Kapitel 4
{Ebony}
"Guter Schuss!",sagt Alice anerkennend und klopft mir auf die Schulter.
"Von wegen eingerostet"fügt sie murmelnd hinzu und wirft das leere Magazin der Glock aus, um es gegen ein volles zu tauschen.
"Sag mal...",beginne ich, während ich die Waffe anlege und durch Kimme und Korn zur Zielscheibe blicke.
"Was hat Azrael dafür bekommen, das er sich Luzifer anschließt?"
Alice zieht den Schlitten der Glock nach hinten und zuckt mit den Schultern.
"Keine Ahnung",sagt sie und ich atme langsam aus, während ich mein Ziel anvisiere. Dann drücke ich ab und lasse zufrieden die Waffe sinken.
Ich drücke auf den Knopf um die Zielscheibe heranzufahren.
"Mein Vater hat sich mehr Lebenszeit erkauft, indem er mich dem Teufel überlassen hat. Denkst du, Azrael hat das auch getan?"
"Keine Ahnung, Ebbie! Du kennst ihn besser als ich. Aber wenn du mich fragst, klingt das ganz und gar nicht nach Azrael",erwidert Alice und schießt ihrerseits auf die Zielscheibe.
"Es klingt auch ganz und gar nicht nach Azrael, Abtrünnige zu jagen! Ich weiß auch nicht",murmele ich und begutachte die Zielscheibe vor mir, "Es kommt mir vor, als würde ich ihn gar nicht kennen."
Seufzend reiße ich das durchlöcherte Blatt herunter und drücke erneut auf den Knopf.
"Ich bin durch für heute",sage ich und wende mich schnell zum Gehen, damit Alice meine Tränen nicht bemerkt.
"Zieh das an! Darin siehst du aus wie eine
Femme Fatal!"
Alice wirft mir ein Kleid zu, das ich in den tiefen meines Kleiderschrankes vergraben hatte.
"Oh nein, das auch keinen Fall!",erwidere ich und wühle weiter in meiner Kommode nach einem Oberteil.
"Wieso denn nicht? Es steht dir!",quengelt Alice und ich verdrehe die Augen.
"Komm schon",fügt Alice hinzu, als ich nicht antworte und mir schnürt sich die Kehle zu.
"Ich kann es nicht anziehen, okay?!"
Die Worte kommen schnippischer heraus als ich es beabsichtigt hatte, doch mir steigen bereits wieder Tränen in die Augen.
Tränen des Zorns.
"Ah, jetzt verstehe ich. Es ist das Kleid!"
"Ja, Alice! Es ist das Kleid!"
Eine Erinnerung bildet sich vor meinem inneren Augen und ich versuche sie abzuschütteln, doch ich spüre bereits Azraels Hände, die meinen Rücken hinauf gleiten und die Träger des Kleides sanft von meinen Schultern schieben.
Ich fahre mir mit den Händen durch mein Gesicht und hole tief Luft, bevor ich sie geräuschvoll aus meinen Lungen entweichen lasse.
"Tut mir leid, Ebbie. Ich wollte keine alten Wunden aufreißen", entschuldigt sich Alice und legt mir einen Arm um die Schultern.
"Schon okay. Ich hätte es wegschmeißen sollen",murmle ich und ziehe ein schwarzes Croptop aus der Kommode.
"Zieh die dazu an"sagt Alice und hält mir eine Lederhotpants hin, die ich wortlos entgegen nehme.
"Danke",presse ich hervor, immernoch bemüht, die Tränen zu unterdrücken.
Ich greife nach der schwarzen Strumpfhose und ziehe sie mir an, während Alice sich auf das Bett fallen lässt.
"Man, Ebbie",sagt sie und ich schaue sie fragend an, während ich die Shorts anziehe.
"Du solltest echt Mal wieder die Angel auswerfen. Du bist jung und heiß. Es werden hunderte Fische anbeißen."
Ich seufze.
Natürlich lässt Alice es nicht auf sich beruhen. Ich liebe sie, ehrlich, aber manchmal ist sie wie der Elefant im Porzellanladen.
"Kein Bedarf",sage ich knapp und zupple das Croptop zurecht.
"Ach komm. Als ob du nicht mal wieder Sex gebrauchen könntest?"
"Herrgott, Alice! Hör auf damit! Ich habe keine Lust darauf, mich von irgendeinem dahergelaufenen Typen ficken zu lassen, okay?!"
"Okay, ist ja schon gut!"
Alice hebt beschwichtigend die Hände, lässt es sich aber nicht nehmen, mir einen betont sorgenvollen Blick zuzuwerfen.
Seufzend gehe ich ins Bad und beginne meine Haare zu zähmen.
Ich binde sie zu einem hohen Zopf zusammen und zupfe mir ein paar Strähnen heraus.
Ich lege etwas Make Up auf und ziehe einen Lidstrich, der meine dunkelgrünen Augen betont.
Nachdem ich mir meinen Schmuck angelegt und mir meine Lederjacke übergezogen habe, gehe ich zurück ins Schlafzimmer.
"Lass uns los",sage ich nach einem Blick auf die Casio an meinem Handgelenk und Alice folgt mir in den Flur.
Rafael schließt mich lächelnd in die Arme und ich erwidere seine Umarmung.
Er ist der Schlagzeuger von Daddy's Pride und meine Achillesferse.
Wir kennen uns schon unser halbes Leben und es ist Fluch und Segen zugleich.
Wir wären enge Freunde, wenn ich seine Anwesenheit länger als die Dauer einer Probe oder eines Gigs aushalten würde.
Er erinnert mich an bessere Tage. Und das zerreißt mich jedes Mal.
Rafael und ich waren Nachbarn.
In Zeiten, in denen die Welt noch in den Fugen war.
Als meine Mutter noch lebte und mein Vater kein kolerisches Arschloch war.
Ihr Tod hat ihn zu einem anderen Menschen werden lassen.
Es hat ihm das Herz gebrochen.
Und ich habe lange versucht mich darauf zu besinnen, wenn er mich mal wieder anbrüllte und ein wertloses Stück Scheiße nannte.
Doch als er mich dann an Lucifer verkaufte, schlug der letzte Rest Mitleid, den ich für ihn übrig hatte, in blanken Hass um.
Rafael ist der einzig verbliebene Zeitzeuge und ich kann es einfach nicht ertragen.
Ich weiß, das es ihn verletzt.
Vor weniger als einem Jahr hat er mir seine Liebe gestanden und bis heute ist er nicht davon abgerückt.
Und doch akzeptiert er die Dinge, so wie sie nun einmal stehen.
Das bewundere ich an ihm.
"Wie geht's dir, Prinzessin Lillifee?",will er wissen und ich verdrehe gespielt genervt die Augen.
"Hör auf mich so zu nennen, Rafi",sage ich.
"Ich denk nicht dran",erwidert er zwinkernd und zieht die Sticks aus seiner Hosentasche.
Ich seufze und sehe ihm dabei zu, wie er sich auf den Hocker hinter dem Schlagzeug fallen lässt und sich durch die Haare fährt.
Prinzessin Lillifee.
Früher hat er mich Lillith, Tochter des Teufels, genannt.
Doch seit ich dem Teufel gehöre, hat er den Spitznamen für mich etwas abgeschwächt.
Die Band besteht aus zwei weiteren Mitgliedern.
Kandell, unsere E-Bassistin und Josh, dem E-Gitarristen.
Mit mir, als Frontsängerin, bilden wir Daddy's Pride.
Jeden Freitag treten wir im Black Leaf auf. So auch heute.
Ich lasse meinen Blick durch den Schankraum gleiten.
Der Laden ist gerappelt voll und schon jetzt staut sich die Hitze.
Ich ziehe meine Lederjacke aus und werfe sie Alice zu, die an der Bühne lehnt und erschrocken zusammenzuckt, als die Jacke sie mitten im Gesicht trifft.
"Hey!",ruft sie empört und ich lache.
"Tut mir leid! Ich dachte, du könntest fangen!"
"Witzig! Sei froh, das ich so eine gute Freundin bin, das ich dir nach der Aktion sogar noch Bier hole!",erwidert sie schmunzelnd und ihr grüner Lockenkopf verliert sich kurz in der Menge, ehe ich ihn an der Theke wieder ausmache.
Dabei fällt mir ein Typ auf, der mit dem Rücken zu mir am Tresen lehnt.
Seine dunklen, lockigen, schulterlangen Haare erinnern mich an Azrael und ich wende mich schnell meinem Mikro zu, und stelle es auf die richtige Höhe ein.
Verstohlen werfe ich erneut einen Blick zur Theke, doch der Typ ist weg.
Vielleicht halluziniere ich schon.
Diese ganze Azrael - Ivory Sache beschäftigt mich.
Und jeder Gedanke an ihn schmerzt noch immer wieder tausende Stiche.
"Fertig, Prinzessin Lillifee?",reißt mich Rafael aus meinen Gedanken und ich nicke.
Er schlägt sie ersten Takte des Songs an und nachdem auch Josh und Kandell eingestiegen sind, beginne ich zu singen.
"I'm skin on bone
You like to watch me fading, fading, fading
Still holding on
Won't tell you how I hate it, hate it, hate it
Oh, just one thing left to do
Got nothing left for you
But I will make it through, oh
Take my heart, go ahead and strip me for parts
Pieces have gone missing, no survival instinct
It's my life, let you use it up one more time
Leaving me in shambles
I'll survive dismantled
...
..
."
[🎸 - Icon for Hire - Dismantled]
Nach dem Auftritt beuge ich mich schweißgebadet zu Alice herunter, die mir ein Bier in die Hand drückt.
Ich leere es gierig in einem Zug.
"Das war wieder der Hammer, Ebbie!",ruft Alice anerkennend und ich lächle.
"Danke. Tat auch wieder richtig gut",erwidere ich und steige von der Bühne.
Ich nehme Alice meine Lederjacke an und werfe sie mir um die Schultern.
"Ich brauche frische Luft",sage ich und ziehe Alice hinter mir her Richtung Ausgang.
Ich öffne die Tür und die kühle Luft der Nacht schlägt mir entgegen. Ich sauge sie gierig ein.
Mit gerunzelter Stirn stelle ich fest, das Alice wie angewurzelt stehen geblieben ist.
Ich folge ihrem Blick und mein Herzschlag beschleunigt sich.
An der Wand, direkt neben der Tür, lehnt der Typ von eben.
Und in dem Moment, als seine bernsteinfarbenen Augen die meinen treffen, wird mir klar, das ich nicht halluziniere.
Mein Herz setzt einen Schlag aus.
Er ist es.
Azrael.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top