy und richtete es auf ihn, gefolgt von vier, fünf, zehn anderen. Liam schluckte mühsam und dachte daran, dass spätestens bei seinen ersten Worten noch mehr Leute auf den Gedanken kommen würden, diesen Moment filmen zu müssen.
„Sie fragen sich sicher alle -"
„Lauter!", unterbrach ihn jemand von weiter hinten. „Wir wollen auch etwas verstehen!"
„Sie fragen sich sicher alle", wiederholte Liam zögernd, „was hier vorgefallen ist. Ich fürchte, so genau kann ich Ihnen das auch nicht erklären. Es mag völlig verrückt klingen, aber es gibt keine natürliche Erklärung dafür. Weil es ... um Magie geht. Echte Magie, keine Illusionen oder Taschenspielertricks."
Er hielt inne. Ein Teil von ihm hatte sich darauf gefasst gemacht, dass ihn wieder jemand unterbrechen würde. Dass jemand „So ein Quatsch, du bist verrückt!" schreien oder ihn auslachen würde. Aber nichts dergleichen geschah. Die Menge war weiterhin ungewöhnlich still. Kein Tuscheln, kein Murmeln, keine Aufschreie. Ein paar Blicke wanderten zu der Lichtkugel, die noch immer über Liam schwebte – sonst rührte sich niemand. Ihm wurde voller Unglauben klar, dass sie tatsächlich alle darauf warteten, dass er weitersprach.
„Das hier", er hob mit einem schiefen Lächeln den Zauberstab, „ist auch noch alles neu für mich. Bis vor vier Wochen wusste ich nicht, dass echte Hexen existieren – geschweige denn, dass ich zu ihnen gehöre. Ich habe erst die Person, die mich eingeweiht hat, danach mich selbst für verrückt gehalten, und ich schätze, dass es einigen von Ihnen auch so geht. Die meisten Hexen leben nicht in Edinburgh, sondern in einer Parallelwelt, die sie selbst erschaffen haben und Tír na nÓg nennen. Als der Platz in dieser Welt zu knapp wurde, hat ein Teil von ihnen beschlossen, eine neue zu erschaffen ... und das Ergebnis sehen Sie hier."
Liam deutete auf das Portal, in der Hoffnung, währenddessen einen Gedankenblitz zu haben. Er wollte sie nicht anlügen, aber er wollte die Hexen auch nicht als mutwillige Eindringlinge darstellen. „Heute ist viel geschehen, was so nicht geplant war. Wir wissen nicht, ob das Portal wirklich in eine neue Welt führt. Oder welche Auswirkungen es möglicherweise auf Edinburgh haben wird. Sicher ist aber, dass Tír na nÓg kurz davor ist, endgültig zerstört zu werden. Es ist nicht meine Heimat, denn ich bin hier aufgewachsen, aber ... ich habe in den letzten Wochen eine Menge Hexen kennengelernt. Abgesehen von der Magie gibt es nichts, dass uns voneinander unterscheidet. Sie ... wir kommen als Flüchtlinge nach Edinburgh. Als friedliche Flüchtlinge. Es wird nicht einfach, aber ich glaube, wenn beide Seiten das wollen, dann ... können wir das gemeinsam schaffen."
Mehr fiel ihm nicht ein. Die Stille nach seiner Rede behagte ihm nicht, aber es erschien ihm auch falsch, noch ein „Danke" oder etwas Ähnliches hinzuzufügen. Er riskierte einen kurzen Blick zu Charlie, die ihm ein Lächeln schenkte.
„Wenn das wirklich wahr ist", rief ein Mann, „woher sollen wir dann wissen, dass ihr tatsächlich so friedlich seid, wie du behauptest? Wer garantiert uns, dass ihr nicht einfach unsere Welt nehmt, nachdem ihr eure zerstört habt? Wer bist du überhaupt? Nichts für ungut, aber du siehst nicht so aus, als könntest du für alle Hexen sprechen."
Zustimmendes Gemurmel erhob sich. Liam biss die Zähne zusammen und überlegte fieberhaft, auf welche dieser Fragen er überhaupt antworten sollte. Vor diesem Moment hatte er sich gefürchtet. Es war der Augenblick, der darüber entscheiden würde, wie die Menschen die Hexen von nun an wahrnahmen – und er wollte nicht derjenige sein, der die Waage in die falsche Richtung sinken ließ.
Neben ihm bewegte sich Lindsay. Er hob eine Hand, woraufhin das Murmeln abrupt verstummte. Dann trat er einen Schritt vor. „Niemand kann Ihnen diese Garantie geben. Wir bitten Sie darum, uns für den Moment in dieser Hinsicht zu vertrauen – so, wie wir darauf vertrauen, dass Ihr Interesse an einem friedlichen Miteinander ebenso groß ist wie unseres. Was Ihre letzte Frage angeht: Der Name dieses jungen Mannes lautet Liam Balfour und er ist unser zukünftiger König. Damit hat er jedes Recht, für unser Volk zu sprechen."
***
Liam schaltete den Fernseher aus. Er wollte das Folgende nicht auch noch sehen, obwohl sich ohnehin jede Sekunde in sein Gedächtnis gebrannt hatte. Die Fragen, die von der Menge auf ihn einprasselten, sein eigenes Erschrecken, als ihm die Tragweite von Lindsays Worten bewusst geworden war - alles festgehalten auf den Videos, die in dieser Nacht aufgenommen und dann überall verteilt wurden. In den Nachrichten lief nichts anderes mehr, auf Youtube hatte das Video schon nach drei Stunden eine Millionen Klicks und täglich erschienen neue Artikel zu den Themen Hexen, Magie und ihm selbst in den Zeitungen.
Dabei war das Ganze bereits eine Woche her.
Er hatte nicht allzu viel von dem mitbekommen, was danach geschehen war. Die meiste Zeit hatte er sich in Adams kleiner Wohnung versteckt – die von ihm und seiner Mum hatten die Reporter innerhalb eines Tages ausfindig gemacht – und versucht, nicht daran zu denken, was ihn draußen erwarten würde. Wenn er gewusst hätte, dass Lindsay aller Welt verkünden würde, wer er war, hätte er sich nie dazu bereit erklärt, diese Rede zu halten. Er war noch nicht bereit dafür. Er war es noch nicht gewesen, als Charlie ihm berichtet hatte, dass sein Vater der letzte und sein Onkel der amtierende König war, und er als rechtmäßiger Erbe Anspruch auf den Thron erheben sollte. Wenn er ehrlich war, hatte er seine Zweifel, jemals bereit dafür zu sein.
Normale Thronfolger wurden ihr Leben lang darauf vorbereitet, König zu werden. Sie wussten, was sie erwartete, wie sie damit umgehen mussten, und wie sie sich in welchen Situationen zu verhalten hatten. Liam wäre schon damit überfordert, wenn ihm jemand mitteilen würde, dass er ein lang verschollenes Mitglied der englischen Monarchie wäre. Aber zu wissen, dass jemand von ihm erwartete, ein Volk von Hexen anzuführen, obwohl er erst ein paar Wochen von ihnen wusste, jagte ihm eine solche Angst ein, dass er lieber so tat, als wüsste er von alldem nichts.Ihm war klar, dass das nicht lange gut gehen würde. Früher oder später würde irgendwer oder irgendwas ihn dazu zwingen, zu handeln. Und wenn es sein eigenes Gewissen war.
Die Tür flog so unvermittelt auf, dass Liam zusammenfuhr. Als Charlie einen Augenblick später die Wohnung betrat, richtete er sich auf. Sie hatte ihn bisher nur einmal in dieser selbst gewählten Isolation besucht. „Hallo, Charlie."
„Hi." Sie schob einen vollen Müllsack mit dem Fuß aus dem Weg. „Wie lange willst du dich noch hier verstecken?"
„Was, kein Small Talk? Kein Wie gehts dir?, kein Kommentar zum Wetter?", erwiderte er. „Normalerweise fällt man mit solchen Fragen nicht einfach mit der Tür ins Haus."
Charlie hob eine Augenbraue. „Du weichst mir aus."
„Weil ich die Antwort nicht kenne. Wenn ich könnte, würde ich so lange hier bleiben, bis niemand mehr der Meinung ist, ich wäre zukünftiger König von irgendwas."
„Dann wirst du hier sterben", antwortete sie trocken.
Er zuckte mit den Schultern. Sie mussten dieses Gespräch nicht führen, das war ihnen beiden klar. Sie wussten auch so, was in dem jeweils anderem vorging, dafür kannten sie einander in dieser Hinsicht mittlerweile gut genug. Es auszusprechen sorgte lediglich dafür, dass keiner mehr behaupten konnte, etwas anderes angenommen zu haben. „Du musst dich nicht bemühen. Lindsay hat es schon versucht, Adam, sogar meine Mum wollte mich davon überzeugen, dass ich mein Schicksal akzeptieren müsse."
„Erfolglos, offensichtlich."
„Was daran liegt, dass ich nicht an Schicksal glaube. Erst recht nicht daran, es akzeptieren zu müssen." Liam beobachtete, wie Charlie begann, das Zimmer aufzuräumen. Sie blieb in der Mitte des Raums stehen und ließ einzelne Gegenstände dorthin schweben, wo sie ihrer Meinung nach hingehörten. Er hatte einmal daran gedacht, etwas Ähnliches zu probieren – und es dann doch sein gelassen. Sein Zauberstab lag seit einer Woche unangetastet auf dem Küchentisch.
„Tue ich auch nicht, Hoheit. Ich glaube nur daran, dass unsere Entscheidungen bestimmen, wer wir sind und was wir tun müssen."
Er seufzte. „Nenn mich nicht so."
„Warum nicht?", erwiderte sie. „Es ist dein legitimer Titel. Oder soll ich Majestät sagen?"
Liam stand auf. Genau deshalb hatte er gehofft, dass Charlie sich noch Zeit mit ihrem Besuch lassen würde. Sie hatte es geschafft, ihn beim ersten Mal dazu zu bewegen, seine Herkunft anzuerkennen und vor dem Rat des Widerstands den Pseudo-König zu mimen, der seinen Onkel herausforderte. Und sie hatte die größten Chancen, es ein zweites Mal zu schaffen. „Es ist mir egal, ob das mein legitimer Titel ist. Ich habe nie um ihn gebeten und ich will ihn nicht."
„Mit einem Geburtsrecht ist es wie mit der Familie, Hoheit: Man bekommt es, ohne danach zu fragen, und kann es nicht einfach umtauschen oder zurückgeben." Nachdem sie auch das letzte herumliegende Buch in ein Regal schweben lassen hatte, blieb Charlie vor Liam stehen und verschränkte die Arme. „Ich habe dich eine ganze Woche in Ruhe gelassen, weil alle gesagt haben, dass du diese Zeit für dich brauchst."
„Aber?"
„Aber meiner Meinung nach brauchst du keine Zeit, sondern jemanden, der dich aus deiner Erstarrung reißt. Sonst versteckst du dich wirklich dein gesamtes Leben – oder zumindest so lange, bis du nicht mehr wie du selbst aussiehst."
Ihr Blick zuckte zu seinem Kinn. Liam widerstand mühsam dem Drang, über die Bartstoppeln zu streichen. „Und was wäre, wenn ich genau das beabsichtige?", antwortete er. „Versteh doch endlich ... Das ist nicht meine Welt. Das ist nicht mein Leben. Das bin nicht ich."
Charlie verzog keine Miene. Sie trat näher, bis nicht mehr als eine Handbreit sie voneinander trennte, und sah ihm so intensiv in die Augen, als würde sie etwas darin suchen. Sie versuchte nicht, ihm zu widersprechen – das war positiv. Liam konnte sich ihre Argumente auch so denken: Du kannst zaubern, also ist es unweigerlich auch deine Welt, ob du nun willst oder nicht.
Beim ersten Mal hatte sie ihn damit geködert, zaubern lernen zu können. Er wusste, dass er in dem Moment verlieren würde, in dem sie ihn dazu brachte, erneut Magie zu wirken. Als sie den Zauberstab hob, wandte er den Blick ab und trat einen Schritt zurück. Doch anstatt irgendetwas Übermenschliches zu tun, betrachtete sie das dunkle Eichenholz lediglich. Dann seufzte sie und Liam riss sämtliche mentale Schutzschilde hoch.
Jetzt kommts, dachte er. Ihr letzter Trumpf. Wenn ich dem widerstehen kann ...
„Wir brauchen dich", sagte Charlie sehr leise. „Wir brauchen deine Hilfe, Liam. Es herrscht schon jetzt ein einziges Chaos, aber wenn du hilfst, können wir das noch zum Guten wenden."
Er schüttelte den Kopf. Das war vorherzusehen gewesen. „Erwartest du wirklich, dass ich noch einmal darauf hereinfalle?"
„Ich bin nicht hier, um dich hereinzulegen", antwortete sie. „Wir brauchen dich wirklich."
„Ich weiß." Liam ging an ihr vorbei zum Fenster und starrte nach draußen, ohne tatsächlich etwas zu sehen. Der hilfsbereite Teil in ihm, der, der sich für alles und jeden in seiner Umgebung verantwortlich fühlte, wollte mit ihr gehen. Genauso wie der Teil, der sie glücklich sehen wollte. Und das wusste sie vermutlich besser als er selbst. „Die Frage ist, wen ihr wirklich braucht. Ich helfe euch gern, wenn ich dabei ich selbst bleiben darf. Ein ganz normaler 21-Jähriger, der sein Medizinstudium abgebrochen hat, sich für Mythologie interessiert und noch nicht so richtig weiß, was er mit seinem Leben anfangen will. Oh, und der ein paar einfache Zauber beherrscht, nicht zu vergessen."
Charlie schwieg eine Weile. „Ich mag diesen Liam, aber du vergisst ein paar Dinge. Wir brauchen den Liam, der sich entschlossen hat, ein Held zu sein; der mit mir gegen eine Hydra gekämpft hat, mit nichts als ein paar Büchern als Waffe; der dem Rat des Widerstands klare Forderungen unterbreitet hat, und der den Menschen erklärt hat, was ein magisches Portal in einem ihrer Denkmäler zu suchen hat."
„Du meinst den Prinz." Liam ließ seine Stirn gegen die kühle Fensterscheibe sinken. Er war es leid. Sein Blut, sein angeblich so starkes magisches Erbe war der einzige Grund gewesen, warum Charlie ihn gesucht, Zeit mit ihm verbracht und ihm das Zaubern beigebracht hatte. Es machte keinen Unterschied, dass er diese Erkenntnis schon vor Wochen gehabt hatte. Sein Verstand mochte ihre Entscheidung nachvollziehen können, und doch stieg in ihm jedes Mal dieser tiefe Groll auf, wenn sie ihn allein darauf zu reduzieren schien. „Diesen Liam gibt es nicht."
„Falsch. Du willst glauben, dass es ihn nicht gibt, weil du dich davor fürchtest, dich deiner Verantwortung zu stellen." Sie schnaubte. „Es gab keine magische Transformation in jemand anderen, als du herausgefunden hast, wer dein Vater war. Du warst davor Liam, du warst es danach und du bist es immer noch. Denk mal drüber nach, Hoheit."
Liam erwiderte nichts. Er starrte weiter nach draußen, klammerte sich an dem Fensterbrett fest und betete innerlich, dass sie einfach verschwinden möge. Eine Minute verging. Dann stieß Charlie einige gälische Flüche aus, die Liam nicht einmal dann übersetzen könnte, wenn er es gewollt hätte, und entfernte sich von ihm. Als die Tür hinter ihr zuknallte, sanken Liams Schultern herab.
Er wartete noch eine Weile, bis er glaubte, sich wieder beruhigt zu haben. Als er sich umdrehte, war Adams Wohnung wieder in dem Chaos vor Charlies Ankunft versunken. Liam blinzelte, sah zu seinem Zauberstab auf dem Tisch, dann auf seine Hände und seufzte. Zumindest konnte er sich zurückhalten, bis Charlie gegangen war.
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