Kapitel 6

Hope

Glücklicherweise vergehen die ersten beiden Stunden wie im Fluge. Jedenfalls für mich. Tessa, die unter Schülern als Schlampe der Schule bezeichnet wird, wird mehrmals an die Tafel gerufen und so von unserem Lehrer für ihr zu spät kommen bestraft.

Die ganze Klasse hat ihren Spaß an der Sache und ich habe Zeit Jil von meinem perfekten Stalkerplatz aus zu beobachten. Nicht zum ersten Mal fällt mir auf, wie schön und echt ihr Lachen ist. Wenn sie fröhlich ist, strahlt sie irgendwie von innen heraus und es fällt mir noch schwerer den Blick von ihr abzuwenden.

Also betrachte ich sie weiter, während sie ihrer Freundin beim Lösen der Gleichungen an der Tafel zu sieht, und hoffe insgeheim, dass sie sich zu mir umdreht und mich anlächelt. Ich habe diese seltenen Male zu zählen begonnen und kann nicht anders als vor Freude fast zu explodieren, wenn sie mich ansieht. Dann habe ich das Gefühl als würde sie wenigstens wissen, dass ich existiere.

Das Klingeln der Pausenklingel reißt mich aus meinen Gedanken. Augenblicklich springen alle Schüler um mich herum von ihren Plätzen auf und packen ihre Sachen wie verrückt zusammen. Auch ich stopfe meine Sachen in meine Tasche und erhebe mich dann, während die meisten den Raum bereits verlassen.

Als ich fertig bin, kommen die Neuen auf mich zu. Während der Stunden hat der Lehrer sie glücklicherweise gebeten sich allen vorzustellen, weshalb ich nun zum Glück ihre Namen kennen. Ich begebe mich zu den beiden Mädchen: "Na, wie fandet ihr die ersten beiden Stunden?" "Ganz okay", erwidert Isabelle, das Brünette Mädchen, während die Blonde Carly mit den Schultern zuckt, als wäre sie sich nicht sicher, was sie denken sollte.

"Mathe ist wohl nicht das beste Fach, um einen guten Eindruck zu hinterlassen", ich sehe die beiden entschuldigend an. "Ach, schon gut", Isabelle lächelt aufmunternd: "Kann man halt nicht ändern. Das nächste Fach wird ja vielleicht besser." Sie wirft einen Blick auf ihren Stundenplan: "Wo ist der Kunstraum?"

Ich lächele. Kunst hört sich schon besser an: "Zeige ich euch nachher. Vorher habe ich aber noch etwas Wichtigeres, wohin ich euch bringen muss." Carly sieht mich fragend an: "Was denn?" "Kommt mit", bitte ich die beiden und verlasse mit ihnen im Schlepptau das Klassenzimmer.

Im Flur angekommen, bleibe ich dann aber auch sofort wieder stehen. Die beiden Mädchen laufen fast in mich hinein, so abrupt bin ich stehen geblieben. "Warum bleibst du stehen?", fragt die Brünette ein wenig verwirrt.

Ohne eine Antwort auf diese Frage zu geben, ziehe ich zwei kleine Papierstücke aus meiner Jackentasche. Mein Vater hat sie mir heute Morgen übergeben und mich damit beauftragt sie den betreffenden Personen zu übergeben.

Ich werfe einen Blick auf das erste Stück und lese den Namen, der darauf steht. "Isabelle Alici", lese ich vor und übergebe den Papierfetzen dann an eben genannte Person: "Das ist für dich." "Was genau ist das?", sie nimmt es entgegen, sieht mich aber ratlos an. "Darauf stehen deine Spindnummer und Kombination", erkläre ich ihr: "Verlier es besser nicht." "Kriege ich auch eins?", schaltet sich nun Carly ein und ich übergebe ihr den zweiten Zettel.

"Probiert am besten direkt aus, ob es funktioniert", bitte ich die Mädchen von meinem Vater. "In Ordnung", beide nicken, doch Carly scheint noch eine weitere Frage zu haben: "Weißt du denn zufällig, in welche Richtung Spind Nummer 512 ist?" Ich nicke selbstsicher und deute dann nach links: "Da entlang. Ziemlich am Ende." "Okay", Carly sieht mich dankbar an und zieht Isabelle dann mit sich.

Sie entfernen sich rasch und das Letzte, was ich von ihnen höre ist, wie Isabelle mitteilt, dass ihre Spinde sich genau nebeneinander befinden. Grinsend mache ich mich auf den Weg zu meinem eigenen Spind, um die Bücher, die ich vorerst nicht brauche, dort zu verstauen.

Die beiden sind wirklich sympathisch und ich mag ihre Freundschaft. Ich wünsche ich hätte eine Person, mit der ich ebenso eng wäre. Aber leider sind hier so viele reiche Schnösel, mit denen ich ehrlich gesagt nicht mithalten kann. Zwar stimmt es, dass mein Vater der Direktor der Schule ist und damit auch relativ gutes Geld verdient, doch dieses steckt er direkt wieder in das Gebäude und das Lehrpersonal. Das hier ist eben sein Traum und reich zu sein war ihm noch nie wichtig.

Bei meinem Spind angekommen, drehe ich das Schloss in der richtigen Reihenfolge, sodass die Tür ohne Probleme aufspringt. Ich setze meinen Rucksack ab und ziehe einige meiner Bücher heraus, um sie in das kleine Fach einzuordnen.

Als ich damit fast fertig bin, ist zu meiner Rechten plötzlich eine Stimme zu vernehmen: "Hey Hope." Da ich die Stimme nicht erkenne, hebe ich den Kopf und erblick einen Jungen, mit dem ich zuvor noch nie gesprochen habe. Zwar habe ich ihn das ein oder andere Mal auf den Fluren gesehen, doch auch dann erschien er mir nicht wirklich interessant. Allerdings ist da eine Sache, die ich über ihn weiß. Er denkt, dass er eine Chance bei jedem Mädchen hat und dass sie nicht anders können, als seinem Charme zu verfallen.

"Hallo?", erwidere ich und versuche möglichst freundlich zu sein, obwohl ich mir schon denken kann, was er will. "Du hast doch sicher Lust heute bei mir zu essen", er wackelt mit den Augenbrauen. Der geht aber ran! Ich muss mich beherrschen, um nicht mit den Augen zu rollen: "Nein, danke." "Was? Warum?", fragt er ein wenig dümmlich: "Wer schlägt schon ein Essen mit mir aus?" "Ich und wahrscheinlich jede andere Lesbe", antworte ich knapp und gerade heraus. Eine Aussage darüber, dass auch jedes andere Mädchen mit nur ein wenig Würde seine 'Einladung' nicht annehmen würde, verkneife ich mir lieber. In der Hoffnung, dass nun nichts mehr von seiner Seite folgt, wende ich mich wieder meinen Büchern zu.

"Sieh mich mal an, Schätzchen", verlange er und ich schenke ihm einen missbilligenden Blick. Was jetzt wahrscheinlich kommt, kann ich schon im Voraus abschätzen: "Ich kenne Mädchen wie dich. Glaub mir, du bist nicht lesbisch. Hast du es überhaupt schonmal mit einem Mann probiert?"

Innerlich koche ich, doch nach außen hin versuche ich mit aller Kraft ruhig zu bleiben. Ich bin mir viel zu schade, um mich von einem wie ihm aus der Ruhe bringen zu lassen.

Als ich meinen Spind schließe, versuche ich die Tür nicht zu knallen: "Nein, habe ich nicht." Eigentlich versuche ich bei sowas immer ruhig und geduldig zu bleiben, doch er macht mich mit seiner Dreistigkeit einfach nur wütend. "Woher willst du dann wissen, dass du nicht auf Männer stehst?", fragt er sofort und setzt einen gewinnen Gesichtsausdruck auf.

"Hast du es denn schonmal mit einem Mann probiert?", stelle ich ihm überraschend ruhig die Gegenfrage. Er runzelt die Stirn und sieht mich irritiert an. "Nein", als er antwortet, klingt er unsicher und ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Als ich zum Konter ansetze, muss ich mir ein breites Grinsen verkneifen: "Woher willst du dann wissen, dass du nicht auf Männer stehst?"

Darauf scheint er keine Antwort zu wissen, was mir ein Gefühl des Sieges beschert. Ich setze mir den Rucksack wieder auf und schenke ihm ein gespielt freundliches Lächeln, welches allerdings einen ziemlich zynischen Zug haben muss, und schiebe mich wortlos an ihm vorbei. Hope: Eins! Angeberischer Typ: Null!

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