CAT - 33

Ich bin erstaunt, dass Niall noch wach ist, als ich nach Hause komme, aber eigentlich ist es mir ganz recht. Was ich plane ist völlig verrückt. So verrückt, dass ich nicht mal mehr selber verstehe, was ich da mache. Warum bin ich so versessen darauf, dass zwischen Sam und mir nochmal was läuft? Woher kommt diese Sehnsucht nach ihm und danach ihm nahe zu sein?

Wir sind nicht mal zusammen. Und trotzdem kann ich an nichts anderes denken, als nochmal von ihm geküsst zu werden, noch mal von ihm berührt zu werden, wenigstens seinen Finger in mir zu spüren, wenn schon nicht mehr.

„Und, wie war es?", fragt Niall, als ich mich auf die Couch plumpsen lasse.

„Schräg, Niall. Was die machen ist wirklich schräg!"

„Und moralisch nicht einwandfrei", bemerkt Niall diplomatisch. „Bist du dir denn sicher, dass du das probieren willst?"

„Niall, wenn ich das schaffe, dann krieg ich unheimlich viel Geld. Und das könnte ich im Moment gut brauchen."

Ich starre einen Moment vor mich hin und er lässt mir genug Raum, meine Gedanken zu sortieren.

„Außerdem will ich ihn einfach verstehen. Ich will verstehen, was ihn an dieser Sache fesselt, was ihn antreibt."

„Dich muss es ja ganz schön erwischt haben. Quasi Liebe auf den ersten Blick?" Gute Frage. Hat das etwas mit Liebe zu tun?

„Ich glaube eher Lust auf den ersten Blick", gestehe ich kleinlaut.

„Lust ist ein guter Anfang, Kleine. Der Rest kommt dann von ganz alleine."

„Hast du mit Mom telefoniert?", frage ich, um von mir abzulenken.

Er verdreht die Augen.

„Nicht gut gelaufen?"

„Nein, sie hat mich wieder behandelt wie ein Kleinkind. Ist doch immer der selbe Mist. Als ob zwei Tage mehr oder weniger bei dir einen Unterschied machen würden."

„Mom behandelt jeden wie ein Kleinkind!", sage ich. „Frag mal Dad!"

Niall lacht. Sein Lachen tut mir gut. Die letzten zwei Wochen, während der ich hysterisch auf der Suche nach einer neuen Bleibe war, sitzen mir im Nacken. Das seltsame Verlangen nach Sam raubt mir den Verstand. Etwas Normales, wie das Lachen meines Bruders ist das Beste, was ich mir im Moment vorstellen kann.

„Im Ernst" sagt er. „Sie benimmt sich ganz fürchterlich. Eigentlich behandelt sie mich nicht einmal mehr wie ein Kleinkind, mehr wie einen Pflegefall."

Das ist mir nicht neu und ich verstehe ihn besser als er glaubt. Einer der Gründe, weit weg zu studieren, war ihr dauerndes und völlig übertriebenes Getue.

Zwischen zwei Bissen von den Chips, die zwischen uns auf dem Sofa stehen, rate ich ihm mit vollem Mund, einfach auszuziehen.

„Haha, schau mich an. Was meinst du, wer mir eine Wohnung gibt und überhaupt was soll ich arbeiten? Ich habe mein Leben lang nur Klavier gespielt! Wenn wir mal ehrlich sind, dann hat Mum recht und ich bin ein Pflegefall. Ich werde immer einer bleiben."

Das will ich gar nicht hören! Es macht mich unendlich traurig. Ich habe mich inzwischen an die Veränderung gewöhnt, die er durchgemacht hat. Es kommt mir nicht einmal mehr merkwürdig vor. Er ist eben nicht anders.

„Denkst du nicht, dass du einen Job finden könntest?", erkundige ich mich.

„Ich weiß nicht", sagt er ausweichend. „Ich kann nicht mehr auftreten, nicht mal mehr wirklich spielen. Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich mit meinem Leben anfangen soll! Ich kann mehr recht als schlecht mit der linken Hand schreiben. Wer stellt mich ein?"

Wenn ich es aus seiner Warte betrachte, hat er natürlich recht. Seinen Lebenstraum wird er sich schwerlich erfüllen können, was keinesfalls bedeutet, dass er einfach aufgeben darf!

„Du kannst möglicherweise nicht mehr auftreten, aber es muss doch was geben, das du gerne tust!"

„Ich weiß nicht", wiederholt er achselzuckend.

Ich habe das Gefühl das etwas in seinem Hinterkopf lauert und dass er sehr wohl einen Plan hätte. Vielleicht ist es aber wie mit dem Fliegen. Nachdem er seit Weihnachten wartet, also etwa zwei Monate lang, hat er sich nun endlich seinerseits getraut hierher zu fliegen, um mich zu sehen.

Vielleicht braucht das, was in seinem Hinterkopf sitzt einfach noch ein bisschen Zeit und Ermunterung. Vielleicht muss er bei dieser Idee noch ein wenig brüten und dann wird er sich vielleicht trauen uns darüber zu informieren.

Niall ist nicht der Typ, der mit halbgaren Informationen aufwartet.

Andererseits haben wir nur diese wenigen gemeinsamen Tage, an denen ich ihn ermuntern kann, endlich ein eigenes Leben zu wagen. Er fliegt Mittwoch gegen Mittag bereits zurück und ich wüsste nur zu gerne, was ihn beschäftigt.

„Willst du noch was?" frage ich ihn und deute auf die leere Schüssel.

„Nein danke, ich platze gleich!"

Nachdenklich trage ich die Schale in die Küche, spüle sie und stelle sie zum Abtropfen auf das Gitter, das ich zu diesem Zwecke erstanden habe.

Ich lehne mich an die etwas zusammengewürfelte Küchentheke und versuche es mit einem Frontalangriff.

„Sag halt einfach, was dich beschäftigt. Dann ist es raus und wir können sehen, ob es sich bewerkstelligen lässt."

Er sieht ertappt aus und ich warte bereits darauf, dass er sich rausredet. Für einen Moment warte ich, ob er es endlich ausspuckt, dann wiederhole ich meine Aufforderung mit mehr Nachdruck.

„Ach Niall, jetzt komm schon! Sag's einfach, raus damit!"

„Okay, ich habe mit Mom und Dad geredet. Ich langweile mich zu Hause zu Tode. Mir fällt die Decke auf den Kopf. Und tatsächlich habe ich Ihnen vorgeschlagen, dass ich arbeiten könnte und Mom helfen. Im Büro."

„Und was hat sie gesagt?"

„Was glaubst du denn, was soll sie schon sagen? Sie hat gesagt, das ist nicht nötig. Ich soll mich darum kümmern, ach, scheiß drauf.", bricht er dann ab. „Sie will es jedenfalls nicht."

„Und was hat Dad gesagt? Vielleicht gibt es ja bei ihm Möglichkeiten?"

Niall schüttelt den Kopf. Das ist ja wohl wirklich die Höhe.

„Aber das verstehe ich nicht. Zu mir sagt Mom immer ich solle für meine Fehler geradestehen und muss mein komplettes Erspartes aufbrauchen, um diese Baustelle einzurichten. Dir sagt sie, es ist nicht nötig zu arbeiten, obwohl du es ganz offensichtlich willst. Was für ein Unfug!"

„Die beiden trauen mir einfach überhaupt nichts zu. Wenn du den Zirkus mitbekommen hättest, bevor ich geflogen bin, dann würdest du dich fragen, ob wir in einem Irrenhaus sind! Sie wollten mir allen Ernstes eine Pflegerin mit hierherschicken. Als ob wir beide nicht ein gutes Team sind!"

Ich zucke mit den Achseln, versuche nicht drüber nachzudenken, dass der Versuch, eine Pflegerin mitzuschicken, ein ernster Eingriff in meine Privatsphäre gewesen wäre und dass es gleichzeitig bedeutet, dass sie mir nicht zutrauen, mich angemessen um Niall zu kümmern.

„Fein die beiden sind nicht hilfreich, aber wann erzählst du mir, was du tun willst? Du hast doch sicher einen Plan B?"

„Ich habe ein abgebrochenes Studium der Musik und bin ein Krüppel! Das bei Mom und Dad war mein Plan B. Plan A war Musiker zu werden!", faucht er ungehalten.

„Oh Gott, sag sowas nicht! Du bist doch kein Krüppel!" Ungewollt schießen mir Tränen in die Augen und eine rollt über meine Wange, während mein Herz sich schmerzvoll verkrampft. Ich sehe ihn ganz anders als er sich selbst. Er ist stark, unbeugsam, zäh, liebenswert und die Kraft, die aus seinen Augen sprüht, wenn er mir sagt, ich solle ihn nicht verhätscheln, spricht eine völlig andere Sprache, als er gerade.

„Du hast eine Lähmung, die sich vielleicht noch bessert. Du bist der wunderbarste Bruder den man haben kann", sage ich, unfähig, meine Gedanken in passende Worte zu kleiden.

„Aha toll, was soll ich jetzt deiner Ansicht nach machen? Mich als Aushilfs-Bruder für ein Einzelkind bewerben?"

Das klingt dermaßen lustig, dass wir beide unwillkürlich anfangen zu lachen.

„Ach Niall, ich wünschte, ich wäre zu Hause, dann könnte ich dir helfen Bewerbungen zu schreiben oder mich umhören."

„Danke Cat, das ist lieb von dir, aber ich denke du hast genug um die Ohren."

Ich umarme ihn. „Ich kann gerne heimkommen, Niall. Es ist nicht gut, wenn du das alles allein durchmachst."

„Alles ist gut. Ich bin gesund und ich komme schon zurecht."

Gesund. Der hat ja wirklich Humor; gerade jammert er, er sei ein Krüppel, sein rechter Arm ist gelähmt, sein rechtes Bein und zwei Minuten später erzählt er mir, er sei gesund.

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