II.
Kapitel 2
Ein paar Minuten später kommen wir noch gerade so rechtzeitig im Besprechungsraum an. Es ist ein kleiner Raum, der mit Stühlen gefüllt ist, vorne ein Tisch und vor diesem der Stuhl, auf dem Frau Müller sitzt. Ich rümpfe meine Nase, als ich den stickigen Geruch des Raumes wahrnehme. Die Luft mischt sich aus grauenvoll riechenden Parfums, Deos oder Schweiß zusammen, für Sauerstoff ist da leider kein Platz mehr. Das bin ich aber schon gewohnt. Hier scheint niemand etwas vom Lüften zu halten.
So wie immer, setzen wir uns in die letzte Reihe, in der zum Glück Plätze für uns freigelassen wurden. Sofort nehme ich eine desinteressierte Haltung ein, denn wirklich interessiert bin ich an diesen Vorträgen nicht. Dennoch toleriere ich sie, da ich der festen Überzeugung bin, dass sie wichtig sind. Meine Beine platziere ich auf dem Sitz vor mir, wo einer von Vincents Zimmergenossen, Daniel sitzt, der meines Wissens nach, wie so viele in Baden-Baden, russische Wurzeln hat.
Vincent zieht hingegen seine langen Beine in einen Schneidersitz, da seine Beine zu lang sind, um sie auf den Stuhl vor ihm zu platzieren. Vivien setzt sich wie immer vornehm und gerade auf ihren Stuhl, ihr Blick sofort auf ihrem Handy. Dieses Gerät ist für sie eines der wichtigsten Dinge überhaupt. Vivien hat ihr Handy immer bei sich. Ganz im Gegenteil zu mir- ich weiß meistens nicht, wo es sich überhaupt befindet. Eigentlich verbringe ich mehr Zeit damit, es zu suchen, als es zu benutzen.
Doch lange Zeit bleibt Vivien nicht, denn Frau Müller klopft zwei Sekunden später drei Mal in ihre Hände und ruft schließlich: ,,So, ich bitte jetzt, alle Gespräche einzustellen, die Handys wegzustecken und Felicia, mach die Füße endlich runter, wie oft soll ich dir das noch sagen?"
Entschuldigend lächelnd nehme ich meine Füße von dem Stuhl vor mir. Dabei weiß ich aber bereits, dass ich sie in zwei Minuten wieder darauflegen werde. Frau Müller sollte das auch wissen.
,,Gut, wenn dann alle bereit sind, möchte ich beginnen", sagt sie schließlich, sobald es ruhiger wurde. ,,Einige von euch haben es sich wahrscheinlich schon gedacht, ich nenne das Thema aber dennoch erneut, für die, in dessen Köpfe es immer noch nicht geht: Drogen.
So Leid es mir wirklich tut, euch schon wieder mit diesem Thema konfrontieren zu müssen, doch es ist nötig. Baden-Baden ist eine gehobene, reiche Stadt mit sehr viel Tourismus, wie ihr wisst. Unser Waisenhaus wirft einen Schatten auf diese Stadt. Ihr werft einen dunklen Schatten auf das Baden-Baden, das voll mit Kultur ist.
So die Aussagen einer reichen Dame mit hohem Rang, dessen Name ich lieber nicht nenne, denn einige von euch sollten sie kennen. Um ehrlich zu sein, finde ich es dreist von ihr, so etwas über uns zusagen. Es ist unfair.
Dennoch ist das gesagt und wir können nichts dagegen tun, außer uns zu bessern. Aber das nicht zum Wohle dieser reichen Leute, nein, zum Wohle eurerseits. Ihr seid allesamt elternlos. Manche von euch kannten die Eltern nicht einmal, mache aber doch.
Und ich denke nicht, dass eure Eltern gewollt hätten, dass ihr euch so von der Menge mitziehen lässt. Wollt ihr denn nicht etwas aus eurem Leben machen? Wollt ihr nicht dem allen irgendwann ein Ende setzten und vielleicht studieren gehen? Einen Beruf erlernen und ein glückliches Leben führen? Eure Eltern hätten gewollt, dass ihr das tut. Denkt mal darüber nach."
,,Ähm, um ehrlich zu sein, Frau Müller." Ich hebe meine Hand und beginne währenddessen zu reden. ,,Ich stimme ihnen eigentlich voll und ganz zu, Drogen sind scheiße, ich nehme ja auch keine. Aber denken sie auch mal darüber nach: Mir wollen sie nach diesen siebzehn Jahren, die ich in dieser Einöde wohne, nicht ein einziges Mal sagen, warum ich keine Eltern habe. Wie könnte ich also meine Eltern als Motivation nehmen, etwas aus meinem Leben zu machen, wenn ich rein gar nichts über sie weiß? Ich denke, es geht vielen anderen auch so. Oder ihre Eltern haben ebenfalls nichts aus ihrem Leben gemacht. Wie kann das eine Motivation sein?" Schon seit ich mich daran erinnere, versuche ich, herauszufinden, warum ich hier bin, doch es ist hoffnungslos. Frau Müller hat nie auch nur ein Sterbenswort über meine Eltern geredet. Irgendwann habe ich mich mit dieser Frustration abgegeben und aufgehört, konstant nach der Wahrheit zu suchen. Dennoch ist da dieses Loch, das nicht gefüllt ist, weil ich nicht weiß, wer meine Eltern waren. Als Kind hatte ich immer Vorstellungen, wie meine Eltern sein würden, doch damit habe ich schon längst aufgehört. Ich habe mich damit abgefunden, keine Eltern zu haben.
,,Felicia, das haben wir bereits oft genug besprochen, oder? Diese Worte sind nicht an dich gerichtet, du musst nicht zuhören. Von dir weiß ich, dass du etwas aus deinem Leben machen möchtest, immerhin möchtest du Polizistin werden, das ist nicht jedermanns Wunsch. Also bitte, überlasse mir diese Reden und spiel von mir aus mit Vincent Tick-Tac-Toe. Hat jemand anderes noch etwas dazu zu sagen?"
Wie von Frau Müller gewollt, höre ich in diesem Moment auf, zuzuhören und wende mich flüsternd an Vincent: ,,Wie oft soll ich ihr noch sagen, dass ich nicht mehr Polizisten werden möchte? Als ich diese Phase hatte, war ich fünf!"
,,Genauer gesagt, war besagte Phase eher seit du fünf warst bis du ungefähr zwölf warst, Fee", korrigiert mich jedoch Vincent schief grinsend. Also wortwörtlich schief, er hat nämlich dazu auch noch schiefe Zähne.
Ich ziehe daraufhin empört die Luft ein und verschränke meine Arme vor der Brust, während ich beleidigt zische: ,,Das stimmt doch überhaupt nicht!"
,,Doch, das tut es, Schätzchen", woraufhin ich jedoch nur die Augenverdrehen kann.
Da uns tatsächlich nichts besseres einfällt, beschließen Vincent und ich letztendlich Galgenraten zu spielen, denn Tick-Tac-Toe ist nach siebzehn Jahren irgendwann langweilig. So beobachte ich Vincent gerade, als er an meinem Wort, Enzym, das wirklich beste Wort für Galgenraten, rätselt. Er beißt auf seiner Lippe, so wie immer, wenn er nachdenkt. Eine Angewohnheit, die ich mir leider von ihm abgeguckt habe, was dazu führt, dass meine Lippen jeden Winter komplett ausgetrocknet sind.
Eigentlich sieht Vincent ziemlich gut aus. Wenn man es genau nimmt, ist er hier der Mädchenschwarm. Natürlich könnte ich mir nie vorstellen, in ihn verknallt zu sein, dafür kennen wir uns zu lange. Er ist so etwas wie ein kleiner Bruder für mich. Außerdem bin ich schon seit Langem der Meinung, er und Vivien würden perfekt zusammenpassen. Leider stimmen mir beide nicht unbedingt zu.
,,Man, Fee, was ist das für ein bescheuertes Wort? Ich komme einfach nicht drauf!", ruft er nach einiger Zeit im Flüsterton frustriert aus, sodass ich aus meiner Starre aufwache.
,,Rate doch noch ein bisschen, ganz tot bist du schließlich noch nicht", motiviere ich ihn deswegen, woraufhin Vincent mir einen Das-Ist-Jetzt-Nicht-Dein-Ernst-Blick zuwirft.
,,Nein, ich bin überhaupt nicht fast tot, ist ja nicht so, als hätte ich nur noch einen Versuch!" Vincents sarkastischer Ton bringt mich dazu, unschuldig lächelnd mit den Schultern zu zucken. Er schüttelt mit dem Kopf und fragt schließlich, natürlich weiterhin flüsternd: ,,Kannst du es mir nicht einfach sagen?"
,,Es wäre Enzym gewesen, Vinc", kläre ich ihn deswegen enttäuscht auf, in Folge dessen er mit seinen Lippen ein 'Oh' formt.
,,Wie auch immer, ich bin jetzt dran."
Nachdem wir diese langweilige Besprechung endlich überstanden haben, gehen Vivien und ich in unser Zimmer und Vincent in seines, damit wir uns normale Kleidung anziehen und uns fertig machen können.
Nun gut, eigentlich macht sich nur Vivien wirklich hübsch, denn ich wasche mir lediglich das Gesicht, putze mir die Zähne und trage etwas Concealer auf meine heute mal wieder sehr tiefen Augenringe. Meinen Messidutt befestige ich mit ein paar Haarnadeln und das war es auch. In den Ferien bin ich meist nicht unbedingt motiviert, mich ordentlich zu schminken, während Vivien ein komplettes Make-up auflegt.
Mir macht es zwar wirklich sehr großen Spaß, mich zu schminken, doch manchmal habe ich einfach keine Lust. Das hängt immer von meiner Laune ab. Sobald auch Vivien fertig ist, gehen wir beide aus dem Zimmer, da wir uns mit Vincent in der Eingangshalle treffen. Wir haben vor, Lisa im Krankenhaus zu besuchen, immerhin ist es unser erster Ferientag, so etwas muss man feiern, denn ich freue mich schon seit das Schuljahr letztes Jahr begonnen hat, auf diesen Tag.
,,Jetzt im Ernst, ich hätte mich drei Mal fertig machen können, so lange habt ihr gebraucht! Dabei sehe ich bei dir nicht einmal einen Unterschied zu vorhin, Fee", beschwert sich Vincent, sobald wir uns zu ihm gesellen. Ich verdrehe genervt die Augen, weil Vincent schon wieder an allem herumnörgelt, was ihm in den Weg kommt. Eine seiner eindeutig nervigen Eigenschaften.
,,Wie du siehst, lieber Vincent, habe ich mich umgezogen, denn ich trage nicht mehr mein Gammel-Outfit, bestehend aus einer Jogginghose und einem Pulli. Außerdem war es nicht meine Schuld, dass wir so lange gebraucht haben, Vivien hat so lange zum Schminken gebraucht!", verteidige ich mich also, als wir drei uns in Bewegung setzten und den Ausgang ansteuern.
,,Das war auch wirklich notwendig", säuselt Vivien in einem geheimnisvollen Ton, während sie verschmitzt grinst. Im Zimmer gegenüber von Lisas liegt eine ältere Dame, die einen sehr gutaussehenden Enkel hat, der sie glücklicher Weise täglich besucht. Das letzte Mal, da ward ihr beide nicht dabei, hat er mich in der Cafeteria sogar angesprochen."
Vincent und ich werfen uns einen grinsenden Blick zu, als wir gerade durch die Tür an die frische Luft gelangen. Es frustriert mich zu tiefst, dass es trotz dessen, dass es Juli ist, nicht sehr warm ist. Jetzt im Ernst, wer möchte schon Frühlingstemperaturen im Sommer?!
,,Was hat er denn so wichtiges gefragt, als er dich angesprochen hat, Vivien?", möchte ich nun ironisch grinsend wissen, als wir das Grundstück zum eisernen Tor entlanglaufen.
Da Vivien für ein paar Sekunden verstummt, weiß ich schon, dass ich mit meiner Vermutung Recht hatte: Sie hat viel zu viel in dieses Gespräch hineininterpretiert. Inzwischen kenne ich Vivien nämlich sehr gut und weiß, dass das eine ihrer Schwächen ist.
,,Er hat mich gefragt, ob ich ihm den Zucker geben kann", gesteht Vivien schließlich flüsternd, woraufhin Vincent und ich lachen. Verwirrt blinzle ich jedoch mit den Augen, als mich plötzlich ein leichtes Schwindelgefühl überkommt. Es verschwindet jedoch so schnell es gekommen ist, also sage ich nichts und folge den beiden zum Tor, aus dem wir treten.
,,Wir kommen schon noch ins Gespräch, keine Angst ihr zwei. Hätte ich nur so viel Kleidung, wie Fee, dann wäre das deutlich leichter."
,,Viellicht wäre es am Klügsten, würdest du ihn einfach mal ansprechen", bemerkt Vincent, während er das Tor hinter sich schließt. Ich werfe ihm ein dankbares Lächeln zu, da er von dem Thema der Kleidung abgelenkt hat. Ich weiß nicht, wieso, aber anscheinend habe ich eine bestimmte Menge an Geld zur Verfügung gestellt, von der ich jeden Monat ein bisschen bekomme. Vivien macht das leider ziemlich neidisch, vor allem, da ich somit meiner Liebe für Kleidung und Make-up nachgehen kann und mir sehr viele davon kaufe.
Mein erleichtertes Lächeln verschwindet jedoch, denn plötzlich überkommt mich das Schwindelgefühl von gerade eben nochmal, dieses Mal nur viel stärker. Mein Kopf beginnt wieder zu schmerzen und vor meinen Augen wird es schwarz, sodass ich meine Hand an Vincents Schulter halte und stehen bleibe. Ich versuche, ruhig zu atmen, doch es ist ausgesprochen schwer. Mein Atem wird immer unregelmäßiger.
Kurz darauf knicken meine Knie ein und ich falle ungeschickt auf den Boden, kann mich zum Glück noch etwas mit meinen Armen abstützen. Ich höre Vincent ,,Fee!" rufen und sehe ihn über mich beugen, doch kurz darauf setzt mein Gedächtnis aus.
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Ja, ich weiß, das Kapitel ist etwas kurz, aber ich denke es ist verständlich, wieso. Falls ihr wissen wollt, wie ich mir Fees Stil vorstelle, könnt ihr mal bei der Seite 'Monki' vorbeischauen. Dieser Stil ist so zu sagen meine Inspiration. Dann wünsche ich euch jetzt noch einen schönen Tag,
Eure Anna <3
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