SAM - 1

Halbwegs nüchtern krieche ich aus dem Bett und bewege mich vorsichtig in Richtung Bad. Keine zu heftigen Bewegungen zu machen hat alleroberste Priorität, denn mein Kopf dröhnt, als hätte jemand einen Presslufthammer hineingeschmuggelt. Tierisch schlecht ist mir auch. Das hat in meinem Leben System.

Ich blinzele in die Helligkeit meiner Wohnung, bevor ich nach links abbiege und mit einer Hand die angelehnte Tür zum Bad aufschiebe. Dann hält mein Körper inne und mein Kopf braucht einen kurzen Moment um gedanklich aufzuholen und zu begreifen, was hier anders ist als sonst. Es ist ordentlich. Aufgeräumt.

Langsam kommt mein Gehirn auf Touren. Es ist nicht aufgeräumt. Der Raum ist schlicht und ergreifend leer bis auf meine eigenen Sachen. Ruckartig drehe ich mich um mich selbst. Schwindel packt mich, während ich zwei wacklige Schritte nach vorne mache. All die Dinge, die meine Freundin Lisa üblicherweise rumliegen lässt, fehlen. Keine Nagelfeile auf dem Couchtisch, keine Jacke über der Sofalehne, keine Hausschuhe, die im Weg liegen, keine Kaugummis oder Halsbonbons auf der Kücheninsel. Sogar ihre Lieblingskaffeekapseln fehlen.

Diese kleine Bitch muss während ich geschlafen habe ihre ganzen Sachen geholt haben. Ratlos sehe ich mich um und tue das Einzige, wozu ich mich gerade in der Lage sehe: zurück ins Bett kriechen und meine verdächtig brennenden Augen schließen. Wenn ich aufwache, werde ich feststellen, alles war nur ein Traum und alles ist wieder gut.

Jedes Mal, sobald ich meine Augen öffne, stehe ich voller Hoffnung auf, gehe durch unsere bis auf den allgemeinen Hausrat leere gemeinsame Wohnung. In schöner Regelmäßigkeit stelle ich daraufhin fest, dass Lisa noch immer nicht zurück ist und haue mich wieder ins Bett, wo ich einem klaren Schema folgend nach der Schnapsflasche greife, die ich neben mir auf dem Nachtkasten gebunkert habe und saufe, bis ich doppelt sehe und nur noch Gedankenfragmente durch meinen Kopf ziehen.

Ab und an tauche ich aus dem süßen Vergessen auf, um pinkeln zu gehen.

Manchmal hole ich mir bei der Gelegenheit auch gleich einen runter. Seit meiner unseligen Verhaftung achte ich darauf, brav jeden Tag den Druck abzubauen, quasi als Sicherheitsvorkehrung.

Den Blick fest auf Lisas Foto gerichtet, knie ich dämlicher Idiot im Bett und quäle mich ein um das andere Mal mit der Phantasie, sie noch einmal zu ficken.

Nach fünf Tagen sieht meine Wohnung aus wie ein Schlachtfeld, und ich schwimme in Selbstmitleid und bade in einem großen Teich aus Selbstekel.

Mein Bruder Martin hat recht: Lisa ist genauso krank wie ich. Sie ist eine machtbesessene Bitch, die sich daran aufgegeilt hat, mich und meine Ängste auszunutzen, die ich nicht in den Griff bekomme. Warum habe ich Martin nur nicht eher geglaubt? Solange Lisa bei mir war, hat es sich für mich angefühlt, als sei alles normal und Ordnung. Doch definitiv ist Lisa auch nicht ganz dicht.

Diese Eingebung, als ich schwankend in meine Kloschüssel pinkle - stehend wohlgemerkt, weil Lisa nicht darüber meckern kann, dass ich nicht sitze - verhindert, dass ich dem dreiköpfigen Krisenteam, das kurz darauf mit dem Ersatzschlüssel bei mir eindringt, eine Flasche über den Kopf ziehe und anschließend alle im Wald vergrabe.

Martin und Myra können es einfach nicht lassen. Dass sie Zwillinge sind und älter als ich, gibt ihnen nicht das Recht, im Leben ihres Einzelbruders herum zu pfuschen. Als meine Geschwister meine Wohnung betreten, sind sie jedenfalls angemessen schwer schockiert.

Hinter ihnen folgt eine zierliche rothaarige Frau in einem Bleistiftrock und sieht sich in der Wohnung um. Die Rothaarige scheint nicht übermäßig geschockt zu sein, soweit ich das einschätzen kann, eher erleichtert. Vermutlich hatte sie erwartet, meine aufgedunsene Leiche vorzufinden. Mit einem breiten, blendendweißen und sehr professionellen Lächeln kommt die Fremde auf mich zu. Streckt mir ihre Hand entgegen, stellt sich vor und mustert mich aus ihren wasserblauen Augen.

„Mein Name ist Sandmann, Doctor Sandman", sagt sie.

Automatisch denke ich bei dem Namen an „Enter Sandman" von Metallica. Ein echter Klassiker.

An dieser Stelle unterbricht sie meine Gedanken bereits, indem sie sagt: „Ihre Familie hat mich angerufen, weil sie sich Sorgen macht. Gibt es dafür einen Anlass?" Sie sieht mich erwartungsvoll an.

Martin fühlt sich befleißigt, zu erklären, sie sei Psychologin beim örtlichen Krisen-keine-Ahnung-was-für-ein-Scheiß.

So weit sind wir also schon?

„Karen, deine Therapeutin, war nicht erreichbar, da dachten wir..."

„Da dachtest du was, du blöder Wichser?", motze ich und gebe ihm eine Kopfnuss. Myra räuspert sich verlegen. An ihr vorbei blicke ich zu Miss Bleistiftrock. Doch die steht mit unbewegter Miene und diesem extrem professionellen Ausdruck neben Myra. Mein Gefühl sagt mir, ihre Augen schimmern amüsiert und vielleicht bilde ich es mir ein, aber ihre Mundwinkel scheinen ein wenig zu zucken.

„Ich brauche kein Scheiß-Krisenteam. Es ist ja nicht, als hätte ich versucht mich umzubringen!", mosere ich weiter.

Oder doch? Mein Blick erfasst die Flaschensammlung auf dem Boden, schweift weiter durch die offene Küche und dann Richtung Bad. Na gut, gestehe ich mir ein, der Alk oder die Schimmelpilze in der Küche, eins von beidem hätte mich vielleicht doch bereits auf kurze Sicht dahingerafft.

Ein bisschen mache ich mir auch Sorgen um mich. Vielleicht -nein, mit Sicherheit- hätte der Inhalt dieser Flaschen ausgereicht einen Elefanten zu töten. Ach Scheiße, eher eine Herde Elefanten.

Ich seufze und Myra dreht sich zu Doktor Sandman um. Diese lächelt aufmunternd und sagt dann: „Aus Datenschutzgründen möchte ich sie bitten, jetzt zu gehen. Wir kommen hier gut alleine zurecht"

Ihr professionelles Lächeln verrutscht keine Sekunde, als sie zum Abschied meinen in jeder Hinsicht vorbildlichen Geschwistern die Hand gibt. Aha, sie ist wohl der „Shake-Hands-Typ".

Nachdem die Zwillinge in dem Gang vor meiner Wohnung verschwunden sind, widmet Dr. Sandman ihre ganz Aufmerksamkeit mir. Nur mir, dem schwarzen Schaf der Familie.

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