Zwischenkapitel

Flügel...

Fliegen...

Schlag um Schlag, immer weiter hoch, immer schneller...

Bäume, Dörfer, Flüsse, so kleine, bald schon nicht mehr erkennbar. Wie Spielzeuge, wie Ameisen, viele kleine Punkte auf einer riesigen Karte.

Und Leichtigkeit. So hoch über den Wipfeln der Welt das alles einfach, logisch und gewichtlos wirkte. Alle Sorgen, alle Gedanken, aller Schmerz waren vergangen nur für diese paar Minuten. Da war nichts mehr was ihn niederdrückte, ihn fesselte und kettete an weiße Wände. Niemand der ihn gegen seinen Willen berührte und quälte. Es tat so gut...

Und als die Sonne langsam unterging und die Wipfel der Bäumen noch einmal mit goldener Hand berührte, da landete Igni und verwandelte sich in einen Menschen zurück. Erschöpft und erleichtert und unendlich glücklich breitete er sich auf dem Boden aus. Er hatte sich heute zum ersten Mal gewandelt und sich im ersten Moment so erschrocken und gefürchtet das er fort gelaufen war, immer weiter irgendwohin. Aber als er dann mit den Flügeln geschlagen hatte, sich erhoben und den Wind gefühlt hatte, waren seine Ängste verschwunden. Er fühlte sich nun ganz! Als hätte er den Rest seines bisherigen Lebens nur so vor sich hin existiert, aber nun lebte er! Er war berauscht von diesen Gefühlen, die er nie kannte.

Und Nell hatte ihn befreit. Igni hatte es weder geahnt noch kommen sehen, dass sie soetwas tun würde. Immer wirkte sie wie alle anderen Wissenschaftler brav und kühl und geordnet. Und dann stand sie eines Morgens vor seiner Zelle, entriegelte seine Fesseln und bedeutete ihr zu folgen. Sie erklärte, das sie eine Mission geplant hatte und das er sie fortan begleiten sollte, als so eine Art Schutz. Er war hinter ihr gegangen, konnte noch den Druck der Fesseln an seinem Hals spüren, während sie an all den anderen Zellen vorbeigingen, wo seine Brüder schlafend oder wach an die Wände gefesselt waren. Er war verwirrt gewesen und hatte sich auch davor gefürchtet, was nun geschehen würde. Auch wenn er Nell schon seit Jahren kannte. Sie hatte ihn besucht, mit ihm geredet, ihn gemessen und alles mögliche andere gemacht. Nell hatte auch mit seinen Brüdern geredet, aber zu ihn war sie immer wieder gekommen. Er konnte sich noch genau an einen Tag erinnern, als es anders war als zuvor. Sie hatte in seiner Zelle auf einem Stuhl gesessen, wie sie es immer getan hatte während er gefesselt und bewegungslos an der Wand stand. Aber sie hatte nichts gesagt, sie sah nur stumm und starrend auf ihrem Stuhl, drehte den Stift zwischen ihren dünnen Fingern und sagte nichts. Irgendwann hatte sie anfangen zu weinen, still und heftig. Das war das erste Mal, das Igni sowas wie Tränen und Trauer gesehen hatte und es hatte ihn zu seinem Erstaunen nicht kalt gelassen, wie es Freude oder Lachen bei den Menschen tat, es hatte ihm geschmerzt. Es tat ihm weh zu sehen wie diese aufgeräumte Person wortlos vor ihm zusammenbrach. Und dann hatte er gekurrt. Ganz instinktiv und ohne überhaupt zu wissen das er es konnte hatte er diesen tiefen Laut, irgendwo zwischen Knurren und Brummen von sich gegeben der all den Schmerz ausdrückte, den ihre Trauer in ihm auslöste und der ihr gegolten hatte. Und sie hatte aufgehört zu weinen, lauschte erstaunt auf und sah ihn wieder an, lange und intensiv, bis sie aufgestanden und gegangen war.

Igni dachte an den Moment zurück und seufzte. Er hatte es damals nicht verstanden, und wenn er ehrlich war, verstand er es auch heute noch nicht recht, warum sie in Tränen ausgebrochen war. Vielleicht hatte er was falsch gemacht? Hatte sie etwas von ihm erwartet, aber er hatte es nicht getan?
Wie auch immer... Das lag jetzt alles in der Vergangenheit, denn zurück zu dieser Zelle aus weißen und blauem Linoleum, mit den Fesseln aus warmen Metall und dem Schweigen und dem Erdulden von Schmerzen die irgendwelche Geräte ihm bereiten würden, wollte er nicht gehen. Er war nun stärker als noch in dieser Zelle, wo ihn die Menschen klein gehalten hatten, seine natürlichen Reaktionen mit Medikamenten unterdrückt, seine Nägel gezogen und seine Zähne rund gefeilt hatten. Das war es, was sie unter „zähmen" verstanden... Igni knurrte und versuchte die Gedanken abzuschütteln, um nicht noch wütender zu werden. Aber am liebsten hätte er sie alle verbrannt, hätte jede Mauer und jede Zelle in Schutt und Asche gelegt und schweigend zugesehen, wie alles elendig dahinraffte.

Unruhig stand er auf und ohne es wirklich zu registrieren folgte er dem Geruch, der ihm hier draußen am bekanntesten erschien. Und während sein Blut noch kochte vor aufsteigender Wut kam er bei einem verrotteten, alten Häuschen an, das aussah als konnte es beim nächsten Luftzug zusammenbrechen. Der Geruch kam von drinnen. Kurz wog ab, ob er nicht das ganze Haus mitsamt dem Inhalt in Flammen setzte, aber er entschied anders.

Durch ein zerbrochenes Fenster gelangte er schließlich ins dunkle Innere des Hauses. Und er musste nicht lang suchen. Nell lag in ihren Schlafsack gehüllt vor dem brennenden Kamin und schien fest zu schlafen. Igni spürte wie sich der Ärger in seiner Brust zusammenzog. Auch sie war eine von den Kitteln die ihm wehgetan hatten, jedenfalls hatte sie ihm nie geholfen oder sein Leid vermindert. Auch sie hatte Nadeln in ihn gestochen und sein Blut in kleinen Röhrchen abgefüllt. Und dann hatte sie es auch noch gewagt ihn zu fragen wie es ihm geht! Was für eine Antwort hatte sie denn erwartet? Ja, alles in Ordnung? Schöner Tag?

Mit wild glühenden Augen trat er an Nell heran. Dieses kleine Persönchen verkörperte im gleichen Moment alles was er je gekannt hatte und als normal und richtig empfunden hatte, und gleichzeitig, mit seinem langsam erwachenden Verstehen, ebenfalls alles was er anfing zu hassen. Sie hatte ihn befreit, sie hatte ihn stets freundlich und rücksichtsvoll behandelt, mit ihm geredet, während viele Kittel nur über ihn redeten. Aber war das nicht geheuchelt, gespielt? War es berechnend, damit sie diese „Behandlungen" - wie sie es nannten - an ihm durchführen konnten?

Er stand wie angewurzelt da, konnte sich nicht entscheiden was er fühlen und was er tun sollte. Das Knarzen von Dielen und das dumpfe Platschen nackter Füße ließen ihn schließlich hart zusammenfahren. Eilig ging er die Schritte zum Fenster zurück, um jeden Augenblick die Flucht ergreifen zu können. Vielleicht lag es daran, dass seine Nerven überreizt waren mit all den neuen Eindrücken, aber er war schreckhaft, erwartete nun, da er aus den Fängen der Institution ausgerissen war, in jedem Moment wieder entdeckt und gefangen zu werden. Er hatte gelernt nichts Gutes von den Menschen zu erwarten, deshalb erfasste ihn kalte Furcht, obwohl er um einiges stärker, schneller und größer war als es jeder Mensch je sein konnte.

Als im Türrahmen gegenüber schließlich eine Gestalt erschien die mit bunten Kleidern umhüllt war, und die von dem kahlen Kopf bis zum Fuß von ungewöhnlichen roten Zeichen bedeckt war, stürzte Igni mit pochendem Herzen aus dem Fenster in die Freiheit und flog wie ein verängstigtes Kind.

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