- Kapitel 37 - Altes Bauernhaus

Na gut, sagte sich Nell. Wenn schon alles aus dem Ruder lief, dann jetzt wenigstens richtig. Aber sehenden Auges zulassen das dieses arme Mädchen unter der Gewalt des Drachen blieb konnte sie nicht. Es zerriss ihr einfach das Herz daran zu denken wie fertig sie gewesen war und was jetzt noch alles mit ihr geschehen würde. Ihr war beinahe schlecht, wenn sie diese Gedanken zuließ, denn sie wusste was da passierte. Es war hier draußen Alltag, jenseits der Augen der Stadt. Ohne Menschen hätten sich Drachen kaum in ihren Populationen so stark vermehren können wie sie es über die letzten Jahrhunderte getan hatten. Aber Esa war noch ein halbes Kind, halb verhungert und sehr zierlich. Das sich der Drache gerade sie ausgesucht hatte sprach von einer Not, dessen Ausmaß bisher nicht bekannt war. Selbst Nell konnte nur wage ahnen, dass einer Drache seiner Größe sicher jemand anderen gewählt hätte, wenn er die Auswahl gehabt hätte. Oder er spielte mit ihr, hielt sie bei sich wie eine Katze sich eine Maus am Leben hielt, auch die Möglichkeit schloss Nell bei näherer Überlegung nicht komplett aus.

Sie wollte Esa also retten. Ganz dumme Idee! Aber sei es drum. Ihre Mission war doch sowieso schon am scheitern, wenn sie ehrlich mit sich selbst war. Wenn sie zurück kam war sie bis in alle Ewigkeit verschuldet und wahrscheinlich ihren Job an der Universität los. Wenn sie aber mit einem geretteten Mädchen auftauchte konnte sie immerhin eine gute Geschichte erzählen die ihr vielleicht etwas Milde einbrachte. Und wenn sie noch ehrlicher war, dann glaubte daheim ja eh niemand das sie erfolgreich sein würde... Statt also jetzt den Kopf in den Sand zu stecken und sich mal bitterlich auszuweinen, - denn so war sie einfach nicht! - würde sie jetzt das Mädchen retten!

Dafür war Nell dem Drachen gefolgt. War in die Richtung gegangen in die er am Himmel verschwunden war. Sie gab sie nicht der Illusion hin ihn einzuholen wenn er flog, aber irgendwann musste auch der Drache rasten und das war dann ihre Chance. Sie wollte also die Nacht hindurch laufen und zuvor rasten.

Und dann war sie bei dieser Hütte irgendwo im Wald angekommen. Sie hatte sich einfach aus dem Dickicht vor Nell aufgetan, als wäre sie hinter einer Decke aus dunklem Grün einfach magisch erschienen. Kein Weg und kein Pfad führte hierher, auch andere Häuser gab es hier nicht. Es war einfach nur dieses große, hölzerne Haus welches früher wahrscheinlich mal gelb gestrichen war, dessen Farbe aber schon lange seine Schönheit verloren hatte. Nun war es nur noch eine Ruine, die Nell aber ein gutes Lager sein konnte um bis zum Abend zu rasten. Jedenfalls waren das ihre Gedanken als sie sich dem Haus näherte.

Bei näherer Betrachtung handelte es sich um einen windschiefen, verrotteten Bau der früher Ähnlichkeit mit einem kleinen Bauernhaus gehabt haben muss. Das Kopfsteinpflaster im Hof war schon lange überwachsen von Moos und Gras, Birken und Buchen waren in dem ungepflegten Vorgarten gewachsen und kesselten das kleine, mehrstöckige Haus ein wie ein Gefängnis aus Ästen. Wer immer hier gelebt hatte war schon lange fort, und irgendwie hatte es was erschreckendes an sich. Obwohl Nell natürlich schon seit Kindertagen nicht mehr an Geister glaubte hatte das Quitschen alter Türen und halb abgefallene Fensterläden etwas gespenstisches. Alles hier schien zu rufen, dass sie wieder umkehren sollte.

Nell trat dennoch an das Haus ran, berührte das mittlerweile unleserlich gewordene Klingelschild und rüttelte dann an dem angelaufenen Türknauf. Da sich die Haustür jedoch unter keinen Umständen öffnen ließ, kletterte sie kurz überlegend durch eines der eingeschlagenen Fenster hinein.

Drinnen war dunkel und staubig. Auch hier hatte der Zahn der Zeit genagt, sämtliche Möbel waren vergangen und schäbig, hier blätterte der Lack ab und dort hatten Termiten das Holz zu einer leeren Hülle seiner selbst genagt. Außerdem roch es nach Schimmel. Das seltsamste von all den Dingen waren aber die Büschel von getrockneten Kräutern, Hühnerfüße und undefinierbare Fellstücken, die an dünnen Schnüren von der Decke hingen.

Nell betrachtete alles ausgiebig, stellte aber fest das es eigentlich keinen Grund zur Beunruhigung gab. Außer dem Wind der Äste gegen die Fassade warf und Tiere, die sich im oberen Geschoss irgendwo breit gemacht hatten war nichts, aber auch wirklich gar nichts an diesem Ort gruselig. Nell bereitete sich also ihr Lager vor dem alten leeren Kamin. Als sie sich schließlich in ihren Schlafsack einrollte, war die Sonne noch am Himmel und leuchtete durch die staubigen Scheiben herein. Sie setzte ihre digitale Uhr auf 20 h, kurz nach Sonnenuntergang und suchte sich dann eine halbwegs bequeme Position.

Und dann war es still...

Irgendwo knarzte es...

Staub rieselte von der Decke...

Die Bündel an der Decke schaukelten...

Und Nell fand keinen Schlaf. So sehr sie es auch versuchte, sie wälzte sich umher, blieb innerlich unruhig. Sie musste immer und immer wieder an Esa denken. An dieses arme Mädchen in den Fängen eines gigantischen Drachen. Allein. Traurig. Verzweifelt. Sie wollte ihren Vater finden, hatte sie gesagt. Aber was wenn ihr Vater längst tot war? Was wenn niemand sie vermisste und niemand sich noch um sie scherte? Nell spürte das Gewicht auf ihrer Brust schwerer werden. War Nell denn die einzige, die dem Mädchen versuchte zu helfen? Die an sie dachte und mit ihr fühlt? Der Gedanke zerriss ihr erneut das Herz, wenn sie nun einfach weitergehen würde, dann würde niemand mehr an sie denken, niemand würde ihr zur Hilfe kommen. Wahrscheinlich würde sie einsam und weinend und voller Angst irgendwo im Wald sterben... Nell fühlte sich verantwortlich für Esa. Wenn nicht sie, wer dann?

Das verknotete ihren Magen aber auch Igni... Nell dachte an ihn. Wo er jetzt wohl war? Was er tat? Ob es ihm gut ging? Immerhin kannte er die Außenwelt nicht, er hatte weder eine Ahnung was er essen konnte, noch wie er es sich besorgt. Er war vollkommen fremd in der Natur. Ob er es wohl mittlerweile bereute, fortgegangen zu sein? Und auch für Nell war seine Abwesenheit spürbar. Auch sie fühlte sich allein, hatte sich durch seine Gegenwart doch irgendwie immer sicher gefühlt. Sie merkte nun, dass die Angst klebrig und schwarz an ihrem Inneren Selbstbewusstsein nagte, wenn sie darüber nachdachte wie schutzlos sie jetzt war. Nein, mit Igni wäre sie in Sicherheit. Er war groß und stark, ein Drache, wenn auch ein Gezähmter.

Völlig gedankenlos zog sie das Tablet aus dem Rucksack und rief Ignis Profil auf. Die Werte waren auf Null der Chip war ja entfernt, aber seine Eckdaten standen noch da. Und auch ein Bild von ihm. Nell rief es auf und betrachtete das Gesicht des nahezu emotionslos dreinblickenden Drachen. Obwohl... das stimmte gar nicht. Er blickte nicht emotionslos in die Kamera... Nell zoomte sein Gesicht näher heran und schauderte. Denn es war ihr nie zuvor aufgefallen, dass in seinen Augen definitiv eine Emotion zu lesen war... und zwar unbändige, lodernde Wut.

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