CAT - 21
Es ist beinahe nicht zu glauben! Ich habe eine neue Bleibe! Und zwar nur für mich ganz alleine. Keine Wohngemeinschaft, kein Wohnheim. Nur ich in dieser schier unfassbar riesengroßen Wohnung. Gut, zugegebenermaßen ist es eine völlige Baustelle, aber es ist meine Baustelle, zumindest irgendwie.
Die Vorstellung, jeden Tag zum Dachgarten hinauf steigen zu können, ist der pure Wahnsinn. Selbst jetzt am Ende des Winters bietet sich ein unglaublicher Ausblick und wenn der Frühling bunte Farbtupfer in das Gras der Uferböschung setzt, die Bäume und Büsche ringsherum blühen, dann ist das bestimmt eine wunderbare Kulisse um zu lernen, die Sonne zu genießen oder einfach mal nur innezuhalten und die Seele baumeln zu lassen.
In diesem Augenblick würde ich am liebsten die ganze Welt umarmen. Mit Sam fange ich an, als meine Mutter mit Myra die Treppen runter steigt. Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen und schlinge für ein paar Sekunden meine Arme um seinen breiten Brustkorb und drücke ihn.
„Danke", sage ich überglücklich und einen Moment erwidert Sam die Umarmung und hält mich fest. Meine Welt scheint für diesen Bruchteil eines Augenblicks völlig in Ordnung zu sein.
Schon jetzt liebe ich den Blick auf den Fluss, der sich, den blauen Himmel spiegelnd, in einer riesigen Kurve am Grundstück vorbeizieht, wie ein blaues Schleifenband, die sanften Wellen wie glitzernde Strasssteinchen.
Aber das Verrückteste ist noch nicht mal der Ausblick. Wenn ich meine Schuhe ausziehen würde, könnte ich meine Zehen in sattem, dunkelgrünem Gras vergraben, denn statt Dachpappe, wie man sie hier oben erwarten würde, oder vielleicht Kies, wächst hier oben gepflegter, englischer Rasen und ein elektrischer Rasenmäher zieht Tag für Tag seine Runden.
Mum hat sich natürlich als erstes nach Unterzeichnung des Mietvertrages - wie peinlich! - erkundigt, ob das mit der Traglast kein Problem sei. Aber Myra war da genau in ihrem Element, hat ihr was über die Statik des Gebäudes und die Berechnungen erzählt, die durchgeführt wurden und am Ende war meine Mum beruhigt, dass mir nicht die Decke auf den Kopf fallen wird.
Zumindest nicht im wörtlichen Sinne. Denn ein bisschen Bammel habe ich schon, dass ich hier allein und etliche Busstationen vom Campus entfernt versauern und vereinsamen werde. Andererseits freue ich mich, dass ich den Trubel des Wohnheimes hinter mir lassen kann, mich in Ruhe auf das Wesentliche konzentrieren kann: einen guten Abschluss zu machen und dann nach Hause zurückzukehren, um meine Vision eines Begegnungszentrums zu verwirklichen, wo Menschen wie mein Bruder sich austauschen können und gleichzeitig Kontakt zu „normalen" Menschen aufnehmen können. Ich träume von diesem Ort, einem Café, das in meiner Phantasie inzwischen sehr dem „Granny's" ähnelt, seit ich Nialls steinigen Weg zurück in die Gesellschaft verfolgen durfte.
In der Reha, wo es vielen ähnlich ging wie ihm, hatte er unglaublich viele nette Menschen um sich, die entweder selbst Patienten oder Angehörige waren.
Zu Hause war jedoch alles anders und langsam aber sicher verkümmerte mein Bruder und bis jetzt hat er sehr wenige Kontakte zur Außenwelt. Manchmal frage ich mich ernsthaft, wie er es aushalten kann, den ganzen Tag nur von einer Pflegerin und gelegentlich von meinen Eltern umgeben zu sein. Kein Wunder, dass er wie eine Klette an mir hängt und durchdreht, wenn wir nicht regelmäßig telefonieren.
Angeblich bleibt der Rasen dank der Perlschläuche, die kontinuierlich Wasser direkt an die Wurzeln abgeben, auch im Sommer bei an die vierzig Grad flauschig weich und grün.
Leider werde ich das wohl nicht mehr erleben, denn meine Mum hofft, bis zum Ende des Semesters einen neuen Wohnheimplatz für mich zu finden. Warum eigentlich genau? Mir gefällt es hier ausnehmend gut!
Mum und ich gehen, nach dem ich den Vertrag unterschrieben habe, zusammen essen. Mum hat ein italienisches Restaurant ausgesucht und dort einen Tisch reserviert.
„Du hast großes Glück gehabt, dass Sam ein anständiger Kerl ist und dir eine Bleibe anbietet. Das hätte wirklich ins Auge gehen können. Dann würdest du jetzt auf der Straße stehen."
Nickend stimme ich ihr zu. „Es ist wirklich großzügig von ihm. Du wirst sehen, wenn die Wohnung erstmal fertig ist, wird sie wunderschön sein."
„Davon bin ich überzeugt, Liebling. Dad und ich freuen uns sehr, dass du die Kurve noch gekriegt hast. Uns ist klar, wie wichtig dieses Studium für dich ist. Dein armer Bruder war verrückt vor Sorge, weil zu befürchten stand, dass du das Semester nicht regulär beenden kannst."
„Tut mir leid, dass ich euch Kummer gemacht habe. Das wollte ich wirklich nicht."
Mum legt ihre Hand auf meine, dann drückt sie sanft meine Finger.
„Mach dir keine Gedanken mehr, es ist alles nochmal gut gegangen. Ich bitte dich nur um eins, Cat. Denk in Zukunft nach, bevor du in den nächsten Unsinn hineinstolperst. Es wird nicht immer jemand da sein, der dich rettet. Auch wenn Sam oberflächlich betrachtet nett und selbstlos wirkt, könnte hinter seinem Angebot ein gutes Stück Berechnung stecken. Dein Dad und seiner beharken sich regelmäßig, wegen der Verschärfung der Waffengesetze und ich denke, Sam wird ähnlich dazu stehen, wie sein Vater, und eher weitere Lockerungen anstreben. Ich will nicht, dass du zwischen die Fronten gerätst."
„Ich passe auf, Mum, ich verspreche es dir. Aber genug von mir geredet. Sag mir, wie geht es Niall?"
Schnell umwölkt sich das Gesicht meiner Mutter und wird kummervoll.
„Er ist schwierig, Cat. Er ist reizbar, launisch und unausgeglichen. Zu allem Überfluss weigert er sich seit drei Wochen weiter Physiotherapie zu machen, weil er keinen Sinn darin sieht, wenn er keine Fortschritte mehr macht. Gleichzeitig beschwert er sich ununterbrochen, dass er immer zu Hause herumhockt. Wenn seine Pflegerin ihm jedoch anbietet, mit ihm was zu unternehmen, dann bockt er wie ein kleines Fohlen."
Mum schüttelt resigniert ihre blonden Locken, die nur hier und da von ein paar silbernen Strähnen durchzogen sind.
„Ich weiß gar nicht, wie ich ihm beibringen soll, dass du uns nicht, wie geplant, wirst besuchen können. Er ist total fixiert auf das Wochenende mit dir. Aber nun erzähl mir doch bitte mal, wie du ausgerechnet an Sam Lake-Palmer geraten konntest. Er ist ein gutes Stück älter als du, oder?"
Ui, das wird jetzt schwierig.
„Ich habe dir doch schon öfter von Max erzählt, der mich hin und wieder ausführt, damit ich ein bisschen unter Leute komme. Er hat mich zur Verlobungsfeier von Sams Schwester Myra mitgenommen und da sind wir uns über den Weg gelaufen."
„Und du bist sicher, dass das nichts läuft zwischen dir und diesem netten und sehr kultivierten Mann?"
Irritiert sehe ich meine Mutter an. Leidet sie an Realitätsverlust? Offensichtlich weiß sie doch genau, wer er ist und trotzdem mutmaßt sie, ich würde mit dem König der Klatschspalten was haben?
„Nein, da ist nichts zwischen uns. Am Anfang sah es aus, als könnte es was werden. Vor kurzem hat er aber klipp und klar gesagt, dass ich nicht die Richtige für ihn bin."
„Aha", sagt meine Mutter nur und nippt an ihrem Wein.
„Nichts 'aha'!", gifte ich und funkele sie über den Tisch an. „Ich bin zu jung, zu unerfahren und keine Ahnung Mum."
„Das sagt sein Kopf. Seine Augen sagen etwas anderes. Ich kenne diesen Blick, Cathy, in hundert Variationen."
„Hör auf, Mum. Da ist nichts, glaub mir!"
Nachdrücklich wickle ich meine Spaghetti auf und schiebe sie mir in den Mund. Mums Augen glitzern amüsiert, aber zum Glück lässt sie das Thema fallen.
Nach dem ausgiebigen Lunch laden wir meine Umzugskartons in Mums Auto und bringen die Sachen in meine neue Wohnung.
Als sie sich verabschiedet und wir uns ein letztes Mal umarmen, bleibe ich mit einem mulmigen Gefühl zurück. Blicke ihrem Auto noch lange nach, obwohl sie schon längst nicht mehr zu sehen ist.
Noch nie war ich selbst für mich verantwortlich. Zumindest nicht in diesem Ausmaß und plötzlich beschleicht mich Panik, als ich mir ausmale, dass ich heute Abend völlig allein in diese Wohnung zurückkehren werde, keine Emmi bei mir übernachten wird.
Zudem habe ich keine Ahnung, wie ich es parallel zu der ganzen Lernerei und den Vorlesungen schaffen soll,
diese Wohnung einzurichten.
Ich habe weder Töpfe noch Geschirr, noch Putzkram oder Handtücher. Ratlos lasse ich mich auf mein Bett sinken. Zum Glück habe ich das Geld, das Max mir für die Abende als Freundin zugesteckt hat, nur zum Teil ausgegeben. Andernfalls müsste ich jetzt an mein Erspartes oder an meinen Treuhandfonds, den ich aber eigentlich für das Café brauchen werde.
Die Einrichtungsfrage, oder zumindest Teile davon, muss ich wohl oder übel auf morgen legen. Heute hat Emmi Geburtstag und ich kann von Glück sagen, noch in der Stadt und bei der Feier dabei zu sein.
Ich schnappe mir Handtuch, Duschgel und Shampoo, das ich in weiser Voraussicht in einer separaten Tasche verpackt habe, und klingle bei Sam. Er ist jetzt mein Vermieter und mein Nachbar. Das ist mehr als nur ein wenig seltsam. Und bis meine Wanne geliefert und angeschlossen ist, ist zu allem Überfluss sein Bad meins.
Er. Ich. Dusche. Mein Kopfkino. Schlechte Kombi. Noch während ich nach oben steige, spüre ich die Hitze in meine Wangen steigen, bei der Erinnerung an unsere gemeinsame Dusche.
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