Kapitel 1

{Ebony}

Ich schlage genervt die Augen auf, taste auf dem Nachttisch nach dem Wecker, der mich so unsanft aus dem Schlaf gerissen hat.
Geräuschvoll schlage ich auf das piepsende Gerät und es verstummt augenblicklich. Ich rolle mich stöhnend auf die Seite.
So eine Scheiße.
Wieder ein neuer Tag in der Hölle.
Seufzend schäle ich mich aus dem Bett und fahre mir durch meine Haare.
Ich greife nach dem Outfit für heute, das ich mir bereits gestern Abend zurecht gelegt habe.
Es besteht aus einem schwarzen Faltenrock, einer schwarzen Strumpfhose, einem verwaschenen Shirt von Five Finger Death Punch, einer Jeansjacke und schwarzen Buffalo Boots. 
Ich beginne mich anzuziehen und trotte dann ins Bad.
Mit einem Blick in den Spiegel muss ich, zu meinem Leidwesen, feststellen, dass ich es heute wohl nicht schaffen werde, die dunklen Ringe unter meinen Augen zu verschleiern.
Ich putze mir die Zähne und kämme meine Haare, bevor ich sie zu einem unordentlichen Dutt hochbinde.
"Alexa, Kaffeemaschine an!",rufe ich der künstlichen Intelligenz zu und sie gehorcht.
Während der Kaffee durchläuft werfe ich einen Blick auf den Newsfeed auf meinem Handy.
Wieder zahllose Berichte von der rasant steigenden Inflation und der immer größer werdenden Kluft zwischen Arm und Reich.
Und zahllosen Vermisstenanzeigen.
Sie jagen mir jedes Mal einen kalten Schauer über den Rücken.
Denn sie erinnern mich daran, in was für einer gottlosen Welt ich leben muss.
Und wenn ich gottlos sage, dann meine ich auch gottlos.
Denn der Teufel regiert in dieser Welt.
In seiner reinsten Form.
Luzifer höchstpersönlich ist auf die Erde gekommen und hat die Menschheit unterjocht.
Nichts ist, wie es einmal war.
Jeder kann sich seinen sehnlichsten Wunsch erfüllen. Er muss dafür nur seine Seele an den Teufel verkaufen.
Guter Deal, oder?
Mein Vater war jedenfalls dieser Meinung.
Er tauschte allerdings nicht seine eigene Seele gegen nie enden wollenden Reichtum ein.
Nein!
Stattdessen verkaufte er meine Seele.
Seither gehöre ich dem Teufel.
Bereits mit sechzehn habe ich für ihn Seelen gesammelt.
Inzwischen bin ich einundzwanzig und habe eine eigene Kanzlei.
Denn das System für das Farmen von Seelen ist gut durchdacht und wahnsinnig erfolgreich.
Wir überzeugen zweifelnde Klienten davon, dass sie das Richtige tun und bringen sie so dazu, den Vertrag zu unterzeichnen.
Klappt in achtzig Prozent der Fälle.
Viel Ertrag mit wenig Aufwand.
Um diese filmreife Show so einfach wie möglich umsetzen zu können, hat man mir und meinen Mitarbeitern eine Fähigkeit geschenkt.
Ich bin in der Lage, Menschen ihre  Erinnerungen zu zeigen. Dafür nutze ich die sogenannten Limbusreisen.
Der Limbus ist die Welt zwischen den Lebenden und den Toten. Dort werden alle Erinnerungen eines jeden Menschen, ob tot oder lebendig, gespeichert.
Und ich kann auf sie zugreifen.
Den Menschen den Spiegel vorhalten.
Und wenn das allein nicht zum gewünschten Ergebnis, der Vertragsunterzeichnung, führt, greife ich auf ein eher drastisches Mittel zurück.
Ich zeige den Klienten ihre größte Angst, mache sie mürbe, Stück für Stück, bis sie nur noch ein Schatten ihrer Selbst sind.
Das holt dann die restlichen zwanzig Prozent ab.
Wer also einen Fuß in meine Kanzlei setzt, kommt ohne Seele wieder heraus.
Viele Menschen haben nicht lange gezögert und ihre Seelen aus freien Stücken eingetauscht. In den meisten Fällen für Reichtum und Macht, so wie mein Vater.
Manche wollen auch Gesundheit und Liebe erkaufen.
Und dann gibt es die, die mir am Nächsten gehen.
Die, die ihre Seele verkaufen um einen geliebten Menschen von den Toten zurückzuholen.
Sie sind die einzigen Klienten, wegen derer ich mich jeden Abend in den Schlaf weine.
Denn auch wenn sie unterschreiben, werden sie ihren geliebten Menschen nicht wiederbekommen.
Wer einmal tot ist, der kommt nicht zurück.
Nicht so, wie er einst war.
Der Mensch ist ein anderer.
Rastlos, ruhelos, unglücklich.
Man darf nicht versuchen, den Tod auszutricksen.
Er holt sich, was ihm gehört. Daran ändert auch der Teufel nichts.
All die anderen Klienten machen mich nur zornig. Und fassungslos.
Sie tauschen ihre Seelen gegen Banalitäten ein! Einfach so, als sei das nichts.
Sie sollen von mir aus in der Hölle schmoren, was sie ja am Ende ihres geheuchelten Lebens auch tun werden.
Das schafft mir wenigstens ein wenig Genugtuung.
Ihr fragt euch sicher, was wohl aus Gott geworden ist?
Wo sich doch der Teufel die Erde unter seine fauligen Nägel gerissen hat.
Nun, das weiß niemand.
Gott hat sich einfach nicht blicken lassen.
Am Anfang dachte die Menschheit noch, es sei ein Test. Eine Probe, auf die uns Gott stellt. Wenn wir bestehen würden, würde er schon kommen und uns retten.
Doch das passierte nicht.
Jahr um Jahr verging und kein Gott trat auf den Plan.
Das sorgte für Unmut unter den Menschen und viele legten ihren Glauben ab.
Inzwischen gibt es keine einzige Religion mehr.
Abgesehen natürlich vom Satanismus und denen, die kein Hirngespinst anbeten.
Jedoch halten nur wenige Menschen noch an einer Ideologie fest. Sie leben im Verborgenen.
Hoffen weiter, das Gott sie eines Tages von ihrem Leid befreit.
Doch das wird nicht passieren, da bin ich mir ziemlich sicher.
Ich habe noch nie an einen Gott geglaubt. Allerdings auch nicht an den Teufel. Ich habe mich also schon einmal geirrt.
Eigentlich irre ich mich oft.
So, wie ich mich auch bei Azrael geirrt habe.
Mein Herz sticht schmerzhaft, wenn ich an ihn denke.
Azrael war anders als die Klienten, die ich sonst so täglich abfrühstücke.
Besonders.
Er kam, um seine Jugendliebe aus dem Reich der Toten zurückzuholen.
Er hatte sie verloren, als er vierzehn war.
Ihr Vater hatte sie und ihre Mutter unter Alkoholeinfluss getötet.
Eine tragische Geschichte.
Azrael gab sich eine Mitschuld an ihrem Tod, weil sie ihn kurz zuvor aufsuchte um ihn anzuflehen, mit ihr die Stadt zu verlassen. Doch er lehnte ab.
Und dann starb sie.
Und ich habe all die Erinnerungen an sie und auch diese eine, folgenschwere, mit Azrael durchlebt.
Habe mit ihm gefühlt.
Mit ihm getrauert.
Obwohl Azrael seine Jugendliebe unbedingt wieder zurück wollte, hielt ihn sein moralischer Kompass dennoch lange davon ab.
Ich habe viele Stunden mit ihm verbracht.
Ohne mir wirklich darüber im Klaren zu sein, wieso ich nicht einfach seine Ängste für mich habe arbeiten lassen.
Irgendetwas hat mich davon abgehalten.
Irgendwann begannen Azrael und ich uns auch außerhalb der Kanzlei zu treffen.
In den, meist sehr langen, Gesprächen ging es viel um seinen Verlust, doch lernte ich ihn auch besser kennen.
Wir haben uns in Bars getroffen haben gemeinsam getrunken und gelacht.
Und dann passierte es einfach.
Ich verliebte mich in Azrael.
In sein Temperament, seinen Humor, sein Talent, die Menschen in seinen Bann zu ziehen.
Und in seine verletzliche Seite. Die Seite, die wohl niemand besser kennt als ich.
Was eigentlich absurd ist, wenn man bedenkt, das ich ihn gerade einmal einen Monat kannte.
Doch Limbusreisen gewähren mir einen Einblick in das Leben eines Menschen, der einzigartig ist.
Azrael gab mir das Gefühl, mehr zu sein, als nur eine Seelensammlerin.
Wir sind nämlich in der Gesellschaft nicht sonderlich beliebt.
Das kann ich allerdings niemandem wirklich verübeln.
Jedenfalls schaffte Azrael es, das ich wieder etwas fühlte.
Nur war das dummerweise Liebe.
Das es mir nicht erlaubt ist, mich in eine romantische Beziehung zu meinen Klienten zu begeben, sollte an dieser Stelle wohl jedem bereits klar sein, oder?
Das hielt mich dennoch nicht davon ab.
Denn Azrael schien dasselbe zu empfinden wie ich.
Immerhin schliefen wir miteinander.
Einen Tag vor der Vertragsunterzeichnung.
Warum ich den Zeitpunkt erwähne?
Weil Azrael, trotz unserer gemeinsamen Nacht, nicht eine Sekunde zögerte und den Vertrag unterzeichnete.
Danach habe ich ihn nie wieder gesehen.
Das Ganze ist jetzt ein Jahr her und ich fühle mich so leer, wie nicht einmal zu meinen dunkelsten Zeiten.
Azrael hat mich gebrochen.






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