XXXII.

Kapitel 32

Die halbe Nacht liege ich wach und mache mir Gedanken über alles Mögliche. So schlafe ich auch erst sehr spät ein, weswegen ich mich ziemlich ärgere, als ich am nächsten Morgen schon um halb acht aufwache. Traurigerweise kann ich aber kein zweites Mal einschlafen, da all die Gedanken von gestern noch fest in mein Gehirn gebrannt sind.

Ständig frage ich mich, wieso Isabelle der Meinung ist, man solle mich ausliefern, immerhin ist sie meine Mutter. Sollte nicht ausgerechnet sie sich um meine Sicherheit sorgen und mich nicht einfach den Löwen zum Fraß vor die Nase werfen? Es passt schlichtweg nicht zu der Vorstellung meiner Mutter, die ich als kleines Mädchen immer hatte.

Irgendwie fühle ich mich dadurch verraten, das Gefühl ähnelt dem, das ich hatte als Vivien mich entführte. Das ist noch immer eine Sache, die mir suspekt ist, wieso hat sie das getan?

Ich erinnere mich an die ganze Zeit, die wir miteinander verbrachten, immerhin teilten wir uns ein Zimmer seitdem sie in unserem Waisenhaus ankam. Würden wir nur an Vivien rankommen, dann können wir bestimmt Lee befreien! Wo sie jetzt wohl ist? Im Waisenhaus? Bei E.A.T.E.R.?

Plötzlich kommt mir eine grandiose Idee. Ich stürme auf, renne aus meinem Zimmer und so schnell es geht zu Edwards Zimmer, reiße schließlich die Tür auf. ,,Edward! Ich hab eine grandiose Idee, wir..." Ich stoppe, als ich sehe, dass Edward ohne T-Shirt, nur mit einer Jeans gekleidet vor seinem Schrank steht.

Er dreht sich zu mir um, zieht fragend eine Augenbraue hoch, da ich so plötzlich verstumme. Mein Blick fällt auf seine muskulöse Brust und das perfekt definierte Six-pack und ich beginne immer unsicherer zu werden. Meine Wangen werden rot, vor allem da ich meinen Blick kaum von seinem trainierten Oberkörper nehmen kann. ,,Du?", fragt Edward etwas belustigt nach, scheint zu verstehen, warum ich so plötzlich verwirrt bin.

,,Ich...muss unbedingt ins Waisenhaus", erkläre ich langsam, wende meinen Blick von seinem Oberkörper ab, schaue in Edwards Gesicht und hänge ungeduldig an: ,,Kannst du dir bitte ein Oberteil anziehen?"

,,Warum sollte ich das, verwirrt dich etwa mein Anblick?", hinterfragt dieser weiterhin belustigt, was mich noch nervöser macht. Ich beiße mich verlegen auf die Lippe, suche nach einer passenden Antwort.

Zum Glück fange ich mich jedoch noch rechtzeitig wieder, weswegen ich relativ akzeptabel antworte: ,,Ja weißt du, bei so viel Fett wird mir übel."

,,Ach Fett?", möchte Edward wissen, kommt auf mich zu, weshalb ich ein paar Schritte zurückweiche.

,,Ja, Fett", bestätige ich meine Aussage sicher. ,,Jedenfalls, ich muss zu Vincent ins Waisenhaus, das ist ganz wichtig."

Edward geht wieder in Richtung seines Schrankes, kramt darin herum und zieht schließlich ein T-Shirt heraus. ,,Wozu musst du denn ins Waisenhaus?" Ganz langsam begutachtet Edward das schwarze Oberteil, scheint mich damit provozieren zu wollen, was ihm auch perfekt gelingt.

,,Verdammt Edwad, zieht dieses bescheuerte T-Shirt endlich an!", rufe ich verzweifelt aus, raufe mir die ungekämmten, dunkelbraunen Haare. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich hier in meinem gestreiften Schlafkleid dastehe, da ich schließlich gerade erst aus dem Bett gesprungen bin, weswegen noch mehr Blut in meine Wangen strömt, da dieses Schlafkleid sehr freizügig ist.

,,Dieses T-Shirt meinst du?", fragt Edward nach, wirft es kurz in de Luft und fängt es wieder auf. ,,Was stört dich denn so daran, wenn ich ohne es rumlaufe?"

,,Wie würdest du denn reagieren, wenn ich hier im BH rumlaufe?", kontere ich und schaue Edward herausfordernd in die Augen.

,,Ach komm, so viel gäbe es bei dir doch gar nicht zu sehen!", erwidert Edward gleichgültig, worauf ich beleidigt aufschnappe.

,,Also bitte, ich hab eine 70C, so ziemlich die beste-" Plötzlich bemerke ich, was ich da gerade gesagt habe und verstumme. ,,Verdammt, ich hab dir gerade meine Körbchengröße verraten!" Edward beginnt, belustigt zu lachen, wahrscheinlich weil ich mich gerade wirklich wie ein Idiot aufführe. ,,Zieh jetzt endlich dieses verdammte Shirt an, du verwirrst mich!"

Weiterhin lachend hört Edwrd aber endlich auf mich, nimmt das Oberteil und zieht es sich über den Kopf. ,,Also, warum musst du jetzt unbedingt ins Waisenhaus?"

,,Ja, also Vincent ist ja immer noch mit Vivien befreundet, weil er nicht weiß, was mit ihr falsch ist uns so, außerdem hat er meine tolle Anwesenheit nicht."

,,Oh, ich denke das ist ja das Tragischste was ihm je passieren konnte", bemerkt Edward etwas nuschelnd, was mich dazu bringt, beleidigt aufzuatmen, die Arme beleidigt vor der Brust zu verschränken und Edward, der an seinen Schrank gelehnt vor mir steht böse anzufunkeln.

,,Sag mal, was ist heute eigentlich mit dir los? Ich wusste gar nicht, dass du so viele schnippische Bemerkungen drauf hast! Jedenfalls könnte er einiges über sie wissen, also wo sie hingeht, was sie in letzter Zeit macht und so weiter. Mit diesen Infos könnten wir Vivien aufspüren und durch sie dann herausfinden, wo Lee ist und diesen befreien."

,,Ich brauche jetzt erst einmal einen Kaffee, aber die Idee ist wirklich gut", bedenkt Edward, läuft schließlich an mir vorbei in Richtung Küche, weswegen ich ihn folge. ,,Es ist natürlich auch ziemlich riskant, falls wir Vivien unvorbereitet begegnen, aber ein paar Informationen über sie wären wirklich vorteilhaft. Ich kann ja nach dem Frühstück mal Frau Müller anrufen."

,,Du hast Frau Müllers Nummer?", möchte ich verwirrt wissen, beobachte Edward dabei, wie er an der Kaffeemaschine hantiert.

,,Ja, Lee hat sie auch. Frau Müller hat mich auch sofort kontaktiert, als du auf dem Weg zum Krankenhaus umgekippt bist."

Verwirrt verziehe ich mein Gesicht und rümpfe meine mit Sommersprossen bestückte Stupsnase. ,,Im Ernst, ich fühle mich als wäre ich mein gesamtes Leben lang beobachtet worden."

,,Das wurdest du auch so ziemlich. Du kannst schon mal den Tisch decken, immerhin muss ich mal ausnutzen, dass du du so früh wach bist."

,,Na klar mache ich das gerne, Eddilein", seufze ich ironisch und gehe schließlich zum Schrank mit den Tellern.

***

Da Frau Müller meinte, dass Vivien erst am Nachmittag wieder kommen würde, machen Edward und ich uns nach dem Frühstück (und nachdem ich meine Wunde am Hals gesäubert und das Pflaster am Hals ausgetauscht habe) sofort auf den Weg zum Waisenhaus und verschieben somit das Training auf den Nachmittag. (Edward besteht darauf, mitzukommen, da ich angeblich alles Wichtige vergessen würde und er Vincent viel besser ausfragen könnte.)

Die Fahrt ins Waisenhaus dauert nicht unbedingt lange, so reden wir auch nicht miteinander, erst als wir schon am Parkplatz stehen, hält mich Edward davon ab, auszusteigen und fragt: ,,Wie geht es dir eigentlich? Also, wegen der Situation und so."

Schon meine viel zu kleine und krötenartige Hand an der Autotür haltenend, schaue ich langsam wieder zu Edward und sehe in seinen grauen Augen, dass er wirklich besorgt ist. Also ziert sich ein etwas trauriges Lächeln auf meinen vollen Lippen. ,,Wir sind gerade dabei, eine Lösung zu finden und das ist das Wichtige. Ich komme schon damit zurecht." Anschließend öffne ich die Tür und steige aus.

Kurze Zeit später folgt mir Edward über den Parkplatz zu der großen Tür, durch die ich mein gesamtes Leben ein und aus gegangen bin. Kaum dass Edward und ich eingetreten sind, sehe ich Vincent auf der Treppe am Handy sitzen, der nun aufguckt, mich sieht und freudig aufstürmt, um mich zu umarmen.

,,Ach Fee, ich hab dich so vermisst!", meint Vincent freudig, sobald wir uns voneinander lösen. Er schaut mich mit seinen türkisfarbenen Augen fröhlich an, weswegen sich mein Grinsen vergrößert. Anschließend fällt Vincents Blick auf Edward, der einen Meter hinter uns steht und das Geschehen still beobachtet.

Kurz herrscht eine seltsame Stille, in der sich Edward und Vincent nur mustern, schließlich meint aber Vincent: ,,Das ist also Edward?" Dieser schaut mich verwirrt an, zieht seine rechte Augenbraue nach oben.

,,Du hast ihm von mir erzählt?"

,,Zufällig hat es ihn interessiert, wo ich jetzt wohne, also ja, jedenfalls bevor du mich dazu gezwungen hast, seine Nummer zu löschen."

,,Und, was hat sie dir so von mir erzählt?", möchte Edward an Vincent gerichtet wissien, der aber nicht antworten kann, denn ich reagiere schneller:

,,Wir sollten jetzt hochgehen, nicht Eddilein?" Ich ziehe Edward am Arm zur Treppe und schenke Vincent einen warnenden Gesichtsausdruck, der ihm bedeuten soll, Edward nichts zu erzählen, denn ich erinnere mich genauestens daran, dass ich nicht unbedingt toll über Edward geredet habe.

Da Vincents Zimmer in der zweiten Etage ist, müssen wir zwei Treppen nach oben steigen, bis wir endlich ankommen. Während wir den mir so bekannten Gang entlanglaufen frage ich ihn: ,,Ist jemand in deinem Zimmer?"

,,Vielleicht Daniel, aber den solltest du ja seit neustem rausprügeln können", entgegnet mir Vincent etwas spöttisch, was mich dazu bringt, beleidigt aufzuschnappen. Ich bleibe vor der Tür, die zu Vincents Zimmer führt stehen, halte meine Hand an die Klinge und antworte Vincent noch stolz:

,,Ich kann inzwischen wirklich gut kämpfen, ob du es glaubst oder nicht!" Schließlich betrete ich den kleinen Raum und schaue mich sofort um, stelle erleichtert fest, dass niemand hier ist.

,,Warte, das hast du Vincent auch erzählt?", fragt mich Edward ungläubig, tritt in den Raum mit babyblauer Farbe bestrichenen Wänden ein und schaut mich schließlich empört an. Ich schließe hinter Vincent die Tür und lasse mich auf seinem Bett nieder.

,,Darf ich das denn nicht?", frage ich etwas verwundert und mache anschließend für Vincent Platz, der sich neben mir niederlasst und aus einem mir nicht verständlichen Grund grinst.

Edward setzt sich auf das Bett gegenüber von uns, auf dem Philipp, ein weiterer Zimmergenosse Vincents schläft. Ihn kenne ich schon sehr lange, denn Philipp ist einer der wenigen, die bereits mit acht Jahren verwaist und später nicht mehr adoptiert wurden. Ich erinnere mich noch gut daran, wie sehr Vincent und ich uns darüber gefreut haben, ihn in unserer Spielgruppe aufzunehmen, da wir stets nach Leuten suchten, die mit uns 'Räuber und Gendarm' spielten (was damals unser absolutes Lieblingsspiel war). Als wir dann merkten, dass Philipp für unsere Verhältnisse zu gut in diesem Spiel war, breitete sich die Freundschaft nur oberflächlich aus.

Was wir damals noch für dramatische Probleme hatten.

,,Fee, hörst du mir überhaupt zu?" Ich schrecke aus meiner Starre auf, gucke zu Edward, der mich ungeduldig anguckt und nun beginnt zu schmunzeln, da er meinen verwirrten Gesichtsausdruck sieht.

,,Ich glaube, sie war zu beschäftigt damit, dich anzustarren als dass die dir zuhören könnte", bemerkt Vincent neben mir sarkastisch, worauf er sich einen Schlag in die Rippe und einen empörten Blick meinerseits einfängt.

,,Ich habe nicht Edward angestarrt, sondern das Bett, Vinc. Irgendwie habe ich an die gute alte Zeit gedacht. Wie auch immer, was wolltest du sagen Eddilein?"

,,Ich habe gerade von deiner grandiosen Idee heute morgen erzählt", meint Edward grinsend, weswegen meine Wangen sofort heiß werden und ich hoffe, dass Edward Vincent nichts davon erzählt hat, wie seltsam ich mich benommen habe, als ich Edward oberkörperfrei gesehen habe. Ich beiße mir peinlich berührt auf die Unterlippe und nehme meinen Blick von Edward, hoffend, dass er nicht bemerkt, wie unangenehm mir das gerade ist.

,,Jedenfalls habe ich ein paar Fragen an dich Vincent, ich lasse sie aber Fee stellen, damit sie in der Praxis lernt, wie man wichtige Informationen bekommt." Entgeistert fällt mein Blick wieder auf Edward, der mich unschuldig anlächelt, als ich ihm einen unwissenden Blick zuwerfe.

,,Davon hast du doch gar nichts gesagt!", protestiere ich kopfschüttelnd, gucke Edward daraufhin ganz unschuldig und hilflos an, in der Hoffnung das er Gnade zeigt. Zwar ist es deutlich leichter, Vincent auszufragen als irgendjemanden, da er mir ohne zu zögern alles erzählen wird, dennoch würde ich das nicht unbedingt gerne vor Edward tun.

Zwar erinnere ich mich noch ein bisschen an den Tag, an dem er mir das alles genauestens erklärt hat, dennoch würde ich nicht sagen, dass ich ihm perfekt zugehört hätte.

Eventuell hätte ich das tun sollen.

,,Fee, du wirst es ja wohl schaffen, deinem besten Freund ein paar Fragen zu stellen, oder?", möchte nun Vincent wissen, schaut mich etwas irritiert an, da ich mir normalerweise kein Blatt vor den Mund nehme. Jedenfalls, wenn ich nicht vor Edward über ein Thema reden muss, von dem ich kein Ahnung habe und er es bemerkt, sobald ich den Mund öffne.

,,Ja klar, es ist nur...Ach egal, ich erklär dir es nachher. Also Vincent, ich muss dich was fragen", beginne ich zu überlegen, was ich ihn fragen könnte. ,,Genau! Ähm, hat sich Vivien in letzter Zeit anders oder seltsam verhalten?"

Glücklich darüber, dass mir diese Frage eingefallen ist, grinse ich Edward an, der kopfschüttelnd sein Augen verdreht, aber nichts einwendet, weshalb ich davon ausgehe, dass meine Frage nicht falsch war.

,,Ähm, sie geht in letzter Zeit immer zu so einem Job bei einer Firma, wahrscheinlich um Geld für ihre Kleidung und so zu verdienen. Ich frage mich wirklich, wie sie überhaupt an diesen Job gekommen ist, aber seit dem Lisa aus dem Krankenhaus wieder da ist, redet sie nicht mehr ganz so oft mit mir, deswegen konnte ich das noch nicht herausfinden."

,,Sie arbeitet bei einer Firma?", hinterfrage ich mit gerunzelter Stirn, da es mich wundert, dass sie das sogar Vincent erzählt. ,,Bei welcher?"

,,E.A.T.E.R.", meint Vincent schulterzuckend, scheint verwirrt darüber zu sein, dass mich das so sehr interessiert und fährt sich durch die erdbeerblonden Haare. ,,Sie hat mich sogar zu so einer Wohltätigkeitsveranstaltung dort eingeladen, da sie eine Begleitung für den Ball braucht."

Mit weit geöffneten Augen wende ich meinen Blick von Vincent zu Edward, der meinen Blick erwidert, da wir den genau gleichen Gedanken haben:

Das ist unsere Chance, Lee zu retten.

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