The Edge of Sanity pt.1(chanmin)
TRIGGER WARNUNGEN
Gewalt (physische Gewalt, Blut, Verletzen anderer)Missbrauch (emotionale Manipulation, psychische Folter)Sexuelle Spannung (ungesunde Dynamiken)Angst/Panik (psychische Belastung)Dunkle Themen (obsessive Beziehung, Machtspiele)
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Seungmin starrte aus dem kleinen Fenster seines Büros, die Blicke in die grauen Straßen verloren, wo sich die Menschen wie fließende Schatten über den Gehweg bewegten. Die Straßen waren überfüllt, die Autos schoben sich in quälend langsamen Bewegungen voran, doch irgendwie schien es, als würde sich alles um ihn herum in einem trägen, unerreichbaren Rhythmus bewegen. Der kalte Wind strich durch die Fenster, vermischte sich mit dem fernen Duft von Regen, der die ohnehin graue Landschaft in eine düstere Melancholie tauchte. Der Himmel, bleiern und schwer, versuchte verzweifelt, etwas von der Sonne zu erhaschen, doch blieb der Tag in einem Zustand der trägen Stille. Heute war Seungmins erster Tag in der Klinik – nicht nur das, es war sein erster Tag als Therapeut, als Fachmann, der nun offiziell seine Zulassung ausübte. Aber statt der üblichen Aufregung und dem Stolz, der mit einem neuen Kapitel in der Karriere einhergehen sollte, war er von einer schwer fassbaren Leere erfüllt.
Er hatte sich diesen Moment immer anders vorgestellt. Der Gedanke, Menschen zu helfen, hatte ihn über Jahre hinweg angetrieben, und schließlich stand er hier, in diesem renommierten Gebäude, das sich hinter einer Fassade aus Glas und Stahl verbarg – einem Ort, an dem er sich selbst als Teil eines größeren Ganzen gesehen hatte. Doch jetzt, da er in diesem sterilem Büro saß und die ersten Akten vor sich ausbreitete, fühlte sich alles fremd an. Die Wände des Raumes, überflutet von klinischem Neonlicht, drückten sich wie kalte Riegel auf ihn herab, als wollten sie ihn erdrücken. Der Geruch von Desinfektionsmittel, scharf und unangenehm, hing in der Luft und vermischte sich mit der bedrückenden Stille, die den Raum durchzog. Es war ein Ort, der nicht für Menschen geschaffen wurde – ein Ort für Maschinen, für diejenigen, die keine Ängste oder Gefühle hatten. Alles war funktional und perfekt – bis zu dem Moment, in dem er versuchte, sich selbst in diesem System zu finden.
Er nahm einen Schluck von seinem Kaffee, der noch immer die sanfte Wärme des frisch Aufgebrühten in sich trug, aber der Komfort, den er einmal verspürte, war verschwunden. Der Geschmack war jetzt bloß eine Erinnerung an den Moment, in dem alles noch in Ordnung schien. Der bittere Nachgeschmack, der sich auf seiner Zunge ausbreitete, fühlte sich an wie ein Kribbeln, das sich tief in seinen Magen bohrte – eine Erinnerung daran, dass er sich hier nicht zuhause fühlte. Die erste Begegnung mit seinem ersten Patienten stand kurz bevor – Bang Chan. Der Gedanke daran ließ eine Nervosität in ihm aufsteigen, die nicht durch den Kaffeekick beruhigt werden konnte.
„Schwieriger Patient", hatte der Vorgesetzte gesagt, doch die Worte hinterließen nur Fragen. Was bedeutete „schwierig" wirklich? Was hatte dieser Mann, dessen Akte er nun in den Händen hielt, so besonders gemacht? Die Akte selbst war gefüllt mit Vorwürfen, Diagnosen und unzähligen Kommentaren von Ärzten, die diesen Mann entweder als zu gefährlich oder zu instabil empfanden, um mit ihm zu arbeiten. Seungmin wusste, dass die Menschen, die so beschrieben wurden, meist tiefere Wunden in sich trugen, als man im ersten Moment vermuten konnte. Doch je mehr er über Chan las, desto mehr war er sich sicher, dass er hier mehr entdecken würde, als er je erwartet hatte.
Er blickte auf die Uhr – 9:55. Nur noch fünf Minuten, bis der erste Patient hereinkommen würde. Ein letztes Mal betrachtete er die Akte, schloss sie dann jedoch und legte sie in die Schublade seines Schreibtisches. Tief durchatmend, als wolle er den Luftzug der Klinik in sich aufnehmen und etwas von der Anspannung in seinen Schultern lösen, stand er auf. Der Raum um ihn schien zu schrumpfen, je näher er dem Behandlungsraum kam. Sein Herz pochte schneller, die Nervosität setzte sich wie eine körperliche Last auf seine Brust, und doch wusste er, dass er sich dieser Herausforderung stellen musste.
Vor der Tür standen zwei Männer, die aus Sicherheitsgründen laut Klinikprotokollen die Sitzung überwachen mussten. Sie grüßten ihn höflich, und Seungmin erwiderte das Nicken, versuchte, sich ruhig zu halten, obwohl sich die Zitterpartie in ihm fortsetzte. Ein letzter, flüchtiger Blick auf den leeren Raum hinter ihm, dann griff er nach der Türklinke. Als er die Tür öffnete und den Raum betrat, blieb der Atem für einen Moment in seiner Kehle stecken.
Da saß er. Bang Chan. Der Raum war erfüllt von einer seltsamen Spannung, die sofort spürbar war, sobald Seungmin den Raum betrat. Chan saß völlig ruhig da, mit dem Blick auf den Tisch gerichtet, als erwarte er niemanden, als ob er ein ungelöstes Rätsel betrachtete. Es war nicht nur die Stille, die den Raum durchzog – es war auch die Art, wie Chan sich präsentierte. So gelassen, so kontrolliert, dass es fast beängstigend wirkte. Chan war groß, muskulös, jeder Zentimeter seines Körpers zeugte von der Kraft, die hinter seiner äußeren Fassade verborgen lag. Doch was Seungmin wirklich beschäftigte, war nicht die Körperlichkeit des Mannes, sondern der Blick, den er ihm zuwarf. Es war ein Blick, der so scharf und kalt war, dass er tief in Seungmins Seele zu schneiden schien. Dieser Blick ließ ihn sich verletzlich fühlen, als ob er ohne Umschweife erfasst wurde, ohne Schutz, ohne Abwehr.
„Du bist also der Neue, hm?", hörte Seungmin Chan ruhig sagen. Die Stimme war tief, fast schon zu ruhig, die Worte hingen in der Luft, eine Feststellung mehr als eine Frage. Seungmin nickte, ein reflexartiges Nicken, das keine wirkliche Zustimmung bedeutete, eher ein Versuch, nicht den Eindruck von Unsicherheit zu erwecken. Doch der Schauer, der seinen Rücken entlanglief, konnte er nicht verbergen.
„Ja", brachte er leise heraus, seine Stimme zitterte, und er bemühte sich, diesen kleinen Anflug von Nervosität zu verbergen, den er nicht kontrollieren konnte. Langsam setzte er sich, seine Bewegungen vorsichtig, als fürchte er, dass jeder falsche Schritt ihn tiefer in das Labyrinth führen würde, dessen Ausgänge noch immer im Nebel lagen.
„Mein Name ist Seungmin. Ich werde ab heute mit dir arbeiten."
Chan reagierte nicht sofort. Doch als er sich etwas aufrichtete, wurde die Atmosphäre zwischen ihnen noch dichter. Chan war nicht hier, um Hilfe zu suchen, das spürte Seungmin sofort. Er saß da, als ob er ein Spiel spielte, dessen Regeln er selbst bestimmte, während Seungmin noch immer versuchte, die Regeln zu entschlüsseln.
„Du hast dich also entschieden, mir zu helfen", sagte Chan mit einem spöttischen Lächeln, das wie ein scharfes Messer in die Stille schnitt. „Ich hoffe, du bist nicht enttäuscht, wenn du feststellst, dass du nicht mehr derjenige bist, der das Spiel spielt."
Seungmin wusste, dass er in einem Spiel war, und er war sich nicht sicher, ob er die Kontrolle je wiederbekommen würde. Doch mit aller Entschlossenheit, die er aufbringen konnte, erwiderte er ruhig: „Es geht nicht darum, wer das Spiel spielt. Es geht darum, zu verstehen, was dich verletzt und wie wir damit umgehen können."
Das Lachen, das darauf folgte, war kalt und hohl, wie ein Echo in einer leeren Halle. „Verstehen?", wiederholte Chan mit einem schneidenden Ton. „Was du verstehst, ist, dass du keine Ahnung hast, mit wem du es hier zu tun hast, oder?"
Es war nicht die Frage selbst, die Seungmin beunruhigte – es war die Art und Weise, wie sie ausgesprochen wurde. Es war, als könnte Chan in ihm lesen, als könnte er all die verborgenen Ängste, all das, was er nie ausgesprochen hatte, sehen. Und irgendwie hatte Seungmin das Gefühl, dass dieser Mann, so unnahbar er auch sein mochte, bereits wusste, dass er längst in das Spiel eingetreten war, ohne es zu merken.
„Vielleicht hast du recht", sagte Seungmin, versuchte, sich zusammenzureißen und ein leichtes Lächeln aufzusetzen, das sich jedoch eher wie eine Maske anfühlte. „Aber das bedeutet nicht, dass wir es nicht versuchen können."
„Versuchen?", wiederholte Chan, ein Lächeln an den Lippen, das nichts Gutes verhieß. „Glaubst du wirklich, du kannst mich ändern, Seungmin? Du bist nicht der erste, der das dachte, und du wirst auch nicht der letzte sein."
Seungmin schluckte schwer, doch er ließ sich nicht entmutigen. Die Worte, die er aussprach, waren ruhig, aber tief in ihm brodelte etwas – vielleicht Angst, vielleicht Neugier. „Ich glaube nicht, dass es darum geht, dich zu ändern", sagte er nach einem kurzen Moment des Nachdenkens. „Es geht darum, zu verstehen, was dich motiviert. Was dich bewegt." Er wusste, dass seine Antwort nicht einfach war, dass sie vielleicht nicht ausreichte, um Chan zu erreichen. Aber er versuchte es trotzdem. Immerhin war es der einzige Weg, wie er ihm näherkommen konnte.
Chan nickte langsam, als würde er über Seungmins Worte nachdenken. Der Blick, den er dabei auf ihn warf, war nicht mehr so kalt wie zuvor. Etwas war in seinen Augen – vielleicht war es Interesse, vielleicht eine Spur von Anerkennung. Doch Seungmin konnte sich nicht ganz sicher sein. In der Stille zwischen ihnen hallten die Worte nach, die noch nicht ausgesprochen waren, und die Spannung stieg weiter.
„Du bist wirklich anders", murmelte Chan schließlich, und der Klang seiner Stimme ließ Seungmin frösteln. Der Blick, den Chan ihm zuwarf, war nicht mehr nur einer des Misstrauens. Nein, es war mehr. Es war, als ob er ihn wirklich betrachtete – als ob er versuchte, das Rätsel zu lösen, das Seungmin darstellte.
Seungmin spürte, wie sich etwas in ihm zusammenzog, ein seltsames Gefühl, das nicht genau in Worte zu fassen war. Anerkennung? Vielleicht. Oder war es einfach nur ein weiteres Spiel von Chan? Eine Falle, die Seungmin allzu gerne umging, um nicht hineinzutappen. Doch es war schwer, diese Gefühle zu ignorieren, die wie leise Flammen in seinem Inneren brannten.
„Die anderen Therapeuten sind immer weggegangen, nachdem sie mich ein paar Mal gesehen haben", sagte Chan leise, seine Stimme so ruhig und gleichmäßig, dass es beinahe unheimlich war. „Sie sind weggelaufen, weil sie die Kontrolle verloren haben. Aber du – du bist... anders." Chan schien sich zu sammeln, als wollte er seine Worte bewusst setzen, als wüsste er genau, wie sie bei Seungmin wirken würden.
Seungmin spürte, wie sein Herz schneller schlug. War das Anerkennung? Oder war es nur eine weitere Falle, die er sich selbst legte? Irgendetwas an Chans Tonfall ließ ihm keinen Frieden. Doch er konnte nicht anders, als sich von diesen Worten getroffen zu fühlen.
„Ich bin nicht hier, um zu kontrollieren", antwortete Seungmin ruhig, wobei seine Stimme einen festen Unterton hatte, der vielleicht mehr sagte, als er beabsichtigt hatte. „Ich bin hier, um zu verstehen." Vielleicht war das der einzige Weg, den er weitergehen konnte. Ein Weg, bei dem er sich nicht mit Chans Machtspielen einließ, sondern versuchte, das, was sich hinter dieser Kälte verbarg, zu begreifen.
Chan lehnte sich zurück, und der Raum, der ohnehin schon eine unbestimmte Schwere hatte, schien plötzlich enger zu werden. Es war, als ob der Moment selbst sich dehnte, als er Seungmin tief in die Augen sah, als wollte er ihn herausfordern. Und Seungmin fühlte, wie sich ein unbestimmtes Unbehagen in ihm breitmachte. Etwas stimmte nicht. Irgendetwas war faul, und er konnte es nicht fassen, was es war. Aber es war da, und es nagte an ihm. Der Gedanke, dass er in einem gefährlichen Spiel gefangen war, konnte nicht einfach verdrängt werden. Ein Spiel ohne klare Regeln, ohne einen sicheren Ausgang.
„Du bist noch zu jung, um zu verstehen, Seungmin", sagte Chan mit einem leisen, fast bedrohlichen Unterton. Seine Stimme trug etwas, das sich in den Eingeweiden festsetzte. Etwas Dunkles. „Aber du wirst es bald herausfinden. Du wirst sehen, wie zerbrechlich du wirklich bist."
Seungmin fühlte, wie sich der Raum um ihn herum verengte, als ob Chans Worte ein unsichtbares Netz webten, das ihn zu fangen versuchte. Die Worte hatten Gewicht – sie waren mehr als nur eine einfache Aussage. Sie waren eine Drohung, aber auch eine Anspielung auf etwas, das Seungmin in diesem Moment nicht greifen konnte. Und doch wusste er eines: Er war in einem Spiel, dessen Regeln er noch nicht verstand.
Und doch, trotz all dem, konnte er sich nicht von Chan abwenden. Es war, als ob etwas an ihm zog, als ob er in diesen Blick gefangen war, in dieser Präsenz, die so undurchdringlich und doch faszinierend war. Etwas, das ihn mehr beschäftigte, als es gut für ihn war.
„Lass uns über deine Vergangenheit sprechen", sagte Seungmin schließlich, seine Stimme langsam, doch mit einer Unerschütterlichkeit, die sich in seinen Worten festsetzte. Der Raum füllte sich mit seiner Entschlossenheit, doch Chan reagierte anders, als er erwartet hatte.
Chans Augen verdunkelten sich, als seine Miene sich plötzlich veränderte. „Wieso reden wir nicht über dich?" sagte er ruhig, doch es war ein leichtes Heben seiner Stimme, das Seungmin zum Schweigen brachte. Die Worte hingen in der Luft, als Chan sich in seinem Stuhl zurücklehnte und ihn mit durchdringenden Augen ansah. „Wir sind nicht hier, um über mich zu reden, Chan. Es geht um dich. Und um deine Verhaltensmuster", entgegnete Seungmin mit einer Gelassenheit, die ihn selbst überraschte. Doch es war eine klare, nette Abweisung, die er sich nicht nehmen ließ.
Doch Chan schnalzte nur missbilligend mit der Zunge. „So macht das alles keinen Spaß", sagte er mit einem monotonen Gesicht. Die Worte waren fast wie eine Herausforderung, ein Spiel, in dem die Regeln sich ständig veränderten. „Wie wäre es, wenn ich dir eine Frage stellen darf? Und nach jeder Antwort darfst du mir auch eine stellen. Frage und Antwort, ganz leicht", fügte er hinzu, während sich in seinen Augen ein Funken von Interesse zeigte.
Seungmin seufzte innerlich und sah sich kurz im Raum um. Er wusste, dass er vorsichtig sein musste, aber irgendwie musste er vorankommen, musste mehr verstehen. Und so nickte er langsam, genervt von der Idee, aber auch wissend, dass es der einzige Weg war, etwas zu erreichen. „Nagut", stimmte Seungmin schließlich zu, seine Stimme ruhig, aber der Hauch von Widerwillen war unüberhörbar. Doch das Grinsen, das sich auf Chans Lippen ausbreitete, ließ Seungmin einen unbehaglichen Schauer über den Rücken laufen. Es war ein Grinsen, das fast schon unheimlich wirkte. Es war nicht einfach Freude. Es war etwas anderes.
Die Atmosphäre im Raum war schwer, beinahe erdrückend. Seungmin saß kerzengerade auf seinem Stuhl, die Hände fest ineinander verschränkt auf seinem Schoß, als er gespannt auf die Worte seines Gegenübers wartete. Chan, der sich mit einer fast unmerklichen Bewegung zurücklehnte, ließ das Schweigen zwischen ihnen dehnen, als würde er jedes Wort, das er gleich aussprechen würde, auf das Genaueste abwägen.
„Bereust du es, mich als neuen Patienten behandeln zu müssen?" fragte Chan schließlich, und obwohl seine Stimme beiläufig klang, war der Unterton in seinen Worten etwas Unheimliches.
Seungmin runzelte die Stirn, überrascht von der unerwarteten Frage. Er brauchte einen Moment, um eine Antwort zu finden, die sowohl ehrlich als auch vorsichtig war. „Ich... weiß nicht, ob ‚bereuen' das richtige Wort ist", sagte Seungmin schließlich. Seine Stimme war ruhig, aber der Blick in seinen Augen verriet eine Unruhe, die er kaum verbergen konnte. „Es ist nicht so, als hätte ich eine Wahl gehabt, oder?" Seine Worte klangen bedacht, doch das Gefühl der Verwirrung, das in ihm aufkam, war nicht zu übersehen.
Chan neigte den Kopf leicht zur Seite, sein schiefes Lächeln nahm eine neue Dimension an. „Keine Wahl also. Interessant." Er ließ die Worte in der Luft hängen, als wollte er sie geradezu genießen. Dann faltete er seine Hände auf dem Tisch und stützte sich auf seinen Ellbogen. „Dein Zug. Frag mich etwas."
Seungmin hielt inne. In seinem Kopf schwirrten Fragen, doch keine schien die richtige zu sein. Irgendwie fühlte es sich so an, als wäre jede Frage eine Falle, aber trotzdem zwang er sich, eine zu stellen. Und so wagte er es: „Warum tust du das? Menschen quälen, sie... töten. Glaubst du wirklich, dass das notwendig ist?"
Chan atmete tief ein und aus, seine Augen auf Seungmin gerichtet, als würde er diesen Moment in seiner vollen Bedeutung erfassen. Dann, nach einer unendlichen Pause, ließ er ein leises Lachen hören. Es war rau und kalt, fast wie ein Knurren. „Notwendig? Wer entscheidet schon, was notwendig ist? Es geht nicht immer um Notwendigkeit, Seungmin. Manchmal geht es einfach darum, was möglich ist. Und manchmal darum, was Spaß macht." Ein Funken von etwas Dunklem blitzte in seinen Augen, als er auf Seungmin wartete, als würde er sich nach einer bestimmten Reaktion sehnen.
Seungmin spürte, wie sich seine Brust zusammenzog. Diese Antwort war alles andere als das, was er erwartet hatte, und sie war weit entfernt von dem, was er akzeptieren konnte. Doch er hielt Chans Blick stand, seine Stirn in Falten gelegt, während das Gefühl der Unruhe sich immer weiter in ihm ausbreitete.
„Hast du jemals darüber nachgedacht, ein Tier zu töten?" fragte Chan plötzlich, seine Stimme ruhig und beinahe beiläufig, doch die Frage ließ Seungmin zusammenzucken. Es war seltsam, aus dem Zusammenhang gerissen, und er konnte nicht fassen, warum Chan ihn das fragte.
„Was?" Seungmin starrte ihn an, der Ausdruck in seinen Augen zeigte seine Verwirrung. „Warum sollte ich darüber nachdenken?"
Chan zuckte mit den Schultern, als wäre die Frage, die er gerade gestellt hatte, die natürlichste der Welt. „Manchmal hat man einfach diesen Drang, Dinge zu zerstören. Es fängt klein an, weißt du. Ein Insekt, vielleicht ein Vogel... dann etwas Größeres. Hast du das nie gespürt?" Seine Worte klangen beiläufig, als würde er von etwas Unbedeutendem sprechen – etwas, das jeder andere ebenfalls erleben konnte.
Seungmin fühlte sich plötzlich unwohl, ein unbehagliches Gefühl schlich sich in seine Brust. Ein Zucken in seinen Fingern, als er die Spannung, die zwischen ihnen hing, fast körperlich spüren konnte. Nein, er hatte nie diesen Drang verspürt. Nie etwas, das so wie Zerstörung schmeckte. Aber er konnte nicht leugnen, dass Chans Worte etwas in ihm auslösten, das er nicht begreifen konnte. Vielleicht war es die Faszination für den Ausdruck in Chans Augen, den er hinter diesem selbstsicheren Lächeln verbarg, oder die Leichtigkeit, mit der Chan von Dingen sprach, die Seungmin nur aus Albträumen kannte.
„Nein", entgegnete Seungmin schließlich, seine Stimme etwas zögerlicher als beabsichtigt. Ein Gefühl, als hätte er sich gerade von einem unsichtbaren Faden befreit, das Gewicht von Chans Frage abgeworfen, doch die Antwort klang in seinen eigenen Ohren leer, unbefriedigend. Fast so, als hätte er etwas falsch gemacht. Es war, als würde er sich auf einem Terrain wiederfinden, das er nicht kannte, das ihm fremd war. Doch dann, ein Moment der Klarheit: Chans Worte verrieten mehr über ihn, als er selbst zugeben wollte.
Seungmin sammelte sich, drückte den Kloß in seiner Kehle hinunter und stellte eine Frage, die schwerer war, als er es sich je zugestanden hätte: „War es bei dir so? Hast du... so angefangen?" Seine Stimme zitterte leicht, die Worte schlüpften fast unhörbar über seine Lippen. Doch er zwang sich, ruhig zu bleiben, als er in Chans Augen suchte – eine Antwort, die er sich vielleicht gar nicht stellen wollte.
Chan schwieg für einen Moment. Der Raum, der vorher noch von Spannung geladen war, schien jetzt förmlich in einen dichten Nebel zu tauchen. Eine unerklärliche, drückende Stille. Ein Schatten legte sich über sein Gesicht, ließ ihn für einen flimmernden Augenblick fast menschlich erscheinen. Für einen Hauch von Zeit schien es, als wäre der maskierte Killer in ihm einen Schritt zurückgetreten. Doch das war nur für einen Moment. Dann kam das Lächeln wieder – kalt, berechnend, wie der Biss eines Tieres, das sein Spiel mit einer Beute fortsetzen will.
„Das spielt doch keine Rolle, oder? Es ist nicht der Anfang, der zählt", sagte er schließlich, seine Stimme so ruhig wie ein stiller See, der nur selten von einer Welle gestört wurde, „sondern das, was du daraus machst."
Seungmin spürte, wie ihm ein ungutes Gefühl durch den Magen schoss. Was bedeuteten diese Worte? Was hatte Chan vor, und was verbarg er hinter dieser Fassade aus Unnahbarkeit und Kälte? Doch er konnte nicht aufhören, weiter zu bohren. Etwas in ihm weigerte sich, aufzugeben. Er wollte mehr wissen. Er wollte wissen, was sich hinter diesem Mann verbarg.
„Und was hast du daraus gemacht? Was fühlst du dabei, Chan? Wenn du... jemanden tötest?" Die Frage war wie ein leises Murmeln, doch der Druck dahinter war greifbar, fast elektrisch.
Diesmal reagierte Chan schneller. Das Wort „Fühlen" war kaum aus seinem Mund gekommen, als er es bereits abwehrte. „Fühlen?" Er spuckte das Wort beinahe aus, als ob es einen ekelhaften Geschmack hinterließ. „Gefühle sind ein Luxus, den sich die Schwachen leisten. Du wirst nicht überleben, wenn du dich von Gefühlen leiten lässt."
Seungmin spürte, wie eine Welle der Beklommenheit ihn durchflutete. War das wirklich der Mann, mit dem er es zu tun hatte? Jemand, der so bereit war, Gefühle zu verwerfen, als wären sie nur ein störender Nebeneffekt des Lebens?
„Also fühlst du gar nichts? Nicht einmal Reue?" fragte Seungmin, seine Stimme jetzt fester, obwohl er wusste, dass er sich auf gefährliches Terrain begab. Doch er konnte die Frage nicht zurückhalten. Die Worte tanzten auf seiner Zunge, scharf wie ein Messer.
Chan lachte leise, doch der Klang war hohl, unnatürlich. Es war mehr eine Reaktion als ein echtes Lachen. „Reue ist etwas für Menschen, die glauben, sie hätten eine Wahl gehabt. Ich hatte keine, genau wie du."
Seungmin verstand, dass er mit jeder Frage tiefer in das Herz von Chans Dunkelheit eindrang. Doch der Preis, den er dafür zu zahlen hatte, war hoch. Je mehr er erfuhr, desto mehr wuchs der Druck in seiner Brust. Das Gespräch wurde schwerer, intensiver. Und dann, plötzlich, als würde Chan den letzten Funken der Geduld verlieren, kam die Frage, die wie ein Messer in die Stille schnitt:
„Hast du jemals darüber nachgedacht, wie es wäre, jemanden zu töten? Nur für einen Moment. Wie es sich anfühlen würde, die Kontrolle zu haben, über Leben und Tod?"
Seungmin starrte ihn an, unfähig, sofort zu antworten. Die Frage bohrte sich tief in seinen Kopf, und alles, was er fühlte, war ein eisiger Schauer, der sich über seinen Rücken legte. Was auch immer Chan in sich trug, es war viel dunkler, viel gefährlicher, als er erwartet hatte.
Doch er konnte nicht antworten. Die Frage hallte in seinem Kopf wider, doch es war ein silberner Faden der Angst, der ihn daran hinderte, etwas zu sagen. Chan wusste genau, wie er Seungmin manipulieren konnte – wie ein Puppenspieler, der die Fäden zog.
Die Stille dehnte sich aus. Chan bemerkte das Zögern und sein Grinsen wurde nur noch breiter. Er lehnte sich entspannt zurück, als wäre dies alles nur ein weiteres Spiel, das er zu gewinnen gedachte. Doch die Augen, die ihn durchdrangen, verrieten etwas anderes. Etwas, das sich Seungmin nicht einmal hätte vorstellen können.
„Weißt du, Seungmin," sagte Chan schließlich, als würde er über das Wetter sprechen, „die meisten Menschen glauben, dass Töten ein Schock für die Seele ist. Aber ehrlich gesagt, es ist... faszinierend. Das letzte Flackern in ihren Augen, wenn sie begreifen, dass es vorbei ist. Es ist wie ein Kunstwerk, das sich vor dir entfaltet."
Seungmin spürte die Kälte, die von diesen Worten ausging. Er spürte, wie ihm eine Gänsehaut über den Rücken lief, und obwohl er keine Reaktion zeigte, hatte er das Gefühl, dass er sich in einem Albtraum befand.
„Und weißt du, was wirklich interessant ist?" fuhr Chan fort, seine Stimme nun leise und fast verschwörerisch. „Wie unterschiedlich Menschen reagieren, wenn sie Angst haben. Manche schreien, flehen um Gnade. Andere erstarren, als würden sie glauben, dass, wenn sie sich nicht bewegen, alles nur ein böser Traum ist." Chan neigte sich näher, sein Blick nun messerscharf, und ein Gefühl der Beklemmung zog sich in Seungmin zusammen.
„Hast du jemals darüber nachgedacht, Seungmin? Was für ein Typ wärst du? Würdest du kämpfen? Oder würdest du einfach aufgeben?"
Seungmin ballte die Hände zu Fäusten, der Druck in seiner Brust war fast unerträglich. „Hör auf," murmelte er, seine Stimme tief, aber fest. Er konnte sich nicht zwingen, mehr zu sagen, mehr zu hören. Irgendetwas in ihm schrie, dass er jetzt aufstehen und gehen sollte, dass er dieses Gespräch beenden musste, bevor es ihn komplett verschlang.
Chan grinste jedoch nur weiter, ein Lächeln, das keine Freude, sondern nur die Lust an der Zerstörung widerspiegelte. „Oh, ich glaube nicht, dass ich das kann. Weißt du, du erinnerst mich an jemanden, den ich mal kannte. Der war genauso... stur. Hat mir diese Blicke zugeworfen, als ob er über mir stehen würde. Aber am Ende –" Er machte eine kurze Pause, als wollte er die Worte wie einen Geschmack auf der Zunge behalten. „Am Ende hat er genauso geschrien wie alle anderen."
Seungmin fühlte, wie ihm der Magen umdrehte, als wären Chans Worte wie ein Gift, das sich langsam in seinen Gedanken ausbreitete.
„Sag mal, Seungmin," fuhr Chan fort, seine Stimme jetzt fast wie ein zarter Hauch, der durch die Luft schnitt, „hast du jemals einen Vogel gesehen, der nicht fliegen konnte? Einen, der sich verletzt hat? Was hast du getan? Hast du versucht, ihm zu helfen? Oder hast du dich gefragt, wie es wäre, wenn du ihm einfach den Hals umdrehst? So ein kleines Knacken, und der Schmerz ist vorbei."
Bevor Seungmin etwas erwidern konnte, öffnete sich plötzlich die Tür, und ein Wachmann trat ein. Die Luft, die sich um sie beide gelegt hatte, durchbrach sich in einem einzigen, scharfen Atemzug.
„Die Sitzung ist beendet," verkündete der Wachmann kurz, seine Stimme scharf und alles andere als freundlich, und fixierte Chan mit einem misstrauischen Blick.
Chan zog die Augenbrauen hoch und hob die Hände in einer Geste gespielter Unschuld. „Schade. Ich habe das Gespräch wirklich genossen." Er drehte sich zu Seungmin und sah ihn mit einem Blick an, der tief in ihn hineinzuschräuben schien, als wüsste er genau, was in ihm vorging. „Ich freue mich schon auf das nächste Mal, Seungmin. Du bist... interessanter, als ich dachte."
Seungmin stand hastig auf, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Sein Atem ging schneller, und sein Herz hämmerte gegen seine Rippen. Ohne einen weiteren Blick auf Chan oder den Wachmann zu werfen, eilte er an ihnen vorbei und stürmte aus dem Raum.
Er hatte das Gefühl, als würde er vor etwas fliehen – vor etwas, das sich tief in ihm eingebrannt hatte, das er aber nicht mehr fassen konnte.
„Was zum Teufel war das?" murmelte er, als er sich in sein Büro zurückzog und die Tür hinter sich zuschlug. Der Raum war jetzt ein sicherer Hafen, aber der Wirbelsturm der Gedanken in seinem Kopf hatte gerade erst begonnen.
Seungmin stützte seine Hände auf den Schreibtisch, und die Erschütterung in seinen Händen war unübersehbar. Er versuchte, tief durchzuatmen, aber die Bilder, die Chans Worte in ihm ausgelöst hatten, ließen ihn nicht los. Chans Lächeln, die kalte, ungerührte Art, mit der er über Tod und Zerstörung sprach – all das sickerte in seine Gedanken und drückte die Luft aus seiner Lunge.
Er rieb sich die Schläfen, versuchte, einen klaren Kopf zu bewahren. Aber etwas war jetzt klarer denn je: Chan war kein gewöhnlicher Mann. Er war ein Meister darin, andere zu manipulieren, sie an den Rand zu drängen und sie in den Abgrund zu ziehen.
Und Seungmin wusste jetzt: Das Spiel hatte gerade erst begonnen.
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